Nach etwa vier Wochen im Lager kam der tschechoslowakische Soldat auf uns zu, er hatte eine Zugverbindung ausfindig gemacht, mit der wir von Theresienstadt nach Unterwischau kommen konnten. Täglich um Mitternacht, so erzählte er uns, ging ein Zug, den das Rote Kreuz als Hilfstransport organisierte, zuerst nach Prag. Später gab es auch Züge nach Bratislava, Wien oder Budapest. Manche der ehemaligen Häftlinge legten sich Stunden vorher auf die Dächer der völlig überfüllten Züge, um ja die Abfahrt nicht zu verpassen. Der Soldat, der inzwischen unser Freund geworden war, nahm Fronturlaub und wollte uns in die Heimat begleiten. Es sei ihm ein persönliches Anliegen, uns sicher nach Hause zu bringen, sagte er. Unser Zug war zunächst nur halb voll, je länger wir unterwegs waren, desto mehr russische Soldaten stiegen zu, manche von ihnen sichtlich alkoholisiert. Irgendwann war es rappelvoll. Unterwegs fuchtelten die betrunkenen Russen vor unseren Augen mit ihren Waffen herum, sie hatten offenbar Lust uns zu quälen. Unser tschechischer Soldatenfreund versuchte, seine Armeekollegen zu beschwichtigen – vergebens. Zunächst hatten wir Angst, dass die Soldaten uns etwas antun oder uns gar vergewaltigen könnten, was im Lager in den Tagen nach der Befreiung offenbar häufig passiert war, zumindest hatte es sich wie ein Lauffeuer unter den befreiten weiblichen Häftlingen in Theresienstadt herumgesprochen. Während eines Haltestopps an einem Bahnhof öffnete ein sehr aggressiv auftretender russischer Soldat ein Abteilfenster und forderten uns auf, sofort auszusteigen. Wir sollten uns der Reihe nach durch die Öffnung zwängen, und als es ihm nicht schnell genug ging, schubsten sie uns der Reihe nach hinaus. Ich stürzte auf den Bahnsteig und schürfte mir die Knie auf, aber kriegsentscheidend war das schon lange nicht mehr. Warum diese Russen, immerhin unsere Befreier, sich so verhielten und wir in ihrem Verhalten kaum einen Unterschied zu deutschen Nazis erkennen konnten, auch das bleibt mir ein Rätsel. Am Ende dieses Krieges war jegliche Humanität großflächig und auf allen Seiten verwüstet worden. Nur Einzelne, wie unser tschechischer Freund, gaben mit ihrem Großmut und ihrer Herzlichkeit ein Vorbild dafür ab, dass der Mensch auch ganz anders kann. Tatsächlich mussten wir vier Schwestern froh sein, dass es nicht noch schlimmer gekommen war. Ich persönlich glaube, dass wir vier abgemagerte Knochenständer selbst diesen berauschten russischen Soldaten viel zu hässlich waren, als dass sie noch auf die Idee gekommen wären, sich an uns zu vergehen. Ich danke Gott dafür, dass uns wenigstens das erspart blieb. So warteten wir also auf die nächste Verbindung. Nach einem Jahr in Gefangenschaft und fern der Heimat, was machte es da jetzt noch für einen Unterschied, ob wir unser einstiges Zuhause einen Tag früher oder später erreichen würden.
