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SCHMUTZ

Ende September 1944 sollten wir Auschwitz verlassen. Die viereinhalb Monate dort kamen mir vor wie vier endlose Jahre, in denen die Jahreszeiten ausgelöscht waren. Der Himmel zeigte sich in einer einzigen konturlosen Graustufe, es fehlten Licht und Farbe, jede Helligkeit und Wärme, es fehlten jeder Sinn und Inhalt. In den letzten Wochen unseres Aufenthalts sahen wir immer wieder Flugzeuge über dem Camp kreisen und wir Schwestern wandten uns flehentlich nach oben: »Bitte, bitte, lasst Bomben auf diesen Platz regnen!« Wir wären alle gestorben, es wäre uns egal gewesen. Auschwitz musste zerstört werden, dafür hätten wir unser Leben gern gelassen. Es wäre ein Schlussstrich gewesen, der Klarheiten geschaffen hätte. Lieber ein Schrecken mit Ende …, Sie kennen den Spruch. So aber wusste auch weiterhin keine von uns, was als Nächstes kommen würde. Keine wusste, ob sie den Nachmittag, den Abend, den nächsten Tag überstehen würde oder die nächste Woche. Jede Selektion konnte unsere letzte sein. Ein Leben wie Malen nach Zahlen, man bewegte sich von einem Punkt zum nächsten, nur dass am Ende das große Bild nie erkennbar wurde, weil von vornherein jeglicher Sinnzusammenhang fehlte, da das Ziel ausschließlich in unserer Vernichtung bestand.

Wenn dem Menschen jegliche Perspektive fehlt, auf die er hinarbeiten, hinleben kann, für die sich zu leben lohnt, dann beginnt er zu resignieren. Das, was ihn ausmacht, was ihn ausfüllt, wird zur bloßen Fassade; der innere Kern, sein Herz, sein Verstand, in Summe seine Menschlichkeit beginnt zu verfaulen. Er lebt wie ein Tier, nur mit ein paar letzten Restfunken Reflexion versehen, die ihn am Ende noch schmerzlicher stürzen lassen als jedes Tier. Einfach weil er tief in sich weiß, was noch möglich gewesen wäre. Tiere sind Instinkt-, aber keine reflexiven Wesen, sie haben schlicht keine Ahnung, keine Vorstellung von sich selbst, von ihrer »Persönlichkeit«, ihren Talenten, ihren Grenzen. Der Mensch im Konzentrationslager gibt auf, er lässt sich gehen, er vegetiert vor sich hin. Der österreichische Psychoanalytiker Viktor E. Frankl hat das nach seiner Auschwitz-Erfahrung genauso beschrieben, wie ich es selbst auch erlebt habe: Wie ich mich nach einiger Zeit in Auschwitz nicht mehr gefühlt habe. Ich habe nicht einmal mehr gespürt, dass ich nichts mehr fühlen konnte. Heute in der Rückschau wundere ich mich selbst, dass ich all das mitgemacht habe, dass ich einfach alles erduldet habe, ohne Widerrede, ohne Trotz, ohne Wut, aber es war so. Verstehen kann das nur, wer selbst im Lager war. Die Nazis haben sechs Millionen Juden getötet, aber davor haben sie sie zermürbt und zerrieben wie in einem riesigen Mörser. Ein Menschenmörser, nichts anderes war Auschwitz, dort haben sie uns unsere Würde, unsere Fantasie, unser Aufbegehren genommen, die uns doch erst zu Menschen machen und vom Tier unterscheiden.

