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GESCHWISTER

So eng und einander vertraut wie im Lager in Auschwitz waren Sarah, Riku, Esther und ich im Leben danach nie wieder. Und das lag nicht nur an der räumlichen Enge und der Tatsache, dass wir uns gleichsam gedemütigt und ausgeliefert sahen und wussten, dass wir nur gemeinsam überleben konnten. Wir vier lebten, wenn man von »leben« sprechen wollte, am selben Ort, im selben Haus. Wenn man eine Holzbaracke, die für Pferde gebaut worden war als Haus und Auschwitz als gewöhnlichen Wohnort bezeichnen wollte. Wir trugen alle dieselbe Kleidung, wenn man den betongrauen grobkörnigen Einheitsstoff, den wir alle tragen mussten, als Kleidung bezeichnen wollte. Wir schliefen alle im selben Bett, wenn man bei Holzplanken und Stroh von einem Bett sprechen wollte. Wir aßen alle das gleiche Essen, wenn man lauwarmes schwarzes Wasser als Kaffee und eine Wassersuppe mit Resten von Erbsen und Kartoffeln, Holz- und Kohlestückchen und ein kleines Stück hartes Brot als Essen bezeichnen wollte. Wir schmiedeten dieselben Pläne für unser Leben, wenn der reine Selbsterhaltungstrieb, sich über den Tag zu retten, schon ein Lebensplan gewesen sein sollte. Wir hatten dieselbe Furcht vor dem Tod, wenn man das organsierte Sterben in einem Vernichtungslager als Tod und nicht, was es wohl sehr viel besser traf, als geplanten Massenmord bezeichnen wollte. Unsere vier Biografien in Auschwitz waren identisch mit den Biografien Tausend anderer. Es waren keine freiwilligen, eigenständigen und höchst persönlichen Lebensentwürfe, sondern vier Leben, die identisch gelebt werden mussten, weil andere es sich so ausgedacht hatten. Wenn das ganz normale Leben ein dynamischer, aktiver, ergebnisoffener Entwicklungsprozess war, in dem Individuen tagtäglich für sich selbst Entscheidungen trafen und unterschiedliche Wege einschlugen, dann konnte das, was in Auschwitz passierte, kein Leben gewesen sein.

Rein äußerlich konnte man uns nach vier Monaten Lager immer schwerer voneinander unterscheiden. Wir waren vier entmenschlichte Knochengestalten, die ihre dünne, blasse Haut zu Markte trugen, wir funktionierten gerade noch auf der niedrigsten Stufe des Seins, und selbst das sollte uns noch genommen werden. Das erklärte Ziel der Nazis war ja unsere Vernichtung. Wir hatten überlebt, doch einfach dort weitermachen, wo wir zuvor aufgehört hatten, wie hätte das gehen sollen? Jede von uns war von der Stoppuhr des Lebens auf null gestellt worden, jede von uns musste einen Neuanfang riskieren, der so radikal und ganzheitlich anders war und kilometerweit über die Klischeeprosa heutiger Führungskräftecoaches hinausging, dass man sich das gar nicht mehr vorstellen kann. Jede von uns musste sich trotz ihres Traumas völlig neu erfinden – nichts weniger als das. Wieder lernen, selbst Entscheidungen zu treffen und nicht Gehorsam zu leisten; wieder lernen, selbst zu wissen, was sie wollte und wohin; wieder lernen, einfach »nur« sie selbst zu sein. Also nicht nur Mensch und nicht Ding, sondern vielmehr Person, also dieser eine unverwechselbare Mensch. Wie aber geht das und war das überhaupt noch möglich? Inwiefern waren wir noch die vier, die wir vorher waren? Waren wir inzwischen nicht ganz andere geworden und nur unsere Namen verwiesen noch auf die vier Mädchen, die es einmal gegeben hatte? Wenn wir uns im Leben danach trafen, und die Rede auf unsere Zeit im Lager kam, konnten wir uns plötzlich nicht mehr auf die gleichen Geschichten einigen. Jede erinnerte anders, erinnerte sich an andere Begebenheiten, Begegnungen, Wahrnehmungen, Gefühle. Das, was nahezu identisch schien, unsere gemeinsam gemachte Erfahrung, manifestierte sich jetzt als vier unterschiedliche Dramaturgien ein und derselben Geschichte, die sich bestenfalls und mit viel Fantasie noch an den Rändern zu einem Ganzen zusammensetzen ließen. Waren wir überhaupt gemeinsam in Auschwitz gewesen? Hatten wir wirklich gemeinsam ein Jahr in nationalsozialistischer Gefangenschaft verbracht? Hatten wir jede Nacht zusammen auf derselben Pritsche gelegen? Wie war es möglich, dass wir dasselbe erlebt hatten und stellenweise völlig anders erinnerten? Was war echte Erinnerung und was waren falsche Gefühle, Geschichten von anderen, die man sich zu eigen gemacht hatte, weil man danach irgendetwas erzählen musste, obwohl man sich selbst gar nicht mehr spüren und fühlen und deshalb auch nicht erinnern konnte? Das Auschwitz-Dilemma, das viele Überlebende mit uns teilten.

