Ich habe fast 50 Jahre nicht darüber gesprochen. Die Welt aber hat seitdem nicht aufgehört darüber zu sprechen. Bis heute nicht, dabei ist es 80 Jahre her. Das, was ich persönlich erlebt habe, hat die Welt erschüttert wie kaum ein anderes historisches Ereignis davor und danach. Vermutlich liegt es daran, dass die Welt, oder sagen wir besser, der Mensch, wir alle also bis heute nicht begreifen können, wie es dazu kommen konnte, wieso es überhaupt passiert ist, warum niemand es verhindert hat. Seit es passiert ist, sind sich die Menschen selbst ein Stück weit ein Rätsel. Verunsichert im eigenen Selbstverständnis fragen sie sich: Wer sind wir, wenn wir zu so etwas fähig sind? Jeder Einzelne von uns? Fast scheint es, als hätte der Mensch seitdem den tiefen Glauben an sich selbst verloren, daran, dass im Grunde seiner Existenz etwas Gutes liegt. Ich selbst weiß, zu was die Menschen fähig sind, ich habe es an Leib und Seele erfahren. Letzte Antworten auf die Fragen nach dem Warum, nach dem Wie und dem Wieso habe auch ich nicht finden können. Vielleicht habe ich auch deshalb so lange geschwiegen. 80 Jahre danach versuchen wir uns noch immer eine realistische Vorstellung von jenen Geschehnissen zu machen, Geschehnissen, die sich der Vorstellungskraft entziehen. Nicht meiner, die ich dabei war, womöglich aber Ihrer. Es reicht ein einziger Begriff, nur ein Wort, und die Menschen zucken innerlich zusammen. Zumindest die allermeisten von ihnen. Und ich sage ganz ausdrücklich, zum Glück ist das so. Zum Glück hält die Erschütterung auch 80 Jahre danach immer noch an. Egal wo auf der Welt, egal ob man den Begriff nur aus dem Geschichtsunterricht kennt. Diesen Begriff, der Angst macht, der verunsichert und verstört, bis heute, jeden von uns. Warum ist das so? Ein einziger Begriff und Politik, Wissenschaft und Welt gedenken, ermahnen, forschen, beten und rätseln und versuchen immer noch Erklärungen zu finden für das Unerklärliche. Das Unerklärliche, das einen Namen trägt: Auschwitz.
Ich war ein Teenager, noch ein halbes Kind, als ich an meinem 15. Geburtstag in Auschwitz ankam. Ziemlich genau ein Jahr später, eine Woche vor meinem 16. Geburtstag, wurde ich im Konzentrationslager Theresienstadt aus der Gefangenschaft der Nationalsozialisten befreit. Heute bin ich weit über 90 Jahre alt, ich bin das, was man eine »Überlebende« nennt. Ich habe Vater und Mutter in Auschwitz verloren, Brüder, Schwester, Nichte, Cousinen, Großeltern. Von unserer über 200 Mitglieder großen Familiensippe haben nur wenige überlebt. Aber nur zu überleben, das hätte mir im Leben danach nicht gereicht. Als ich endlich anfing über meine Vergangenheit zu sprechen, 50 Jahre später, war der größte Teil meines Lebens selbst schon wieder Geschichte. Ich stand kurz vor dem Ruhestand. Man kann nicht ein ganzes Leben darüber schweigen, nicht über Auschwitz. Heute will ich meine Geschichte in allen mir erinnerbaren, in allen gefühlten Einzelheiten erzählen. Zum allerersten Mal wird sie schriftlich festgehalten, meine Geschichte, die mein Leben ist.
