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FREISEIN

Im Konzentrationslager Theresienstadt herrschte bereits ein großes Chaos. Von überall her gab es Gefangenentransporte, die Häftlinge vor den anrückenden Alliierten nach Theresienstadt evakuierten. Es müssen Tausende gewesen sein. Das Lager selbst war in einem schlimmen Zustand, Flecktyphus grassierte, überall lagen Leichen herum. Diejenigen, die noch halb am Leben waren, prügelten sich wie Wilde um ein Stückchen Zucker. Die Auflösungsanzeichen waren unübersehbar. Aus der Gruppe der Wehrmachtsoldaten, mit denen wir hierher marschiert waren, erfuhren wir, dass der Lagerkommandant von Theresienstadt den Befehl bekommen hatte, alle Insassen zu exekutieren. Soweit ich die Worte des deutschen Soldaten verstand, war das Problem, dass es in Theresienstadt zwar ein Krematorium gab, aber keine Gaskammer. Wie also sollte man auf die Schnelle Abertausende Häftlinge töten? Zumal bekannt war, dass die Rote Armee direkt auf das Lager vorrückte. Der deutsche Soldat erzählte uns, dass der Lagerkommandant den Russen eine Nachricht übermitteln ließ, wonach sie vier Tage Zeit hätten, das Lager zu befreien, danach würde er den Befehl geben, alle Insassen erschießen und verbrennen zu lassen. Uns wurde klar, wir waren immer noch in allerhöchster Gefahr. Daran hätten auch die Wehrmachtsoldaten, die es offenbar gut mit uns meinten, nichts geändert. Dass sie uns zuliebe desertieren und ihre standrechtliche Erschießung in Kauf genommen hätten, das glaubten wir dann doch nicht. Die bange Frage also lautete: Wie lange würde die Rote Armee brauchen, bis sie endlich hier wäre, um uns zu befreien? Um uns unser Leben, unsere Freiheit, um uns das, was von uns übrig geblieben war, wiederzugeben?

Am späten Nachmittag des übernächsten Tages und innerhalb des Ultimatums des Lagerkommandanten befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Theresienstadt. Niemand wurde mehr erschossen und verbrannt. Stattdessen gab es etwas Warmes zu essen für die ausgehungerten, kranken, verelendeten Insassen: einen russischen Bohneneintopf und frisches Brot. In der Einheit der Roten Armee, die das Lager befreite, war auch ein tschechoslowakischer Soldat, der am zweiten oder dritten Tag der Befreiung auf Sarah zuging und sie umarmte. Ich wusste nicht, wie ich das zu deuten hatte. Sarah stellte ihn uns drei Schwestern vor, sie kannte den jungen Mann noch aus Munkatsch. Unser Onkel Philip hatte in der Stadt eine Möbelfirma geführt, in der bis zum Ausbruch des Krieges auch jener Tscheche gearbeitet hatte, ehe er sich den Russen anschloss. Sarah und er waren sich in Munkatsch einige Male über den Weg gelaufen und gut miteinander bekannt. Von ihm erfuhren wir auch das Datum unserer Befreiung: Es war der 9. Mai 1945, genau eine Woche vor meinem 16. Geburtstag.

Wie sich in Theresienstadt herausstellte, war er ein wirklich netter Kerl, der sich fortan um uns kümmerte. Er fühlte sich der Familie verpflichtet, die ihm einst Arbeit gegeben hatte. Auch wusste er viel mehr über den Verlauf des Krieges als wir, die wir seit einem Jahr in Gefangenschaft und somit von der Außenwelt abgeschnitten waren. Er erzählte uns, dass die ungarischen Faschisten Philip enteignet und die Möbelfabrik in Munkatsch übernommen hatten. Sie hatten von ihm verlangt, die Produktion auf die Bedürfnisse der deutschen Kriegswirtschaft umzustellen, so sollten etwa Holzskier für Spezialeinheiten der Wehrmacht in Russland produziert werden. Mit der Zeit schöpften die neuen deutschen Inhaber den Verdacht, dass die Fabrikarbeiter auf Philips Befehl hin die Qualität der Produktion sabotierten. Daraufhin sollte er verhaftet und beseitigt werden. Das Letzte, was der Soldat gehört hatte, war, dass unser Onkel sich gerade noch rechtzeitig über die Grenze nach Rumänien absetzen konnte, den Teil des Landes, der nicht von den Nazis kontrolliert wurde. Anschließend wollte er nach Budapest fliehen, um sich dort zu verstecken.