Nach der Befreiung gab es Ende der 1940er-, Anfang der 1950er-Jahre im neu gegründeten Israel immer wieder Diskussionen darüber, warum wir uns nicht gewehrt haben, warum wir so mutlos gewesen waren, warum wir uns wie Schafe zur Schlachtbank haben führen lassen. Die Kritik richtete sich in erster Linie an die Überlebenden, aber auch unseren ermordeten Vater hat man persönlich dafür verantwortlich gemacht, seine Familie nicht besser geschützt und verteidigt zu haben. Wie konnten sie ihm nur so unsinnige Vorwürfe machen? Ich war wütend über diejenigen, die nicht dabei gewesen waren und sich dennoch ein Urteil erlaubten. Es waren unsere eigenen Leute, die uns Nachlässigkeit und Schwäche vorwarfen, ohne die Situation auch nur im Ansatz zu verstehen, ohne zu begreifen, wie unentrinnbar wir in der Falle saßen. Sie hatten keine Ahnung und sie beschämten uns ein weiteres Mal, so als hätte das, was die Nazis uns angetan hatten, noch nicht gereicht. Die Nazis hatten die Vorstellungskraft derer manipuliert, die von Krieg und Lagern verschont geblieben waren, und noch schlimmer, sie hatten sogar unsere eigene Vorstellungskraft manipuliert. Wie oft habe ich mir in den Jahren danach selbst gedacht, sie müssen uns ein Beruhigungsmittel in die Suppe getan haben, sonst hätten wir ja aufbegehrt und eine Revolte vom Zaun gebrochen. Warum haben wir nicht?

Eines Morgens, Ende September, wurde uns befohlen, den Viehzug an der Rampe in Auschwitz-Birkenau zu besteigen. Wir wurden nicht gefragt, ob wir das wollten, niemand sagte uns, wohin man uns bringen würde, wir hatten nichts zu packen, weil wir nichts weiter besaßen als das, was wir am Körper trugen. Den Mann mit dem schönen Gesicht und den täglich neu polierten schwarzen Lederstiefeln ließen wir zurück. Mengele hatte uns persönlich nichts getan, keine Experimente an uns durchgeführt wie an so vielen anderen, wie ich später erfuhr, uns am Ende nicht in den Tod geschickt, aber seine ausgefeilte Freundlichkeit an einem menschenverachtenden, todbringenden Ort wie diesem hier, musste jeden frösteln lassen, in dessen Brust noch ein Rest an Gefühl bestehen geblieben war. Ich war froh, endlich von ihm weg zu sein. Als Essensration für die, wie sich herausstellen sollte, mehrere Tage dauernde Zugfahrt Richtung Deutschland bekamen wir, die Auschwitz-Ausgehungerten, ungekochte Reiskörner, etwas Kaffeepulver und Zucker zugesteckt, jeweils in der Mengengröße eines Teelöffels. Viel mehr musste man über die Grausamkeit der SS nicht wissen. Offenbar machten sie sich einen Spaß daraus, dass wir Hunger litten und unser »Proviant« ohne heißes Wasser im Zug völlig nutzlos war. Zwischendurch hielten wir einmal kurz an einem deutschen Bahnhof. Das Wachpersonal im Zug waren SS-Leute, die uns provozierten und beschimpften. Einer bedrohte uns mit seiner Pistole. Daraufhin forderte er Sarah auf, ihm ein Lied zu singen. Sarah war sehr hübsch, offenbar gefiel sie ihm. Wenn sie es täte, würde er uns in Ruhe lassen, behauptete er. Und tatsächlich kannte Sarah ein deutsches Volkslied, das sie in Munkatsch öfter im Radio gehört hatte, und begann zu singen. Der Soldat war sichtlich überrascht, damit hatte er wohl nicht gerechnet. Um sich vor seinen feixenden Kameraden nicht zu blamieren, ließ er irgendwann von ihr ab. Wieder einmal hatte Sarah uns Schwestern aus einer brenzligen Situation gerettet.

Am Zielbahnhof angekommen, mussten wir das letzte Wegstück durch einen kleinen Wald zu Fuß gehen. Wie sich nun zeigte, waren wir zum Konzentrationslager Bergen-Belsen transportiert worden. Bergen-Belsen war erträglicher als Auschwitz, aber ein »Erholungslager«, wie manche es nannten, so weit würde ich dennoch nicht gehen. Das Lager galt Mitte 1944 als Verteilerstation für arbeitsfähige weibliche Häftlinge. Damals wusste ich das nicht, auch wenn es immer wieder Andeutungen vonseiten der SS gab, dass das Deutsche Reich auf unsere Arbeitskraft nicht verzichten konnte. In Bergen-Belsen war es deutlich kälter als in Polen, trotzdem wurden wir nicht in einer Baracke, sondern in einem riesigen Schützenzelt untergebracht, in dem es rein gar nichts gab. Kein Licht, keine Waschräume, keine Toiletten, dafür Löcher im Boden als Latrinenersatz. Ein Dutzend solcher Volksfestzelte standen dicht an dicht nebeneinander, nur dass sie diesmal eben nicht das Volk beherbergten, sondern den Volksfeind: uns Juden. In meiner Erinnerung mussten wir im Lager klammes Stroh sammeln, auf dem wir schlafen konnten, es hatte offensichtlich seit Tagen nachts draußen gelegen. Allerdings, und das war ein großer Unterschied zu Auschwitz, in Bergen-Belsen konnte man den Himmel sehen, er war blau und das Gras war grün und nicht grau und es stank auch nicht nach verkohlten Hähnchenknochen.