Insgesamt waren wir vier Tage unterwegs, ich habe nicht mitgezählt, wie oft wir umgestiegen sind. Im Nirgendwo, im Grenzgebiet irgendwo zwischen Ungarn und Rumänien, warteten wir spät nachts an einem Bahngleis auf unseren Anschlusszug und erreichten am Nachmittag darauf den Bahnhof von Unterwischau. Mir kam mein erster Freund aus Budapest wieder in den Sinn, dem ich hier so oft in die Arme gefallen war und von dem ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass ich ihn noch ein allerletztes Mal sehen würde. Auch die Bilder unserer furchtbaren Deportation schossen mir durch den Kopf. Der Bahnhof war nicht weit von unserem Haus entfernt, wir vier und unser Begleiter gingen den Weg zu Fuß. Bedächtig und vorsichtig, so als wollten wir, die Cahana-Schwestern, niemandem verraten, dass wir heimlich und in aller Stille in unser Dorf zurückgekehrt waren. Als hätten wir immer noch Angst vor den ungarischen Polizisten, die hinter der nächsten Straßenecke auf uns lauern könnten, um uns postwendend wieder ins Lager zurückzuschicken. Aber hinter der nächsten Ecke warteten keine Polizisten mehr. Und doch war es eben kein Rennen und Schreien vor Glück, weil das Wiedersehen mit den geliebten Eltern in greifbarer Nähe gewesen wäre, sondern ein in sich gekehrtes Anschleichen von hinten an unsere Vergangenheit. Was wäre überhaupt noch so, wie wir es einst kannten und in Erinnerung hatten? Was genau hatten wir realistischerweise zu erwarten? War es völlig ausgeschlossen, dass Mama und Papa nicht vielleicht doch überlebt haben könnten? Gab es unser Elternhaus noch? Wohnte jemand anderes darin oder war es geplündert oder gar abgerissen worden? Und wenn es kein Haus mehr gab, das nach Leben duftete und in dem italienische Arien erklangen, die über die Lippen meiner Mutter kamen, was dann? Wie groß würde die Leerstelle sein, mit der die Gegenwart unsere Vergangenheit überschreiben würde? Die Angst davor, endlich alles zu erfahren, nahm unserem letzten Weg nach Hause jede Freude und Leichtigkeit. Und dann, ein paar Ecken weiter, ein paar Gedankensprünge später, standen wir endlich doch vor unserem geliebten Elternhaus.
Es war noch da!
Ich holte tief Luft, dann klopften wir an der Haustür, die beinahe gleichzeitig aufging. Wie aus dem Nichts stand unser ältester Bruder Meir vor uns. Meir, der neben Papa unserer Familie immer Halt und Trost gewesen war. Der stets zu wissen schien, was zu tun war. Gott sei Dank, auch er hatte überlebt. Meir hatte uns bereits durch das Fenster beobachtet und die Straße herunterkommen sehen. Ein Cousin unseres Vaters stand neben ihm. Wir umarmten uns, wir wollten uns gar nicht mehr loslassen. Wir waren nicht die Einzigen, die davongekommen waren.
Meir war nur wenige Stunden vor uns im elterlichen Haus angekommen. Er hatte den Krieg in diversen Arbeitsbataillonen in Ungarn und Deutschland überlebt und war im KZ Buchenwald befreit worden. Danach hatte er sich einem Transport befreiter Häftlinge der Alliierten angeschlossen, der ihn zurück in seine Heimat nach Rumänien bringen sollte. In Budapest legte er einen Zwischenstopp ein, um sich in ein zentrales Register für die Opfer des Holocaust einzutragen. Er wusste nicht, ob er der einzige Überlebende seiner Familie war und suchte deshalb nach unseren Eltern Fivish und Ethel, vor allem auch nach seiner innig geliebten Schwester Chaya, nach Sarah, Riku, Esther und mir, sowie Zvi und Yehuda. Die Registrierungsstelle hatte ihm offiziell bestätigt, dass unsere Eltern in Auschwitz getötet worden sein mussten, ebenso die Jungs. Von Chaya und ihrem Baby Etia fehlte jede Spur, aber wir, seine vier anderen Schwestern, so die Auskunft der Behörden, wären in Theresienstadt als Überlebende registriert worden und auf dem Weg zurück nach Hause. Meir wollte uns zuvorkommen, was ihm auch gelang.
Wir waren nach Hause zurückgekehrt und mussten doch endgültig jede Hoffnung begraben, dass wir noch eine Heimat haben würden: Unsere Eltern waren nicht mehr am Leben. Sie waren es nun nachweislich nicht mehr, obwohl wir für ihren Tod, ihre Ermordung nie einen handfesten Beweis in Händen gehalten haben. Die SS hat im Laufe ihrer Schreckensherrschaft fast alles haarklein dokumentiert, nur über die in den Gaskammern von Auschwitz Ermordeten sollte irgendwann nicht mehr Buch geführt werden. So gibt es bis heute kein Schriftstück, keinen einzigen handschriftlichen Vermerk, dass Fivish und Ethel Cahana und ihre Söhne Zvi und Yehuda in den Morgenstunden des 15. Mai 1944, an meinem 15. Geburtstag, vergast und verbrannt worden waren und ihre Asche über den Wiesen von Auschwitz-Birkenau verstreut worden ist. So musste es nach Lage der Dinge gewesen sein. Und natürlich, man müsste es gar nicht extra erwähnen, gab es damit auch keine sterblichen Überreste, die wir hätten betrauern und zu Grabe tragen können. Nur das wunderschöne Holzhaus in Unterwischau war der sichtbare Beweis, dass diese vier wunderbaren Menschen hier einmal gelebt haben mussten. Für ihren gewaltsamen Tod aber wollte niemand die Verantwortung übernehmen.