Wir waren da, glaubt uns doch! Aber was war wirklich?

Ich bin die letzte der vier Schwestern, die ihre Geschichte noch erzählen kann. Sarah, Riku und Esther sind alle mit deutlich über 80 gestorben. Ich werde im Mai 2023 94 Jahre alt – und ich würde es auch gerne werden. Auch das ein Phänomen: Überlebende der Shoa werden nicht selten sehr alt. Wir alle waren und sind Witwen, unsere Männer sind vor uns gegangen. Bis auf Esthers Mann Mundek musste keiner von ihnen den Krieg persönlich erfahren. Ist es denkbar, dass die Auschwitz-Erfahrung uns auch widerstandsfähig gemacht hat gegen die Herausforderungen und Strapazen des Alltags, gegen die Höhen und Tiefen des Lebens ganz allgemein? Vermutlich ist das so. Es macht mich dankbar, dass wir uns nach der Gefangenschaft noch so lange gegenseitig hatten. Auch wenn wir zum Teil völlig andere Leben an verschiedenen Orten geführt – und andere Geschichten erzählt haben.

Die Erste, die starb war Riku. Ihr Tod 2005 kam völlig überraschend. Nichts deutete darauf hin, das etwas nicht in Ordnung sein könnte. Riku wohnte in Holon südlich von Tel Aviv. Sie putzte an jenem Tag das Haus, danach telefonierte sie mit ihrer Tochter. Sie klagte darüber, dass sie sich nicht besonders gut fühlte, womöglich habe sie sich etwas übernommen, sie werde sich gleich noch ein bisschen ausruhen. Riku legte den Hörer auf, kollabierte und war auf der Stelle tot. Es war ein Schock für uns alle, die wir glaubten, nach Auschwitz könnte uns nichts mehr umhauen. Fast glaubten wir, wir wären unsterblich.

Riku, die erst 15 Jahre nach uns anderen nach Israel, nach Tel Aviv, gekommen war, führte uns schmerzlich vor Augen, dass dem nicht so war. Sie war ja direkt nach dem Krieg mit unserem Bruder Meir in Rumänien geblieben. Dort heiratete sie Yosef, sie bekamen zwei Kinder, ihre Tochter Edna und ihren Sohn Shraga. Beruflich konnte sie in Israel nicht mehr richtig Fuß fassen, das machte ihr zu schaffen. Sie jobbte als Bedienung, Nanny, Reinigungsfrau und arbeitete für einen Hochzeitsveranstaltungsservice, zufrieden war sie damit nicht. Zur selben Zeit wie Riku verließ auch Meir Rumänien und wanderte 1961 mit seiner Frau Ila nach Belgien aus. Meir wurde ein erfolgreicher und ebenso tiefgläubiger Geschäftsmann, der gerne die Tora studierte und Gedichte schrieb. Er hielt auch seine Lebenserinnerungen fest, seine jüdische Kindheit im Rumänien vor dem Krieg, seine Erfahrungen aus dem Holocaust und seine Befreiung im KZ Buchenwald. Als älterer Bruder konnte er sich noch deutlich genauer an die konkreten Umstände dieser schrecklichen Zeit erinnern als wir »kleinen« Schwestern. Ich habe ihn als einen feinsinnigen, wahrhaftigen Menschen erlebt, der mich sehr an meinen Vater erinnerte. Meir hatte drei Söhne, die er Mendy, Yehuda und den ältesten nach seinem geliebten Vater Fivish nannte. Er starb 1996 in Antwerpen.

In den 1970er-Jahren immigrierte auch Onkel Philip aus Budapest nach Israel. Philip war Zeit seines Lebens ein vermögender Mann gewesen. Er kaufte sich ein Haus in Tel Aviv und heiratete mit Hertha ein zweites Mal, nachdem seine erste Frau und der gemeinsame Sohn in Auschwitz ermordet worden waren. Auch wegen Philip zog Sarah mit ihrer Familie ganz in seine Nähe. Sarah, unsere Chefschwester, heiratete Aryeh, der ebenfalls aus Rumänien stammte. Aryeh war Buchhalter und Sarah arbeitete bei ihm im Büro mit, zusammen bekamen sie zwei Kinder, Sohn Amir und Tochter Anat. Von ihren vielen Talenten blieben ihr am Ende ihres Lebens wenige übrig. Sie erkrankte an Demenz und lebte viele Jahre damit. Sarah starb, ohne zu wissen, dass sie ihren Schwestern eine so großartige Anführerin und mutige Lebensretterin gewesen war. Vor allem dank ihr wurde uns vier ein zweites Leben geschenkt.

