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PESSACH

Die letzte Woche der Pessach-Ferien im April 1944 waren die letzten Tage in unserem geliebten Elternhaus in Unterwischau. Damals wusste ich das allerdings nicht. Auch von den Vorgängen außerhalb der eigenen vier Wände bekam ich erst einmal kaum etwas mit. Im Monat zuvor hatte Deutschland Ungarn besetzt, jetzt, in den Ferien, sah Meir ungarische Polizisten lautstark und mit Furcht einflößendem Gehabe durch unseren Ort patrouillieren. Die uniformierten Faschisten, sogenannte Pfeilkreuzler, mit geladenen Pistolen im Anschlag, stießen wahllos wütende Drohungen gegen unsere Gemeinde aus, drangsalierten jüdische Passanten auf den Straßen brutal mit Gummischlagstöcken und brüllten, dass alle Juden abgeholt und in ein Arbeitslager gebracht würden. Meir notierte sich auch den Tag, an dem er dieses unselige Schauspiel auf den Straßen von Unterwischau beobachtete. Es war der 14. April 1944, zwei Tage vor der dramatischen Rede unseres Vaters, die für unsere Familie alles verändern sollte.

Ich glaube heute, dass mein Vater, als Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Bescheid wissen musste, dass der Abtransport ins Ghetto nach Oberwischau unmittelbar bevorstand. In den Tagen davor wurde Fivish regelmäßig zu den örtlichen Behörden zitiert, Papa sollte kraft seines Amtes und seines Ansehens in der Gemeinde für einen reibungslosen Transfer der etwa 1000 jüdischen Familien ins Ghetto sorgen, das war seine Aufgabe, so erzählte es mir Meir hinterher. Was ich ebenfalls nicht wusste: Meir war der Einzige aus der Familie, mit dem Papa überhaupt über solche Dinge sprach. Ethel und uns Kinder wollte er nicht beunruhigen und schwieg deshalb die meiste Zeit in jener Phase, in der sich die Verhältnisse so zuspitzten. In den beiden Tagen vor unserem erzwungenen Abtransport, anders kann ich es mir gar nicht vorstellen, muss eine gespenstische Stimmung bei uns im Haus geherrscht haben, die Erinnerung daran habe ich verdrängt oder gar nicht erst zugelassen. Ich war immer noch naiv genug zu glauben, alles wäre in bester Ordnung.

Dieses Pessachfest 1944 hat sich, vielleicht genau aus diesem Grund, rückblickend zum schönsten Pessach meines ganzen Lebens verklärt. Es war das letzte mit Papa und Mama zusammen, im Kreise der ganzen Familie, einer Familie, die es so nie wieder geben sollte. Zum letzten Mal waren wir alle vereint. Im jüdischen Kalender ist Pessach eines der wichtigsten Feste schlechthin. Am Abend zuvor kommen die jüdischen Familien zusammen, lesen die Haggada, eine Schriftensammlung, in der der genaue Ritus beschrieben ist, und feiern den Auszug des israelischen Volkes aus Ägypten und damit die Befreiung Israels aus jahrhundertelanger Knechtschaft. Dass Hitlerdeutschland uns 3000 Jahre später, pünktlich zu Pessach, in die nächste Knechtschaft führen sollte, konnte nur ein grausamer Spuk der Geschichte sein. Selbst an diesem 14. April 1944 hatte ich, einen Monat vor meinem 15. Geburtstag, keinerlei Vorahnungen, was noch kommen würde, während mein großer Bruder Meir und wohl auch meine älteste Schwester Sarah, die zu dem Zeitpunkt 17 Jahre alt war, ahnen mussten, dass etwas Schlimmes passieren würde. Sarah, die in Munkatsch bei den Großeltern aufgewachsen war, lebte noch nicht lange wieder zu Hause. Sie sprach nicht viel mit uns jüngeren Geschwistern, wir drei hielten sie anfangs für hochnäsig und arrogant, eine typische Stadtgöre eben, so dachte ich. Dass sie das überhaupt nicht war, sollte sich im Jahr unserer Gefangenschaft zeigen. Sarah war nicht nur älter, sondern vor allem viel reifer als wir übrigen Schwestern, die wir ihr manchmal wie kleine Kinder vorgekommen sein mussten. Über das, was sie unmittelbar vor unserer Deportation bereits wusste oder zumindest mutmaßte, wollte sie auch später nie wieder mit uns sprechen. Dabei hatte ich nie den Eindruck, dass sie deswegen stärker unter den Schrecknissen der Vergangenheit zu leiden gehabt hätte, weil sie den ganzen Horror dieser Tage schon viel bewusster mitbekam. Sarah war eine wahre Verdrängungskünstlerin, die sehr schmerzhafte Erinnerungen wegsperren konnte und auch Jahre, Jahrzehnte später dafür keinen Schlüssel brauchte.