Zeit meines Lebens, also des Lebens nach der Befreiung aus der Lagerhaft, habe ich trotz meiner Schreckenserfahrung erstaunlich gut funktioniert. Ich war Sozialarbeiterin in großen Wohlfahrtsämtern in Israel, später Managerin einer kommunalen Wohlfahrtsbehörde. Ich hatte eine berufliche Aufgabe gefunden, die mir Sinn gab, die mich erfüllte, auch zeitlich ausfüllte. Das war wichtig. Von außen betrachtet war es so: Wer von nichts wusste, der hat auch nichts gemerkt. Es soll nicht großspurig klingen, ich durfte mit vielen großartigen Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten, der Erfolg unseres Engagements war nur als Team denkbar. Doch ich nehme für mich in Anspruch, eine gute Sozialarbeiterin gewesen zu sein. Engagiert, empathisch, das Herz am rechten Fleck. Diesen Fleck konnte auch Auschwitz nicht verrücken. Von dem aber, was sich in mir abspielte, wusste außer mir niemand. Woher auch, ich sprach ja nicht darüber. Tagsüber war ich mit meiner Arbeit beschäftigt, mit den Sorgen und Nöten derer, die mir anvertraut wurden. Kinder, Jugendliche, Arme, Benachteiligte, Unglückliche, Schicksalsgeplagte, Straffällige. So viele, die sich für ihr Leben etwas anderes vorgestellt hatten als das, was dann kommen sollte. Ein Gefühl, das ich erstaunlich gut kannte.
Mir wurde ziemlich schnell klar, ich musste mich für den Rest meines Lebens beschäftigt halten, busy sein, wie man heute sagt. Ich musste all die Gedankenfetzen und Erinnerungsreste, die sich regenden Gefühlsruinen in meinem Kopf mit Ignoranz und Nichtbeachtung strafen und somit in Schach halten. Zu viel freie Zeit konnte ich da nicht gebrauchen. Nur, was ich anfangs unterschätzt habe: Gedanken, die nicht gedacht werden, reiben sich unter der Oberfläche und können das Unterbewusste nur allzu leicht entzünden. Das weiß ich heute. Wenn der geschäftige Tag in den Abend überging, wuchs mein Unbehagen jeden Tag aufs Neue. Ich fürchtete die Nacht, ich fürchtete mich davor, ins Bett zu gehen. Wenn ich wach und beschäftigt war, konnte ich meine Gefühle kontrollieren. Nachts aber hatte ich nichts mehr unter Kontrolle. Ich fürchtete mich vor dem Tag, an dem ich nicht mehr funktionieren musste, an dem keine beruflichen Ablenkungsmanöver mehr im Kalender notiert waren. Dieser Tag würde kommen, so viel war sicher.
Nur, wie lebt man mit diesem entzündeten Geist? Lange vor meiner Pensionierung malte ich mir aus, was geschehen würde, wenn ich auf einmal unendlich viel Zeit haben würde. Zeit für Familie, Freunde, Ferien, das sollte schön werden, sicherlich, aber natürlich wusste ich, dafür war ich während meiner Ausbildung zur Sozialarbeiterin psychologisch zu gut geschult worden, dass sich das Unbewusste und das Verdrängte meiner bemächtigen konnten. Ich würde reichlich Zeit für diejenigen Gedanken bekommen, die nachts immer da waren und die ich tagsüber immer irgendwie erfolgreich nicht denken, nicht beachten, einfach verdrängen konnte. Während meiner Zeit in den Konzentrationslagern in Auschwitz, in Bergen-Belsen, in Duderstadt und in Theresienstadt musste ich meine Gefühle unterdrücken und ausschalten, sonst hätten sie mich um den Verstand gebracht. Man muss in einer solchen Situation seine Gefühle abtöten, will man nicht ganz von ihnen vernichtet werden, so ähnlich hat der österreichische Psychoanalytiker Viktor E. Frankl seine Auschwitz-Erfahrung beschrieben. Der Mensch, so viel wusste ich nach meinem Studium, legt seine Erlebnisse im limbischen System ab, seinem Gefühlszentrum. Was aber macht das Gefühlszentrum mit toten Gefühlen? Tote Gefühle sind Traumata, über die sich so schwer reden lässt. Was aber, wenn sie durch die Oberfläche stoßen und reanimiert werden wollen? Der Tag meiner Pensionierung, von dem ich natürlich wusste, dass er kommen würde, würde mir keine Erlösung bringen von meiner harten, fordernden Arbeit. Im Gegenteil: Er machte mir Angst.