Eine Tragödie nach der Tragödie erlebte Esther, unsere Jüngste. Esther folgte mir nach ihrer Ankunft in Palästina in den Kibbuz Mizra, holte ihren Schulabschluss nach und wurde Krankenschwester. Sie heiratete Mundek, der ebenfalls auf wundersame Weise den Krieg überlebt hatte. Während seine Mutter, sein Bruder und seine Tante bei ethnischen Säuberungen in der Ukraine getötet wurden, durchlief Mundek mehrere Zwangsarbeits- und Konzentrationslager, darunter Mauthausen und Plaszow. Dort musste er sich, wie sein Vater und sein Onkel, auch einer Mengele-Selektion unterziehen. Beide starben später an den Folgen ihrer Zwangsarbeit im österreichischen Lager Melk. Mundek wurde schließlich im Arbeitslager Ebensee befreit.

Esther und Mundek bekamen drei Söhne, Arnon, Rami und Ben Ami. Aus dem Hebräischen übersetzt bedeutet Ben Ami »Sohn meines Volkes«. Im Oktober 1973 wurde der 21-Jährige bereits am ersten Tag des Jom-Kippur-Krieges als vermisst gemeldet. Sechs Monate wussten Esther und Mundek nicht, was ihm zugestoßen war. Bis zuletzt hofften sie, dass die Ägypter ihn einfach nur gefangen genommen hätten. Ben Ami war Offizier einer Panzerbrigade nahe des Suezkanals. Seine Brigade tappte in einen Hinterhalt von feindlichen Panzerjägern und geriet unter Beschuss. Er selbst wurde noch am Abend des ersten Kriegstages von einer ägyptischen Panzerabwehrrakete getötet. Als die Armee die Nachricht von Ben Amis Tod überbrachte, sprach Esther aus, was wir anderen auch dachten, die wir alle eigene Kinder hatten wie sie: »Der Tod von Ben Ami ist für mich der wahre Holocaust, nicht Auschwitz.« Und wieder kamen die Schuldgefühle hoch. Wie konnte ich Esther in die Augen schauen, wie sollte ich sie trösten, denn meine Söhne waren alle noch am Leben. Über ein halbes Jahr nach seinem Tod wurde der Leichnam Ben Amis schließlich überführt und auf dem Kibbuz-Friedhof in Mizra beerdigt. Seitdem versammeln wir uns jedes Jahr an seinem Todestag an seinem Grab, zusammen mit seinen Brüdern. Arnon und Rami gaben Esther damals viel Kraft, um über den Verlust ihres jüngsten Sohnes hinwegzukommen. Sie selbst verstarb später an den Folgen von Parkinson. Zusammen mit Mundek liegt auch sie auf dem Friedhof von Mizra begraben, in unmittelbarer Nähe zu ihrem geliebten Ben Ami.

Der Neuanfang in Israel war für uns alle vier schwierig. Wir hatten nichts, wir kamen ohne Geld, ohne Besitz, wir beherrschten die Sprache nicht, wir kannten so gut wie niemanden. Tabula rasa. Jede von uns musste sich in der neuen Heimat ihren ganz eigenen Weg suchen, ihre Richtung festlegen, den gewählten Pfad beschreiten und mit seinen Stolpersteinen und Hindernissen klarkommen. Als Fremde und Migrantinnen, als Teenager und junge Frauen, als Schülerinnen, Auszubildende und Berufstätige, als Ehefrauen, Mütter und natürlich Geschwister, in jeder Hinsicht. Es brach uns das Herz, als Riku für sich beschlossen hatte, zunächst in Rumänien zu bleiben und nicht sofort mit uns nach Palästina auszuwandern. Ohne sie fühlten wir drei eine Leerstelle, die wir anderen nicht füllen konnten. Ein vierblättriges Kleeblatt hatte sein viertes Blatt, seine natürliche Einzigartigkeit, seine besondere Kraft verloren. Erst sehr viel später, als auch Riku in Israel lebte, ist mir aufgefallen, dass die tatsächliche Zeit, die wir Schwestern als vierblättriges Kleeblatt zusammen hatten, sehr kurz gewesen war. Nur ein einziges Mal in unserem Leben hatten wir vier für längere Zeit unter einem Dach gewohnt und das war in Auschwitz, im Sommer 1944. Als wären wir nach Polen ins Ferienlager oder ins Schullandheim gefahren, vier pubertierende Mädchen, die den Sommer ihres Lebens verbringen wollten. Wie absurd und grotesk! Ich kann mich an keinen einzigen Streit erinnern, den wir in Auschwitz gehabt haben könnten. Jede sorgte sich um die jeweils andere. Keines der Kleeblätter durfte abgerissen werden und verloren gehen. Es zählte nur unsere einmalige, innere Verbundenheit, die stark genug war, dem Grauen ein Schnippchen zu schlagen.