Pünktlich zum Fest wurde das Haus auf Vordermann gebracht, alle acht Zimmer geputzt, alles sollte schön glänzen. Wir Kinder liebten diese geschäftige Feierlichkeit und halfen alle kräftig mit. Gemeinsam bereiteten wir das traditionell einfache Mahl vor, bei dem wir, wie jedes Jahr, auf Fleisch verzichteten. Die Eier wurden hart gekocht, Kichererbsen und Bohnen gedünstet, das Matzenbrot gebacken, ein dünner, ungesäuerter Brotfladen, der zu Pessach – immer am ersten Vollmond im Frühling – eine hohe symbolische Bedeutung hat. Auf der Flucht vor den Ägyptern war keine Zeit, den Teig gehen zu lassen, es musste also schnell gehen, deshalb blieb das Brot flach. Und obwohl ich mir damals vormachte, 1944 wäre unsere Feier völlig unbeschwert und harmonisch gewesen, fielen mir im Rückblick Beobachtungen und Momente ein, die nicht ins Bild passen wollten und die ich offenbar erfolgreich verdrängt hatte. So bekam ich während der Vorbereitungen zufällig ein Gespräch meiner Eltern mit, in dem mein Vater Mama darum bat, ein ganz normales, gesäuertes Brot zu backen. Das war äußerst ungewöhnlich und in all den Jahren zuvor nie vorgekommen. Sauerteig war für einen gläubigen Juden an Pessach strengstens verboten, trotzdem bat Fivish Ethel darum. Aber warum?

Am nächsten Tag, ein Sabbat, laut Meir muss es der 15. April 1944 gewesen sein, polterte es während des gemeinsamen abendlichen Essens an der Haustüre. Zwei ungarische Polizisten platzten ungebeten ins Haus und fingen umgehend an herumzuschreien. Beide trugen eine Uniform, die mich einschüchterte, und einen auffälligen Hut mit Feder. Offenbar Militärpolizei. Was danach passierte, erklärte Meir uns Schwestern zum Teil erst Jahre später. Einer der Polizisten, groß und grobschlächtig, mit rötlichen Haaren und einem ebensolchen Oberlippenbart schrie im Stakkato: »Wo ist euer Geld? Wo ist euer Geld?« – »Wir haben kein Geld«, gab mein Vater zaghaft zurück. »Nur ein paar Münzen.« Meine Mutter schrie der Polizist aus kürzester Distanz an: »Gib mir deinen Schmuck!« Ethel holte ohne zu zögern eine goldene Uhr und eine Perlenhalskette aus einer Schublade, die der zweite Polizist in einen Sack stopfte. Danach griff sich der große Polizist mit dem Bart rüde Mutters Hand und versuchte, ihr den goldenen Ehering vom Finger der linken Hand zu ziehen. Doch der Ring saß fest, er schien sich nicht lösen zu lassen. Der Polizist packte noch einmal zu und nahm ihn sich mit roher Gewalt. Dann lachte er laut und feist: »Da wo ihr hingeht, braucht ihr das nicht mehr.« In Mutters Gesicht stieg die Wut auf, das konnte Meir beobachten, der neben Vater nicht weit von ihr entfernt stand, aber sie sagte kein Wort. Wir Schwestern kauerten am Boden, nur, wo war ich mit meinen Augen und Ohren, meinen Gedanken? Bekam ich das alles nicht mit? Je lauter die Polizisten brüllten, desto leiser wird meine Erinnerung. Habe ich am Ende einfach den Ton abgedreht, weil das, was ich sah und hörte, mich zutiefst erschütterte?

Der zweite Polizist, Meir beschrieb ihn uns als einen kleinen Dicken mit haarigen Unterarmen, sah einen silbernen Kerzenleuchter auf dem Esstisch stehen, ein Erbstück von Ethels Großmutter, und packte ihn ebenfalls mit einem Handgriff in den Sack. Der Leuchter war ein Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern, jetzt kannte Mama kein Halten mehr. Tränen kullerten ihr über die Wangen, Fivish griff nach ihrer Hand und versuchte sie zu trösten. Meir konnte sogar hören, was er zu ihr sagte: »Weine nicht um Dinge, die es nicht wert sind. Wenn sie nur alles mitnehmen und dafür die Kinder und uns in Ruhe lassen, ich würde lachen und den Allmächtigen preisen bis zum Ende meines Lebens.« Mama schaute erst zu Papa hoch und dann zu uns Kindern herüber, die wir uns am hinteren Ende des Raumes an die Wand drückten. Ihr Anblick muss seltsam entrückt gewesen sein. Die Augen todtraurig, der Mund wütend, im Gesicht ein Lächeln aufgesetzt, um die Polizisten milde zu stimmen. So beschrieb Meir sie uns aus seiner Erinnerung heraus. Der kleine, dicke Polizist packte den Sack mit den Wertsachen, der große mit dem Schnauzer herrschte uns weiter an: »Was steht ihr herum? Was trödelt ihr so? Packt eure Koffer und macht euch auf den Weg zur Synagoge. Ihr habt höchstens noch zwei Tage Zeit!« Danach verließen die Polizisten das Haus und schmissen die Haustüre krachend ins Schloss. So hat Meir den Vorfall erlebt und später für uns alle niedergeschrieben. Unsere Eltern müssen geschockt gewesen sein. Die Frage, die ich mir bis heute aber immer wieder stelle, ist: Was genau wussten sie?