Natürlich wollten wir auch unbedingt erfahren, was aus unseren Eltern geworden war, wir fragten ihn also, ob er mehr darüber wisse. Er formulierte sehr vorsichtig, auch er wisse nichts Genaues, sagte er. Er war sichtlich darum bemüht, uns nicht den allerletzten Lebensmut zu rauben, andererseits wollte er es auch vermeiden, uns falsche Hoffnungen zu machen. Eine schier unlösbare Aufgabe. Bei allem, was er wisse, meinte er mit einer für einen Soldaten ungeheuren Sensibilität, wurden Alte und Kinder nach der Ankunft in Auschwitz von den Arbeitsfähigen getrennt und sofort getötet. Wir sollten uns keine allzu großen Hoffnungen machen, dass unsere Eltern und die Jungs davongekommen wären, das sei sehr unwahrscheinlich. Dem Hoffnungsschimmer der Befreiung folgte damit der nächste Tiefschlag.

In den Jahren danach, in denen ich mit offiziellen Delegationen in die Konzentrationslager zurückgekehrt bin, um jungen Menschen von meiner Geschichte zu erzählen, wurde mir diese eine Frage immer wieder gestellt: »Rachel, wie hast du dich bei der Befreiung gefühlt? Warst du glücklich?« Ich kann verstehen, dass die Menschen das wissen möchten, aber sie müssen dann auch mit der Antwort leben können, die ich ihnen gegeben habe und die die meisten schockiert hat. Zum Glücklichsein war einfach zu wenig von mir übrig geblieben. Unser tschechoslowakischer Soldat, dessen Namen ich über die Jahrzehnte leider vergessen habe, hatte das ganze Lager nach einer Waage abgesucht, um unseren Gesundheitszustand besser einschätzen zu können. Nacheinander stellten wir uns darauf. Bei mir blieb der Zeiger auf einer Zahl stehen, die ich selbst nicht glauben konnte: 25. Im Mai 1945 wog ich 25 Kilogramm! Daran kann ich mich noch gut erinnern. Für mich ein ungeheurer Schock. Heute weiß man, dass der durchschnittliche Häftling in Auschwitz, ohne selektiert zu werden, aufgrund von Unterernährung, Erschöpfung und Krankheiten nicht länger als sechs Monate überlebt hat. Bei mir waren es rund viereinhalb Monate, sehr viel länger hätte ich auch sicher nicht mehr durchgehalten.

Ich war zum Zeitpunkt meiner Befreiung fast 16 Jahre alt. Das, was man heute einen Teenager nennt, aber anstatt mich vom Mädchen in eine junge, heranwachsende Frau zu verwandeln, mitten in der Pubertät, mit allen Attributen einer aufblühenden Weiblichkeit, war meine persönliche Lebensuhr auf null zurückgestellt. Ich war ein Nullmensch. Eine Hülle aus Haut und Knochen, mein ganzer Körper ein einziger Abszess. Übersät von Infektionen, Eiter, Narben, Furunkeln, Wunden. Läuse und Flöhe knabberten an mir und fanden doch nicht genügend zu beißen, es war einfach nicht mehr genug Fleisch dran an mir. Es juckte und brannte höllisch. Erst jetzt, in den Tagen und Wochen nach der Befreiung, als das Adrenalin und der Stress des täglichen Überlebenmüssens, des täglich neu angekündigten Todes nachließ, und ich Zeit hatte, mir über mein Wohlergehen und meine Gesundheit Gedanken zu machen, brach der körperliche Schmerz so richtig durch. Viele der Frauen, die ich in dem Jahr meiner Gefangenschaft kennenlernte, hatten nach der Befreiung große Angst, dass sie ihre Fruchtbarkeit verloren haben könnten. Sie klagten darüber, dass in Auschwitz ihr Menstruationszyklus ausgeblieben war. Ich erinnere mich nicht, dass meine Schwestern und ich auch solche Ängste hatten, allerdings weiß ich noch, wie überrascht ich war, als meine Menstruation, nicht lange nach meiner Befreiung, wieder einsetzte als wäre nichts geschehen. Ein Moment, der mich sehr rührte. Nun war klar, Auschwitz hatte sein monströses Werk an meinen Schwestern und mir nicht vollenden können. Wir hatten überlebt und konnten weiterhin Leben schenken. Damit war das eigentliche Ziel der sogenannten Endlösung am Beispiel unserer Familie eindeutig verfehlt: uns vollständig auszurotten.

