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PAPA

Mein Vater Fivish genoss unter den gläubigen Juden im Ort den Ruf eines weisen, gerechten, unabhängigen Mannes. Er war der Inbegriff des erlichen Yid, eines ehrlichen Juden also, wie es im Jiddischen heißt. Einer der Gründe, warum die Gemeinde ihn zu ihrem Ortsvorsteher und Oberhaupt wählte. Bei Meinungsverschiedenheiten untereinander riefen sie Fivish als Vermittler und Richter und er schaffte es regelmäßig, ihre Streitigkeiten zu schlichten. Jeder wusste, dass er ein unbestechlicher Mann war, der zu jeder Zeit objektiv und neutral bleiben würde, egal wie nahe er einem der Streithähne auch stand. Fivish war von Beruf Händler. Im Sommer exportierte er, zusammen mit einem Geschäftspartner, im großen Stil Äpfel weiter nach Westeuropa, die saftigen Früchte wuchsen zu Tausenden an den Obstbäumen der hügeligen Maramures-Region und fanden dort klimatisch perfekte Bedingungen vor. Im Winter und später, als der Krieg ausbrach, handelte er mit Holz, das in den umliegenden Wäldern der Karpaten ebenfalls reichlich zu finden war. Holz wurde zu der Zeit als wichtiges Kriegsmaterial eingestuft und war deshalb sehr gefragt. Einmal habe ich ihn bei den Abholzarbeiten begleitet, obwohl diese nicht ganz ungefährlich waren, wie man sich denken kann. Die gefällten Baumstämme wurden mit dicken Stricken zusammengebunden und flussabwärts Richtung Unterwischau getrieben. Ich durfte mich auf das schwimmende Holz setzen und fühlte mich stolz wie eine Floßkapitänin, die das wertvolle Treibgut sicher an den Ort seiner Bestimmung bringen würde. Es waren Erlebnisse wie diese, die bleibende Bilder meiner frühen Kindheit schufen.

In jenen Jahren war ich das, was man ein Papakind nennt. Ich bewunderte seine ruhige, besonnene, liebevolle Art. Wenn wir uns tagsüber zufällig im Hof begegneten, strich er mir mit seiner Hand über mein Haar und meinen Kopf, nur beiläufig und ohne viel zu sagen. Dann lächelte er mich an und ging weiter. Seine Aufmerksamkeit für mich war spürbar, die Güte in seinen Augen, all das bedeutete mir viel. Das erklärt vielleicht auch, warum ich von allen vier Geschwistern das mit Abstand religiöseste Mädchen wurde. Ich eiferte ihm nach, ich wollte ihm gefallen. Ich liebte es, am Sabbat und an den Feiertagen mit ihm in die Synagoge zu gehen und kannte alle Lieder und Gebete auswendig. Papa hat sich tief in mein Wesen eingegraben. Bis heute fühlt es sich so an, als wäre er bei mir. An manchen Tagen kann ich ihn regelrecht spüren. Wie einen Schutzengel, der auf mich aufpasst. Dann stelle ich mir vor, wie er auf meiner Schulter sitzt. Wenn ich unsicher oder traurig bin, flüstert er mir eine Aufmunterung ins Ohr und macht mich wieder zuversichtlich und stark. Bis heute bin ich Daddys Mädchen geblieben.