Auch Bergen-Belsen war ein typisches deutsches Konzentrationslager, allerdings eines, in dem zivilisatorische Errungenschaften vorkamen, die Auschwitz völlig fremd waren. Löffel und Geschirr zum Beispiel. Außerhalb des Zelts gab es einen Wasseranschluss, an dem ein Schlauch befestigt war. Drehte man den Hahn auf, kam kaltes, sauberes Wasser heraus. Eine Fata Morgana mitten in der deutschen Wüste. Sauberes, fließendes Wasser, auch das hatte es in Auschwitz nicht gegeben. Das fiel mir aber auch jetzt erst auf, wo ich wieder darauf zugreifen konnte. Ich fühlte mich wie im Hilton und wusch mir, gefühlt stundenlang, Gesicht und Hände. Tatsächlich war das streng reglementiert. Noch Jahre später fragte ich mich selbst: Wie hatte ich mich in Auschwitz ohne fließend Wasser überhaupt waschen können? Wie ging das? Es gab, natürlich, auch kein Toilettenpapier im Lager. Zur Säuberung nach Verrichtung unserer Notdurft mussten wir uns an unseren Häftlingsuniformen schadlos halten. Ein Experiment, das ich nicht zur Nachahmung empfehlen kann. Wer sich tagtäglich derart schmutzig machen muss, dass er sich vor sich selbst ekelt, ist der noch Mensch? Fühlt er sich noch so? Ist die Scham darüber der Grund dafür, dass ich mich überhaupt nicht erinnern kann, in Auschwitz auch nur ein einziges Mal auf der Toilette gewesen zu sein? Ich weiß, es gab in unserem Block am hinteren Ende einen Raum mit Latrinen, aber war ich da auch nur ein einziges Mal drin? Kann man die Erinnerung an ein solch existenzielles, unleugbares menschliches Bedürfnis wie eine Toilette einfach so ausradieren? Auschwitz konnte.

Wenn mich meine Schwestern nach unserer Ankunft in Bergen-Belsen suchten, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich am Wasserschlauch hing, um mich zu waschen. Ich wollte den Auschwitzdreck und den Auschwitzgestank von mir abwaschen. Es war in etwa so wie man das aus Hollywoodfilmen kennt, wenn sich das Opfer nach einer erlittenen Vergewaltigung stundenlang duscht, um in größter Verzweiflung seine Schändung und Beschmutzung abzuwaschen, in der Hoffnung, danach sei alles wieder so wie es vorher war. Doch auch den Auschwitzdreck konnte ich nicht abwaschen, das Erlebte blieb an mir haften und kleben wie ein eingetretener Kaugummi an der Schuhsohle. Ich wusch und wusch mich und blieb doch schmutzig und voller Scham.