Wenn man im Lager tagtäglich Hunger leidet und Todesangst aussteht, dann wird das eigene Bewusstsein ganz eng. Erst vertunnelt man sich, dann kappt man sein Bewusstsein von seiner inneren Welt, so würde ich das beschreiben. Als würde man alle seine tragenden Gefühle einzeln in Zellophan einwickeln, um sie nicht mehr fühlen zu müssen. Angst. Wut. Verzweiflung. Trauer. Einsamkeit. Sehnsucht. Heimweh. Liebe. Alles in Zellophan verpackt. Einzeln, luftdicht, steril. Gefühle bleiben in einem Konzentrations- und Vernichtungslager als Erstes auf der Strecke. Gefühle sind das Kostbarste, das ein Mensch besitzt, auch deshalb kosten sie so viel Energie. Energie, die ich in Auschwitz irgendwann nicht mehr hatte und die ich deshalb früh eingespart habe. Das normale Leben draußen ist pure Qualität, das Überleben im Lager nur noch Quantität. Die Frage ist also nicht mehr: Wie schön mache ich es mir? Sondern: Wie lange habe ich noch? Sind es Stunden, Tage, Wochen? Im existenziellen Überlebenskampf gegen Hunger und Angst neutralisiert der Kopf deinen größten inneren Feind, deine Gefühle, die dich um den Verstand bringen würden, und der menschliche Körper bündelt die letzten freien Ressourcen. Ein Akt finaler Selbstermächtigung im auf Autopilot gestellten Energiesparmodus. Vielleicht ist es das, was Viktor E. Frankl meinte, wenn er davon sprach, dass man als Häftling im Lager irgendwann nur noch dahinvegetiere: Ein Leben, das durch Gefühle nicht mehr warm gehalten wird, ist ein erkaltetes Leben. Leer und sinnlos.

Ob ich also bei meiner Befreiung glücklich war? Die Wahrheit ist: Am 9. Mai 1945 und den Tagen danach wusste ich nach vielen Monaten, in denen ich gezwungen war, mich vom direkten Zugang zu meinen Gefühlen abzukoppeln, mit den Begriffen der Freiheit und des Glücks nichts mehr anzufangen. Viel zu groß, viel zu abstrakt, einfach zu theoretisch, um sie begreifen geschweige denn spüren zu können. Am Tag der Befreiung konnte ich funktionieren, ich konnte logisch abarbeiten, dass der Krieg vorbei war, aber ich konnte nichts fühlen. Rein gar nichts. Schon gar nicht etwas so Großes wie Freiheit, Freude oder Glück. Und später, als die Gefühle wiederkamen, da waren es zuerst auch gar keine Glücksgefühle, die mich berauschten, sondern massive Schuldgefühle, die mich plagten, gerade weil ich überlebt hatte. Wie konnte es ein Glück sein, dass ich am Leben war, während Mama, Papa, ein Großteil der Familie sterben musste? Heute bin ich wieder eine glückliche Frau, weil ich mit viel Mühe gelernt habe, dem Glück meines Lebens auf die Schliche zu kommen. Aber damals?