In den Wochen und Monaten zuvor hatte Papa immer mal wieder davon gesprochen, ins Gelobte Land, Eretz Israel, auswandern zu wollen Einmal habe ich zufällig ein Gespräch zwischen ihm und Mama mit angehört. Mich hat das Ganze verwundert, bislang war davon noch nie zuvor die Rede gewesen. Papa meinte zu Mama, er wolle aus religiösen Gründen auswandern, das gehöre sich so für einen gläubigen Juden. Heute bin ich mir fast sicher, dass seine Begründung nur vorgeschoben war. Er musste gewusst haben, dass seine Familie, wenn sie hier in Europa bliebe, in große Gefahr kommen würde. Das historische Land Israel dagegen, damals Teil des britischen Mandatsgebietes Palästina, wäre für uns alle die Rettung gewesen. Das weiß ich heute in der Rückschau. Ich weiß aber nicht, ob Papa Mama damals alles erzählte, ich weiß auch nicht, was Mama, eine sehr intelligente Frau, sich selbst zusammenreimen konnte. Ethel jedenfalls, und das war Fakt, wollte nicht weg aus ihrer rumänischen Heimat, die jetzt zu Ungarn zählte. Vor allem wollte sie ihre Eltern in Munkatsch nicht alleine zurücklassen. Und als auch noch der Rabbi dagegen war, war der Plan offenbar vom Tisch. Chassidische osteuropäische Rabbiner sind nicht selten ultraorthodoxe, anti-zionistische Vertreter ihrer Zunft, und so war der Rabbi aus Munkatsch der Meinung, dass ein wahrhaft Gläubiger auf Erden auf den Erlöser warten müsse. Wer nicht warten könne, sei nicht würdig, nach Eretz Israel geführt zu werden. Und so blieb die Familie Cahana in Unterwischau, mit allen Konsequenzen, die sich daraus für sie ergaben.

Als die Polizisten das Haus verlassen hatten, herrschte im Haus Totenstille. Das Pessachfest war für uns vorbei. Warum sollten wir zur Synagoge? Warum durften wir nicht im eigenen Haus bleiben? Was hatte man mit uns vor? Das waren die offenen Fragen, die jetzt auch wir Schwestern hatten. Ich sah, wie Mutter ohne ein Wort in die Küche ging und damit anfing, die verbliebenen Wertsachen, das letzte Geld in den frisch gebackenen, aufgegangenen Brotlaib zu stecken. Das an Pessach verbotene Brot als Versteck für das, was uns noch geblieben war. Ethel war immer noch tief verletzt und sehr wütend. Vater erklärte uns Kindern, wir sollten nach oben gehen und das Nötigste packen, wir würden verreisen. Die letzten Stunden in unserem Haus waren angebrochen.

Das Wertvollste, das ich in meinen kleinen Koffer legte, war ein großes Geheimnis. Postkarten von einem süßen Jungen aus Budapest, vom dem meine Familie bis dahin keine Ahnung hatte. Heute würde ich sagen, er war mein erster Freund, der erste Junge, mit dem ich Händchen hielt und vom dem ich mir einen Kuss erträumte. Er war 17, also gut zwei Jahre älter als ich, und seine Großeltern lebten in Unterwischau, wo er sie oft besuchte. So hatten wir uns kennengelernt. Wenn er mit dem Zug aus Budapest kam, holte ich ihn am Bahnhof ab, wir gingen am Fluss spazieren und träumten uns ganz weit weg. Auf der Rückseite seiner Postkarten standen bezaubernde Komplimente, die mir so guttaten, nach all den rüden Beschimpfungen in der Schule und dem Vorfall mit der mir unbekannten Tante, der mich so sehr getroffen hatte. Für ihn war ich kein hässliches Entlein, sondern das schönste Mädchen der ganzen Welt. Seine Postkarten waren der Stoff, aus dem meine Träume waren. Das Drehbuch einer glücklichen, gemeinsamen Zukunft, die wir so nicht haben sollten.

Neben seinen Postkarten und meiner Kleidung packte ich nur noch meine Jongliersteine dazu. Mehr hatte ich auch gar nicht. Als ich vor etwa zehn Jahren noch einmal mit einer Delegation nach Auschwitz reiste, wollte ein Mädchen aus meiner israelischen Schülergruppe wissen, mit was ich in Auschwitz gespielt hätte, ich sei ja schließlich noch ein halbes Kind gewesen im Lager. Als ich daraufhin sagte, dass ich im Leben kein einziges echtes Spielzeug besessen und auch als kleines Mädchen nie mit Puppen gespielt hätte, ging sie in den Souvenirshop, kaufte einen Stoffhund und schenkte ihn mir. »So, Ihr erstes Spielzeug«, sagte sie zu mir und umarmte mich. Und ich antwortete: »Und das mit 82 Jahren.« Ich war zu Tränen gerührt.