Auch jetzt, an der Schwelle zu unserem neuen Leben in Freiheit, übernahm Sarah die Führungsrolle. Sie hatte die Idee, zu Onkel Philip zu ziehen, der für sie in ihrer Zeit in Munkatsch wie ein Ersatzvater gewesen war. Am Ende kam es so: Sarah sollte mit Esther und mir nach Budapest gehen, während Riku mit Meir in Rumänien bleiben und nach Sighet ziehen wollte, das etwa 60 Kilometer von Unterwischau entfernt lag. Meir war vor dem Krieg dort am Gymnasium gewesen und hatte aus dieser Zeit immer noch viele Kontakte, die beiden bei einem Neustart behilflich sein konnten. Sarah, Esther und ich waren geschockt ob ihres Entschlusses. Doch Riku war sehr heimatverbunden und konnte sich ein nochmaliges Weggehen, zumal so schnell, nicht vorstellen. Über ein Jahr lang hatten wir jeden einzelnen Tag zusammen verbracht, wir hatten uns gegenseitig umsorgt und beschützt, waren mehrfach gemeinsam dem Tod von der Schippe gesprungen, nie waren wir uns so nah gewesen wie in jener Zeit. Und auch wenn unser großer Bruder auf Riku aufpassen würde, konnten wir drei Schwestern kaum akzeptieren, dass sie uns nicht nach Budapest begleiten würde. Die Trennung von ihr nahm uns schwer mit. Philip wiederum besaß in Budapest eine große Wohnung und hatte uns Mädchen angeboten, zu ihm zu kommen und bei ihm zu leben. Im September 1945, vier Monate nach unserer Befreiung, kam ich mit Sarah und Esther dort an. Als unser Zug im Hauptbahnhof einfuhr, wartete Philip bereits am Bahnsteig auf uns, um uns in Empfang zu nehmen. Wir hatten noch keine genaue Idee, wie unser Leben jetzt weitergehen würde. Am Ende blieben wir rund eineinhalb Jahre bei ihm. Es war die Zeit, die wir brauchten, um uns unmittelbar nach der Haft über unsere Zukunft Gedanken machen zu können. Was sollte jetzt aus uns werden? Wo wollten wir leben? Von was wollten wir leben? Derartige Überlegungen, die in einem normalen Leben in der Schule reiften und zu Hause mit den Eltern besprochen wurden, gab es in Auschwitz logischerweise nicht. Nach der Internierung in einem Vernichtungslager wird man in aller Regel auch nichts mehr. Für unsere jetzige Situation bedeutete das: Wir Schwestern mussten im Eiltempo erwachsen werden.
Philip hatte sich nach der Flucht in Budapest ein neues Leben aufgebaut. Er war der geborene Geschäftsmann. Er verkaufte keine Möbel mehr, dafür Perserteppiche und Artefakte aller Art – und das sehr erfolgreich. Philip war es wichtig, dass wir Englisch lernten, deshalb organisierte er uns schon bald einen Lehrer, der uns privat unterrichtete. Er dachte weiter und sprach davon, dass wir irgendwann nach England oder Amerika auswandern sollten. Die Länder der alliierten Kriegsgewinner, mit ihren großen jüdischen Communitys, boten seiner Meinung nach die größten Chancen für uns. Als Gegenleistung dafür, dass wir bei ihm wohnen durften, fühlten wir uns verpflichtet, ihm den Haushalt zu führen und für ihn zu kochen. Er hatte es nicht ausdrücklich verlangt, aber es schien ihm ganz recht so, auch wir fühlten uns dadurch besser. Philip war Witwer, seine erste Frau war mit dem gemeinsamen Sohn und ihren Eltern in Munkatsch geblieben und später mit der gesamten jüdischen Gemeinde der Stadt nach Auschwitz deportiert worden. Mit uns war Philip weniger allein, das genoss er sichtlich, aber auch wir waren ihm sehr dankbar, dass er uns, die wir nichts mehr besaßen, einen Platz zum Leben gab.
