RACHEL

Von Omer Meir Wellber

Wir sind gemeinsam durch Treblinka gegangen, ich erinnere mich noch sehr gut, ich hörte Wagner auf meinem CD-Player. Langsam kamen wir uns näher und sie fragte mich, was ich höre, ich sagte, irgendeine Musik, sie fragte, was für eine, ich sagte Wagner, ich glaube Tristan, ich bin mir nicht sicher, sie war neugierig, ich erzählte ihr, dass ich Musiker bin, ein 17-jähriger Musiker, der Klavier spielt und eigene Musik schreibt, sie sagte, sie mag Wagners Musik, sie verstehe den Boykott seiner Musik nicht, oder jeden anderen Boykott von Kultur, ich war überrascht, denn bis dahin genoss ich insgeheim das Gefühl der verbotenen Frucht, wenn ich als Israeli seine Musik hörte, wir fingen an zu reden und hörten nicht mehr auf, es war eine besondere Beziehung zwischen einem 17-jährigen Schüler und einer Holocaust-Überlebenden. Als sie als Mädchen ins Lager kam, war sie etwas jünger als ich zum Zeitpunkt unseres Treffens. Auch die Gedenkstätte Auschwitz besuchten wir gemeinsam, sie zeigte uns, wo sie schlief, wo sie auf die Toilette ging, was man machte, wenn man kein Toilettenpapier hatte, wie man sich nachts warm hielt. Ich nahm ein Blatt vom Boden, ein trockenes Blatt, eines, das Erinnerungen speichert, erst vor ein paar Tagen habe ich es meiner sechsjährigen Tochter gezeigt, als wir nach der Trennung von meiner Partnerin in eine neue Wohnung gezogen sind, ich habe ihr nicht erklärt, woher ich es habe, ich habe ihr nur gesagt, dass es viele Dinge in mir wachhält, ich bin mir nie sicher, wann ich mit meiner Tochter das erste Mal über den Holocaust sprechen soll, soll ich ihr unser kollektives Trauma ersparen? Ist das überhaupt möglich? Rachel meint, das sei unmöglich, es sei aber möglich, daraus zu lernen und zu lächeln und zu verzeihen, sie habe es geschafft, ihr Leben genauso zu leben, nachts von Dr. Mengele träumen und tagsüber an Vergebung glauben. Kann ich bei dir übernachten? Ich fragte sie das einmal, ich fuhr als Teenager zu einem Treffen junger Komponisten in Haifa, sie nahm meinen Freund Dan und mich bei sich auf, ich hatte noch nie bei einem Holocaust-Überlebenden übernachtet, und es war ganz ähnlich wie an jedem anderen Ort, an dem ich bisher war, ich träumte nachts nicht von Mengele, sie bereitete uns Frühstück und kochte Kaffee, wie sie es immer tut, die Krönung unseres Besuchs waren die köstlichen mit Reis gefüllten Weinblätter, mein Lieblingsgericht, das sie jedes Mal zubereitet, wenn ich zu Besuch komme, sie brachte mir sogar welche nach Sde Boker mit, wohin sie kam, um ein Konzert anzuhören, das ich für sie geschrieben habe, ein Bratschenkonzert, das auf den musikalischen Intervallen basiert, die sich aus der Nummer auf ihrem Arm ergeben, 13561 – A, C, E, F, A, die ich mir Jahre später in Berlin auf meinen Arm tätowieren ließ, sie nimmt ein Foto in die Hand, das an ihrem Kühlschrank hängt, und zeigt mir ihre Enkel, die geheiratet haben, die ihren Armeedienst absolviert haben, Stolz in ihrer Stimme, sie hört auf jedes Wort, das fällt, wohl wissend, dass alles zählt, dass das Leben aus vielen Kommas besteht und nur wenigen Punkten.

Omer Meir Wellber

Der israelische Dirigent aus Be’er Scheva, geboren 1981, Musikdirektor der Volksoper Wien und des Teatro Massimo in Palermo, lernte Rachel Hanan 1998 als Schüler auf einer Delegationsreise nach Auschwitz und Treblinka kennen, seitdem sind beide befreundet.