Unser Schlafplatz war das auf Holzplanken verstreute Heu. Wir mussten ihn uns diesmal zu viert teilen, was uns Schwestern entgegenkam. Zu den vier jungen Frauen, die den Platz neben uns besetzten, gehörte Eva, mit der ich mich in den ersten Tagen im neuen Lager angefreundet hatte. Die aufgeweckte Eva kam ebenfalls aus Rumänien, war etwa gleich alt wie ich und wir verstanden uns auf Anhieb. Wir machten uns gegenseitig Mut und träumten davon, endlich nach Hause zu dürfen. Bei aller Gewalt, die auch sie erlebt hatte, war sie ein ebenso freundlicher wie liebenswerter Mensch geblieben. An einem Morgen kam eine der Frauen, mit denen Eva sich den Schlafplatz teilte, auf die Idee, das Handtuch, das man zu viert benutzen musste, in vier etwa gleich große Stücke zu zerschneiden. Niemand dachte sich groß etwas dabei, es war nur ein Handtuch. Als ein SS-Offizier ins Zelt kam und das zerschnittene Stück Stoff sah, brüllte er sich auf der Stelle in Rage. »Ihr habt das Eigentum des Deutschen Reichs zerstört!«, bellte der SS-Mann, als hätten sie ein Kapitalverbrechen begangen. Dann nahm er ohne weitere Vorwarnung seine Pistole aus dem Halfter und richtete sie aus allernächster Distanz auf die Köpfe der vier Frauen. Der letzte Schuss traf Eva mitten ins Gesicht. Blutüberströmt sackte sie vor mir zusammen. Es war das erste Mal, dass ein Mensch unmittelbar vor meinen Augen ermordet wurde. Es war nichts anderes als das: eine Hinrichtung. Für den SS-Mann schien es offenbar Routine zu sein, er verließ den Ort des Verbrechens, als wäre nichts weiter geschehen. Ich beugte mich zu Eva hinunter, berührte sie an den Armen, sie war noch ganz warm, womöglich atmete sie noch. Aber ich wusste nicht, ob sie tatsächlich noch am Leben war und was ich für sie tun konnte. Ich flüsterte ihren Namen: »Eva«, »Eva«, die Tränen schossen mir aus den Augen und fielen auf ihren leblosen Körper. Tränen sind Leben, aber meine Tränen konnten sie nicht mehr zum Leben erwecken. Als der Schock eintrat, trennte er mich und meine Gefühle von der Außenwelt. Gerade hatten wir uns noch unsere Zukunft in Freiheit ausgemalt, schon jetzt hatte Eva keine mehr. Keine Freiheit mehr und keine Zukunft.

Etwa zum gleichen Zeitpunkt knackte und dröhnte die Lautsprecheranlage. Eine männliche Stimme forderte alle Frauen im Befehlston auf, sich für den nächsten Zählappell aufzustellen. Sarah zerrte mich am Arm und redete auf mich ein. »Rachel, wir müssen los! Vergiss nicht, was wir Mutter versprochen haben. Du erinnerst dich?« Natürlich erinnerte ich mich, wie hätte ich das vergessen können. Es war das Letzte, was Mama zu uns gesagt hatte, bevor sie ins Gas ging. Damals hatte ich nicht verstanden, was sie damit meinte, aber hier und jetzt ergaben ihre Worte plötzlich Sinn: »Wenn sie dir sagen, du sollst arbeiten, dann wirst du freiwillig und gerne arbeiten. Du tust, was sie dir sagen!« Das waren ihre Worte. In Bergen-Belsen gab es keine Arbeit für uns, aber wir mussten funktionieren. Wir mussten tun, was sie uns sagten, sonst würden wir sterben. Mama hatte das früher verstanden als jede Einzelne von uns.

Und dennoch: Wie konnte ich Eva, meine neue Freundin, einfach so zurücklassen? Ich schrie jetzt hysterisch herum, ich schrie Sarah und meine Schwestern an. »Wir können sie doch so nicht liegen lassen! Wir müssen ihr helfen!« Immer wieder: »Wir müssen ihr helfen!« Sarah packte mich an den Schultern, wir waren spät dran, ihre Worte überfuhren mich regelrecht, wie so oft: »Wir können ihr nicht mehr helfen! Es ist zu spät! Denk jetzt an Mama, sie hat es so gewollt.« Dann zog sie mich aus dem Zelt hinüber zum Appellplatz. Hätte uns ein SS-Mann länger als erlaubt im Zelt angetroffen, hätte uns allen Evas Schicksal blühen können. Wieder einmal hatte Sarah gewusst, was richtig für uns war, wieder einmal hatte sie uns rechtzeitig in Sicherheit gebracht und unser Leben gerettet. Aber der Verlust dabei war gewaltig. Der Verlust eines geliebten Menschen, der Verlust der eigenen Menschlichkeit ist ein großes Opfer.