Er teilte Taschengeld an uns aus, damit konnten wir in unserer Freizeit mit der Straßenbahn durch die Stadt fahren, Süßigkeiten kaufen – wir drei liebten Süßigkeiten aller Art – oder ins Kino gehen. Der erste Film, den ich überhaupt auf einer großen Leinwand sah, war Vom Winde verweht. In Budapest liefen Filme im englischen Original, was meinen Sprachkenntnissen zugutekam. Ich habe den Film bestimmt viermal gesehen, diese unmögliche Liebesgeschichte konnte mein Herz wieder berühren, was mich selbst überraschte. Fast noch mehr ist mir der Film Gilda in Erinnerung geblieben, mit Rita Hayworth in der Hauptrolle. Gilda ist eine Frau unter Männern, auch sie ist als Sängerin und Tänzerin in einem Spielcasino auf den ersten Blick eine Gefangene. Und trotzdem war Gilda für mich ein Feenwesen aus einer fernen Galaxie. Keine Muselfrau, wie in Auschwitz üblich, sondern eine elegante, emanzipierte, moderne Frau, die sich von den Männern nicht herumkommandieren ließ. Ganz im Gegenteil: Gilda begehrte auf, gab den Männern die Schuld an den Katastrophen der Welt und offenbarte ihnen damit die weibliche Macht, die sie über sie besaß, weil sie schön war, blond und begehrenswert. Und ganz anders als die Männer glaubten, war sie eben nicht die Betrügerin oder Ehebrecherin, sondern eine Frau, die wahre Liebe suchte. Ich war fasziniert von dieser Gilda und konnte nicht glauben, dass auch sie eine Frau des Jahres 1946 war. Eine Frau wie Gilda, dachte ich im Kinosessel, hätten die Nazis nie und nimmer deportieren und gefangen halten können, eine Frau wie Gilda hätten sie nie entmenschlichen können, so weit hätte ihre Macht gar nicht gereicht. Das Kino war für mich der Raum, in dem ich mir wieder eine andere Realität vorstellen konnte als die, die ich gerade hinter mich gebracht hatte. Die Realität meiner Träume. Natürlich war Gilda kein Film, den mein Vater mir aus religiösen Gründen empfohlen hätte, aber es war ein Film, von dem ich mir für mein neues Selbstbewusstsein, das ich in Zukunft brauchen würde, einiges abschauen konnte. Sarah, Esther und ich mochten unser neues Leben in Budapest.
Eines Tages im Frühjahr 1946 kam Philips Cousin Yosef zu Besuch, der genau wie Philips Bruder Jakob bereits im damals noch britischen Mandatsgebiet Palästina lebte. Beide waren rechtzeitig vor dem Krieg aus Europa geflohen. Als Yosef sah, wie ich Philips Schuhe polierte und die Zimmer sauber machte, wurde er wütend. »Du hältst die Mädchen wie bessere Zimmermädchen. Warum lässt du sie nicht nach Eretz Israel gehen?«, griff er Philip an. Yosef lebte in einem Kibbuz namens Kfar Masaryk im Norden des Landes und schwärmte uns von dem typischen Kibbuzleben vor, in dem es keine Bediensteten gab, sondern alle gleich verantwortlich waren und sich jeder und jede für den anderen in den Dienst stellte. Yosef glaubte, dass auch wir diesen Schritt tun und in das Land gehen sollten, das in den biblischen Schriften als Ursprung des jüdischen Volkes beschrieben wird. Nach dem Krieg aber stand das »Land Israel« als UN-Mandatsgebiet Palästina noch unter britischer Herrschaft und war für Jüdinnen wie uns nicht ohne Weiteres erreichbar. Ich erinnerte mich: Der traditionelle Vers »Für das nächste Jahr in Jerusalem«, ein Wunsch, den jeder Jude, jede Jüdin im Exil am Sederabend, zu Beginn des Pessachfestes, spricht, war auch Papas große Sehnsucht gewesen. Bis zu seinem Tod träumte er vergeblich davon. Und so gab es in den Tagen, in denen Yosef in Budapest zu Besuch war, etliche Diskussionen mit seinem Cousin Philip, der uns – im Gegensatz dazu – immer noch von Amerika vorschwärmte.
Wir Schwestern waren der Meinung, auch weil wir nicht undankbar sein wollten, Philip sollte die Entscheidung über unsere Zukunft treffen. Sarah, die in Munkatsch auf eine zionistische Schule gegangen war, machte allerdings keinen Hehl daraus, wohin sie am liebsten wollte. Nun gab es im Prinzip zwei Möglichkeiten: Entweder wir schlössen uns einer der großen politischen Jugendorganisationen an oder der »Jüdischen Brigade«, einer jüdischen Kampfeinheit innerhalb der britischen Armee, die im Krieg an der Seite der Alliierten kämpfte. Da wir politisch niemandem nahestanden, schien uns der Weg über die Brigade geeigneter zu sein. Jüdischen Überlebenden war es unmittelbar nach dem Krieg und vor der offiziellen Staatsgründung Israels 1948 zwar verboten nach Palästina zu reisen, die »Jüdische Brigade« störte das allerdings wenig und sie hielt zu der Zeit nach Überlebenden des Krieges Ausschau, die in das Gelobte Land wollten. Wie uns drei Schwestern zum Beispiel.