Die Nazis hatten eine perfekt geölte Mordmaschinerie aufgebaut, aber zur perfektionierten Logistik des Massentötens gehörte in den letzten Monaten des Krieges, dass eben gerade nicht mehr akkurat Buch geführt wurde. Schon das Eintragen von vier Namen in eine Liste hätte offenbar zu viel kostbare Zeit gekostet, eine Liste, die uns jetzt Gewissheit gegeben hätte. So aber ging es nur darum, das Morden um des Mordens willen weiter zu beschleunigen. Sie wollten töten, so schnell es ging, so viele wie möglich. Zeit war Tod. Man stelle sich heute eine Liste mit sechs Millionen und mehr Namen vor, dicker als Tora, Bibel und Koran zusammen. Dann hätte man wenigstens erfahren, wer und wie viele genau es waren. Ein Beweisbuch zum Abschiednehmen, zum Gedenken und Erinnern. Ein Buch mit über sechs Millionen Toten und doch ein Buch voller gelebter Leben. Aber genau das wollten die Nazis natürlich nicht. Zumindest nicht mehr, als sie den Krieg zu verlieren drohten, dass man ihre logistischen Meisterleistungen des Massenmordens auch noch haarklein hätte nachlesen und beweisen können.
Ganz leise, so als wollten wir niemanden aufwecken, schlichen wir durch alle acht Zimmer unseres leeren Elternhauses und suchten nach Mama, Papa, unseren Brüdern, so, als hätten sie sich irgendwo versteckt und wir müssten sie nur finden, dann wären sie wieder da und alles so wie früher. Tatsächlich konnte man sich im Haus gar nicht verstecken, es war leer geräumt, das fiel mir jetzt erst auf. Es gab keine Möbel mehr, auch persönliche Dinge, Familienalben, Briefe, Bilder, selbst Mamas gehäkelte Tischdeckchen – alles war weg. Offenbar hatten die Faschisten das mitgenommen, keiner rechnete mehr mit unserer Rückkehr. Bei unserer Abreise Tage später entdeckte ich im Fenster eines Nachbarhauses eine gestickte Decke, wie sie meine Mama gerne als Dekoration gefertigt hatte. War es denkbar, dass ausgerechnet unsere Nachbarn, mit denen wir über viele Jahre freundschaftlich verbunden waren, uns beklaut und womöglich unser Haus leer geräumt hatten? Die Vorstellung machte mich wütend. Aber so schockierend sie war, war das jetzt noch wichtig?