Natürlich habe ich die ganze Zeit darüber gesprochen. Über das, was ich in den Jahren 1944 und 1945 erlebt habe. Aber zunächst eben nicht so, wie man sich das vielleicht vorstellen mag, im geschützten Gespräch mit einem Arzt oder Psychologen oder ganz offen unter Freunden beim Kaffee. Einem Trauma lässt sich nicht mit Ablenkung, Verachtung oder Verdrängung beikommen und so tritt das halluzinierende, retraumatisierende Selbstgespräch an die Stelle einer möglicherweise erfolgversprechenden, zumindest lindernden Therapie. Auschwitz brodelte in mir. Tief unter der Oberfläche meiner Haut brodelten die Gase der Erinnerung wie in einer menschlichen Magmakammer, die kurz vor der Explosion stand. Der Druck der Erinnerungen stieg über die Jahre kontinuierlich an, die Haut wurde dünner, drohte aufzuplatzen. Wenn ich nachts im Bett lag, die Augen schloss und schlafen wollte, wieder und wieder nicht schlafen konnte und dann doch von der Müdigkeit überwältigt wurde, wenn mein Bewusstsein allmählich die Kontrolle abgab, dann überschritten die untoten Gefühle den kritischen Punkt und Auschwitz brach buchstäblich aus mir heraus. Dann habe ich jede Nacht vom Lager erzählt. Ich weiß noch ziemlich genau, wann es anfing. Fünf Jahre nach meiner Befreiung, ich war 21 Jahre alt und frisch verheiratet, nahmen die Albträume Fahrt auf. Albträume sind der lange Arm von Auschwitz, der uns Überlebende Jahre, selbst Jahrzehnte später packt und schüttelt, immer und immer wieder. Ein Schütteltrauma für Leben, Seele, Liebe. Ich war nur ein Jahr meines Lebens in Lagerhaft, ein einziges Jahr, das selbst heute noch in mir steckt und einfach nicht totzukriegen ist.
Ein Jahr – für immer!
Ich durchlebte das Geschehene ein zweites und ein drittes, ein zehntes und ein 35. Mal. Und ein 496. Mal. Ich sprach im Schlaf. Ich weinte im Schlaf. Ich schrie im Schlaf. Ich hatte Todesangst im Schlaf. Mein Körper verkrampfte sich zu einem einzigen großen Muskel und focht jede Nacht aufs Neue einen imaginären Kampf mit den Schatten der Vergangenheit. Wenn die Verzweiflung unüberhörbar und ohrenbetäubend wurde, schüttelte mich Shlomo, mein Ehemann, aus meinen Träumen, hielt seine schweißgebadete, erschöpfte, verängstigte Frau fest, die mit weit aufgerissenen Augen im Bett saß. Shlomo strich mir über die Stirn, nahm mich in den Arm, tröstete mich mit beruhigenden Worten, gab mir zu trinken, nahm meine Hand in die seine und dann versuchten wir gemeinsam, wieder in den Schlaf zu finden. In der nächsten Nacht das gleiche dramatische wie absurde Schauspiel, für das Adolf Hitler, die SS oder die sogenannten Nazis das Drehbuch geschrieben hatten. Ich hätte meinem Ehemann und später meinen Kindern dieses Schauspiel gerne erspart. Ich hätte es mir selbst gerne erspart.
Natürlich wusste Shlomo von Auschwitz, aber er wusste nichts Genaues. Nie hätte er mich nach meinen nächtlichen Albträumen gefragt, ob ich darüber sprechen wollte, was genau mich quälte, wie er mir helfen könnte. Er wollte nicht weiter in der Wunde bohren, die jede Nacht von allein zu bluten anfing. Shlomo wusste instinktiv, er konnte mir gar nicht helfen. Ich war eine junge Frau Anfang, Mitte 20, die selbst gar nicht über das Erlebte reden wollte. Nicht konnte, noch lange nicht. Obwohl ich natürlich spürte, dass da etwas ist in mir, das raus muss. Das Rausholen übernahmen die Albträume. Träume als Ventil, Nacht für Nacht. Sie sind geblieben – bis heute. Auch wenn sie mich jetzt im hohen Alter lange nicht mehr so häufig aufsuchen und lange nicht mehr so heftig ausfallen wie damals. Offenbar geht auch Auschwitz irgendwann einmal in eine Art Vorruhestand.