Für 400 US-Dollar würde jede von uns von einem Offizier der Brigade adoptiert oder geehelicht oder sonst wie zu einem Teil der Familie gemacht werden und könnte so die Reise nach Palästina antreten. Älteren Frauen wurden fiktive Eheurkunden ausgestellt, junge Männer und junge Frauen wurden als Kinder der Brigadesoldaten registriert. 400 US-Dollar waren damals sehr viel Geld, doch Philip, der uns die Reise bezahlen würde, überlegte nur kurz. Er konnte es sich leisten und war nun selbst davon überzeugt, dass Palästina die richtige Entscheidung für seine Nichten sein würde. Und so wurde ich innerhalb von wenigen Wochen die Tochter des Militärrabbiners der Brigade, amtlich bestätigt durch einen gefälschten britischen Reisepass mit Palästina-Stempel. Ich durfte damit aufs Schiff, Sarah und Esther wurden mit ihren eigenen Legenden auf andere Schiffe verteilt und kamen etwas später nach. So schnell wie ich war eine Auschwitz-Überlebende nur selten zur Passfälscherin avanciert. Es zeigte aber auch, wie schwierig es war, sich nach dem Krieg als Holocaust-Überlebende legal eine neue und sichere Existenz aufzubauen.
Kurz vor meiner Abreise gingen wir drei Schwestern noch ein letztes Mal zusammen in die Stadt und besuchten den damals so genannten »Zigeunermarkt« im Stadtzentrum von Budapest. Während wir herumschlenderten, griff eine vermeintliche Wahrsagerin ungefragt nach meiner Hand und wollte mir meine Zukunft voraussagen. Ich wollte nicht, ich glaube nicht an derlei Schnickschnack, und zog meine Hand zurück. Die Frau ließ nicht locker und griff wieder nach ihr. Sarah und Esther amüsierten sich, weil ich mich so anstellte. Ich gab schließlich nach. Die selbst ernannte Hellseherin schaute auf die Linien meiner Handinnenflächen und sprach davon, dass ich schon bald eine weite Reise übers Meer antreten würde und dass ich in einem neuen Land einen dunkelhäutigen Mann kennenlernen und mich in ihn verlieben würde. »Du wirst diesen Mann heiraten und Kinder mit ihm bekommen«, das sagte die Hellseherin wörtlich zu mir. Das mit der Reise war in der Tat verblüffend, weil ich ihr nichts von meinen Israel-Plänen erzählt hatte, den Rest hielt ich für das übliche Liebesgefasel, was sollte eine Wahrsagerin auch schon anderes erzählen, als dass man bald die Liebe seines Lebens finden würde. Ich glaubte ihr nicht, sollte aber feststellen, dass es genauso kommen würde.
Auf hoher See, Richtung Israel, wurde ich sehr schnell seekrank. Es war meine allererste »Kreuzfahrt«. Der alternde, ehemals zivile Dampfer namens »André-Panama«, der von der Brigade in ein Flüchtlingsschiff umfunktioniert worden war, schwankte in den Wellen wie ein betrunkener Seemann. Unsere Schiffsroute führte vom Hafen von Marseille über Beirut im Libanon bis nach Haifa. Ein einziges Mal legten wir während der mehrtägigen Überfahrt in einem Hafen an, um aufzutanken. In Beirut kamen Menschen in farbenprächtigen orientalischen Gewändern an Bord, die ich so nie zuvor gesehen hatte. Die fliegenden Händler verkauften Kleidung, Gewürze und Essen, einer trug einen ganzen Bananenstrauch in seinen Händen. Ich war fasziniert und staunte, ich hatte in meinem Leben noch nie Bananen gegessen. Selbstredend, dass es in Auschwitz und den anderen Lagern kein Obst zu essen gegeben hatte. Von meinem letzten Taschengeld, das mir Philip für die Reise zugesteckt hatte, kaufte ich mir zwei Bananen, die so intensiv cremig schmeckten, dass meine Übelkeit mit einem Mal verflogen war. Dieses Menschen-, Farben- und Duftgewirr am Hafen von Beirut machte einen bleibenden Eindruck auf mich, ich war schwer begeistert. Im Fahrtwind vermischte sich der süßlich-würzige Duft des Orientalischen mit der salzigen Luft auf hoher See und kündete von einer Freiheit, die ich mir in den Lagern so sehr ersehnt hatte.
Wenn ich heute zurückdenke an das, was die Wahrsagerin in Budapest 1947 zu mir sagte und daran, dass ich meinen zukünftigen Ehemann Shlomo, der tatsächlich aus Beirut kam und dunklere Hautfarbe besaß, bereits drei Jahre später heiraten sollte, kann man alles dem großen Glück des Zufalls zuschreiben, oder man glaubt an so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit oder an eine schicksalhafte Wiedergutmachung, die nicht von dieser Welt ist. Diese Schiffsreise über das Mittelmeer war für mich der Aufbruch in mein neues, ein besseres Leben, ein Leben jenseits des Stacheldrahtzauns. Alles, was jetzt noch kommen konnte, musste besser sein als das Erlebte, das hinter mir lag, auch wenn es noch in mir war.