In einer Ecke in einem Zimmer im zweiten Stock lagen drei Familienfotos auf dem Boden, so als wären sie beim Abtransport der Möbel aus einer Schublade gefallen. Da lagen sie nun offenbar seit Monaten im Staub, keiner interessierte sich dafür und doch waren diese Fotos der Beweis, nach dem wir gesucht hatten: Mama und Papa und unsere Brüder Zvi und Yehuda auf einem Bild! Es hat sie wirklich gegeben! Wir setzten uns in den Staub, reichten die Bilder immer wieder im Kreis herum, erinnerten uns an die unzähligen Stunden, die wir hier gemeinsam verbracht hatten, jede von uns konnte eine andere Geschichte erzählen, die ihr wichtig war, und allmählich kamen die Gefühle zurück, die wir in Auschwitz und den anderen Lagern aussortiert hatten wie Kleider, aus denen wir herausgewachsen waren. Es war der Moment, in dem sich vier Überlebende wieder in vier Lebende zurückverwandelten, in menschliche Wesen, die fühlen und spüren konnten, was ihnen wichtig war. Wir saßen da, erzählten und weinten und schluchzten und die Tränen wollten gar nicht mehr versiegen. Drei Tage lang, so habe ich das in meiner Erinnerung abgespeichert, weinten wir um ihr Sterben und unser Überleben. Und als wir die Fassung irgendwann wiedergefunden hatten, da war klar, dass wir hier nicht mehr wohnen und weiterleben konnten, in einem Haus ohne die geliebten Menschen und voller sentimentaler Erinnerungen. Wir begriffen, dass von jetzt an jede von uns vier stark genug sein musste, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich umarmte den mir namenlos gebliebenen tschechoslowakischen Soldaten der Roten Armee, er war unser Retter, der uns befreite, der uns sicher nach Hause zurückgebracht hatte und der uns erst jetzt, wo er uns bei unserem großen Bruder Meir in Sicherheit wusste, allein zurücklassen würde. Solange es Menschen wie ihn gab, dachte ich, war noch nicht alles verloren auf dieser Welt.
Von den rund 1000 Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Unterwischau sollten 25 den Holocaust überleben. Fünf davon aus der Cahana-Familie. Die Allermeisten kehrten, so wie wir, wenigstens ein letztes Mal zurück, um Abschied zu nehmen von ihrer Heimat, ehe sie in Israel ein neues Zuhause fanden. Außer Meir war die gesamte Kernfamilie vernichtet worden. Meir trauerte auch um seine Schwester Chaya, über deren Verbleib zunächst niemand etwas wusste. Chayas Ehemann Yosef war zeitgleich mit Meir in ein Arbeitslager verbracht worden und ist, anders als Meir, nie wieder zurückgekehrt. Bis heute ist ungeklärt, was ihm zugestoßen ist. Chaya hatte bis zuletzt allein mit ihrer sechs Monate alten Tochter Etia in Großwardein gelebt, dem heutigen Oradea in Transsilvanien. Als Chayas Onkel Philip die Möbelfirma im nahen Munkatsch an die Faschisten übergeben musste, handelte er mit einem der neuen Besitzer, einem Deutschen, zu dem er einen besonderen Draht hatte, ein zusätzliches Geschäft aus. Im Frühjahr 1944, als die Massendeportationen der rund 440.000 ungarischen Juden nach Auschwitz begannen und man sich nicht mehr verstecken konnte, sollte der Deutsche Chaya und Etia über die Grenze in den unbesetzten Teil Rumäniens bringen. Meir hatte Philip für den Schmuggel der beiden eigens Geld geschickt. Zunächst lief an der Grenze alles glatt, aber dann, es war schon dunkel, bekam Etia Angst und fing an zu weinen. Die Sache flog auf, die Flucht scheiterte. Chaya und Etia wurden zusammen mit den anderen aus Oradea unmittelbar darauf nach Auschwitz deportiert.
Während der Selektion an der Rampe, das wurde Meir später von einem gemeinsamen Bekannten aus Munkatsch erzählt, der im gleichen Transport gewesen war, hatte ein SS-Mann Chaya ihr Kind aus den Armen gerissen und einer älteren Frau in die Hände gedrückt. Chaya sollte in die Gruppe der Arbeitsfähigen eingereiht werden. Etia weinte bitterlich und Chaya wollte sich unter keinen Umständen von ihrem verzweifelten Baby trennen lassen. Der Bekannte erzählte Meir, wie sehr die Umstehenden auf Chaya eingeredet hätten, ihr Kind gehen zu lassen und sich selbst zu retten. »Wir bettelten sie an«, erzählte er Meir. »Rette dich selbst!« Das Kind wäre sowieso verloren gewesen. Es war vergebens. Chaya wollte nicht leben, wenn Etia sterben musste. Sie griff nach ihrem Baby, nahm es in ihre Arme und beruhigte Etia. Beide wurden unmittelbar in die Gaskammer geführt, so erzählte der Bekannte, der selbst überlebt hatte. Etias Schrei nach Leben beim Grenzübertritt entpuppte sich als ihr gemeinsames Todesurteil. Meir brauchte lange, um den Tod seiner geliebten Schwester akzeptieren zu können.