In den Geschichten meiner nächtlichen Gedankenfilme mischen sich Gegenwart und Vergangenheit, aktuelle Ereignisse und jahrzehntealte Erinnerungen, Terroranschläge in Israel und das Grauen der Shoa. Auschwitz-Gefühle sind Vernichtungsgefühle. Immer. Die Hauptrollen der Albträume sind mit Jassir Arafat und Josef Mengele, dem Arzt von Auschwitz, prominent besetzt. Arafat galt als Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO lange als gefährlicher Terrorist und Israels Staatsfeind Nummer eins. In einem meiner typischen Arafat-Träume lässt er unter Waffengewalt einen Zug anhalten und eröffnet wahllos das Feuer auf die Insassen. Der Zug ist ein Viehwaggon, genauso sah mein Deportationszug nach Auschwitz aus. Die Menschen fallen wie Bowlingkegel der Reihe nach um, sie stürzen auf mich und reißen mich zu Boden. Ich bin unverletzt, aber ich stelle mich tot. Wenn ich überleben will, darf ich jetzt keinen Mucks von mir geben, mich auf keinen Fall bewegen, bloß nicht atmen, sonst muss ich sterben. Ich halte die Luft an, auch im wirklichen Leben, also im nächtlichen Schlaf, bis ich vor Atemnot japsend aufschrecke. Es gibt etwa ein Dutzend Variationen dieses Arafat-Traums, immer wieder war es Shlomo, der mich aus dem Zug rettete und in die Arme nahm. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft Arafat und seine Männer den Zug angehalten und losgefeuert haben. Doch jedes Mal liege ich wieder da auf dem Boden, nach Luft japsend, den Tod vor Augen …
Die allerschlimmsten Albträume sind die, in denen Josef Mengele auftritt, der Lagerarzt von Auschwitz. Ich bin ihm dort immer wieder persönlich begegnet, an ihn habe ich eine genaue Erinnerung. Meine Mengele-Träume gehen oft so: Ich bade meine beiden kleinen Söhne Doron und Yaron zu Hause in der Badewanne. Auf einmal tritt Mengele durch die Tür, reißt die Buben aus dem Wasser, presst sie mit Gewalt an sich und läuft mit ihnen davon. Mengele läuft mit seinen kniehohen schwarzen Stiefeln auf einen Hügel, ich laufe schreiend hinterher, ich verfolge ihn, aber ich kann ihn nicht einholen. Ich kann ihn nie einholen. Jede Nacht laufe ich hinter ihm her, er bleibt, wie durch eine Scheibe von mir getrennt, unerreichbar. Die Kinder schreien: »Mama, Mama«, ich schreie ihnen panisch hinterher: »Doron«, »Yaron«, dass sie keine Angst zu haben brauchen, dass ich sie retten werde, dass alles gut wird. Aber das stimmt nicht. Es ist eine Lüge. Das ist das Schlimmste. Dann verschwindet Mengele mit meinen Jungs hinter dem Berg, ich sehe sie nie mehr wieder.
Ein anderes Mal nimmt Mengele Doron und Yaron an die Hand und führt sie seelenruhig Richtung Schornstein, Richtung Gaskammer. Die Jungs denken an nichts Böses, sie vertrauen »Onkelchen« Josef, sie wissen ja von nichts. Wieder laufe ich hinterher, rufe verzweifelt nach ihnen, schreie panisch um Hilfe und kann sie nicht retten. Ich kann sie nie retten. Meine Jungs kommen nicht wieder. Shlomo holt mich zurück ins Jetzt, er ist wieder von den Schreien wach geworden. Auch die Mengele-Träume gibt es in verschiedenen Varianten, mal mit Badewanne, mal mit Gaskammer, mal mit Hügel, immer ohne Happy End. Seit sechs Jahrzehnten kidnappt Josef Mengele meine kleinen Kinder, die in meinen Träumen nie alt werden. Im wirklichen Leben führen sie ein langes, gesundes Leben, beide sind heute selbst schon wieder Rentner, in meinen Träumen bleiben sie meine kleinen Jungs, die meinen Schutz brauchen und die ich als Mutter nicht beschützen kann. In meinen Träumen bin ich Josef Mengele öfter begegnet als in Auschwitz persönlich. In den gut vier Monaten im Vernichtungslager habe ich nicht einmal von ihm geträumt, ich kann mich überhaupt nicht an irgendwelche Albträume erinnern. Ist das nicht verrückt? Ich kann das gar nicht genau erklären, wie sehr die Angst in einem steckt, in allen Zellen und Nervenbahnen, wie sie sich jede Nacht Bahn bricht, obwohl die Gefahr lange gebannt ist. Sie geht nicht mehr weg. Auschwitz ist keine Krankheit, die man heilen, keine Wunde, die sich je schließen lassen könnte. Vielmehr ein Phantomschmerz, der immer wiederkehrt. Auschwitz ist in mir, ich bin ein Teil von Auschwitz. Man wird uns beide nicht mehr trennen können.
Die Wahrheit ist: Die Gefahr ist niemals gebannt, die Furcht geht niemals wieder ganz weg. Als der irakische Diktator Saddam Hussein 1991 im Zweiten Golfkrieg auch Bomben auf Israel werfen ließ und mit Chemiewaffen und Gasraketen drohte, erklärte unsere Regierung, dass wir uns zu Hause verschanzen sollten. Allein das Wort »Gas« reichte aus und ich kehrte nach Auschwitz zurück. Die israelischen Luftabwehrraketen waren ganz in der Nähe stationiert und erschütterten immer wieder unser Haus in Haifa. Während die Sirenen des Fliegeralarms heulten, klebten wir die Zimmerfenster mit Nylon ab, weil man uns gesagt hatte, Nylon könne das Giftgas abhalten. Ich wurde hysterisch, wickelte meinen ganzen Körper in Nylon ein, kroch unter das Bett und wartete ab – nichts passierte. Ähnlich war es im Zweiten Libanonkrieg 2006, als Haifa wieder bombardiert wurde, diesmal von der Hisbollah. Als der Raketenalarm vorbei war, kroch ich unter dem Bett hervor und wusste nicht, ob ich lachen oder mich schämen sollte. Hatte ich alles richtig gemacht oder endgültig den Verstand verloren? Oder war mein Verhalten, nach allem, was ich als junge Frau durchgemacht hatte, völlig legitim und angemessen? Und wer hätte mir darauf eine Antwort geben können, die ich geglaubt, der ich vertraut hätte und die mich hätte beruhigen können?
Auch jetzt herrscht wieder Krieg in Europa. In der Ukraine, davor in Syrien, im Jemen. Es herrscht immer irgendwo Krieg auf der Welt. Wenn ich Krieg erlebe, ob nun selbst ganz direkt oder in den Nachrichten, denn aus dem Weg gehen kann man ihm ohnehin nicht, dann nehmen meine Auschwitz-Albträume wieder zu. Zahlenmäßig und in ihrer Intensität. Fast so, als wäre ich persönlich ein Seismograf für alles Grauen in der Welt. In mir schlägt es aus, wenn es anderswo zu Kriegsverbrechen, Gräueln und Unmenschlichkeit kommt. Als wäre es meine Aufgabe, das spüren und aushalten und dokumentieren zu müssen. Familie und Freunde machen sich Sorgen, sie sagen, ich solle keine Nachrichten schauen und nichts lesen. Meine Antwort ist stets die gleiche: Ich kann die Augen nicht davor verschließen, die Menschen sterben ja trotzdem. Wer Auschwitz erlebt hat, der braucht keine Fernsehnachrichten, um zu wissen, zu was der Mensch in der Lage ist. In den Nachrichten sehe ich traurige Kindergesichter, verschreckte Mütter, Familien auf der Flucht, Leichen. Die Bilder aus der Ukraine verschmelzen mit den Bildern in meinem Kopf, den Bildern von damals. Die Ukraine 2022 ist nicht Auschwitz 1944, aber Krieg ist Krieg. Ist Tod. Leid. Zerstörung. Vertreibung. Verzweiflung. Geschichte wiederholt sich. Auch meine Geschichte wiederholt sich. Nachts in meinen Träumen. Auschwitz war nie ganz weg und ist jetzt wieder ganz nah. Das wird Zeit meines Lebens so bleiben. Ich bin zu alt, um noch naiv zu sein, aber ich bin noch nicht alt genug, um nicht mehr wütend und traurig zu werden. Meine Hände sind feucht, mein Mund ist trocken. Ich muss was trinken, schnell. Ich habe Durst, großen Durst. Es kommt alles wieder hoch.