Jetzt, da wir befreit waren, waren wir frei, nur was bedeutete das? Wir hatten kein Zuhause mehr und keinen Ort, den wir Heimat nannten. Auch gab es niemanden, der uns erwartete, davon mussten wir ausgehen. Im Lager liefen die Überlebenden hektisch umher, suchten nach Essbarem, nach Kleidung, nach medizinischer Hilfe, nach einer Idee, wie es jetzt weitergehen konnte. Sarah fand in einem SS-Lager Säcke voller Anziehsachen, aus denen wir uns bedienten. Mir nähte sie, aus Dank für meine erfolgreiche Arbeit als »Brotministerin«, ein eigenes Kleid aus altem Sackleinen. Wir vier blieben zunächst im Lager zusammen, die ersten drei, vier Wochen bestimmt, obwohl wir überall hätten hingehen können. Wir aßen ausschließlich Bohnensuppe und versuchten, wieder zu Kräften zu kommen. Ich war abgemagert und schwach und trotzdem verzichtete ich in der Situation auf den Verzehr von nicht koscherem Fleisch. So war ich erzogen worden. Im Rückblick kann ich es selbst nicht glauben, dass mein Glaube, selbst in einer solchen Extremsituation, immer noch mein Tun beeinflusste, obwohl es gegen jegliche Vernunft erschien. Unmittelbar nach dem Erlebten stellte ich meinen Glauben zu Gott nicht infrage, noch nicht, das sollte sich später erheblich ändern.

Der tschechoslowakische Soldat hatte uns eindringlich davor gewarnt, aus dem Lager in die Stadt zu gehen, um uns endlich mal wieder so richtig satt zu essen. Er hatte zuvor mit dem Roten Kreuz über uns gesprochen, die genau das für gefährlich hielten. Wir glaubten ihm, obwohl sich unser Hungergefühl kaum stillen ließ. Viele ehemalige Häftlinge ließen sich dennoch nicht davon abbringen und mussten es bitter bereuen. Mehr als das bisschen Suppe und Brot war unser Organismus nach einem Jahr hungern nicht mehr gewohnt. »Refeeding-Syndrom« nannte sich das Phänomen, das mir zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt war. Nach der monatelangen Mangelernährung in den Lagern konnten unsere Organe die Nahrung gar nicht mehr aufnehmen und verarbeiten. Diejenigen, die nach der Befreiung den Fehler begingen, viel zu schnell wieder normal essen zu wollen, bekamen aus dem Nichts zahlreiche Ödeme, die Blutwerte spielten verrückt, Toxine wurden freigesetzt, der Stoffwechsel kollabierte, oft versagte innerhalb weniger Tage danach das Herz.

Mein Brieffreund, der Schwarm meiner Jugend, hatte den gleichen Fehler begangen. Monate nach meiner Befreiung lebte ich für eine Zeit bei meinem Onkel Philip in Budapest. Also begab ich mich im Herbst 1945 auf die Suche nach dem Jungen, dessen liebevolle Postkarten mich während meiner Deportation so herzlich getröstet hatten. Bis zum Krieg hatte er in Budapest gewohnt, das wusste ich, aber wie mochte es ihm danach ergangen sein? Lebte er noch? Ich fragte mich durch die Behörden und Ämter und fand ihn schließlich in einem städtischen Krankenhaus wieder. Auch er hatte den Krieg, mehrere Arbeitslager und den Hungertod nur knapp überstanden. Er war fast nicht wiederzuerkennen, abgemagert, krank und kaum ansprechbar. Es ging ihm sichtlich schlecht, es fiel ihm schwer, die Augen zu öffnen, trotzdem versuchte er, mich anzulächeln, so wie er mich immer angelächelt hatte, wenn er am Bahnhof von Unterwischau aus dem Zug gestiegen war. Hier im Krankenhaus sah ich ihn zum ersten Mal nach dem Krieg wieder – und gleichzeitig zum letzten Mal. Am Morgen darauf wachte er nicht mehr auf. Es war fast so, als hätte er nur darauf gewartet, mich noch einmal zu sehen, um sich von mir zu verabschieden.

Es klingt paradox: Viele starben nach ihrer Befreiung aus dem KZ nicht an Unterernährung, sondern an ihrem ersten Festtagsschmaus, mit dem sie ihre neu gewonnene Freiheit und ihr neues Leben feiern wollten. So auch mein Freund aus Budapest. Offenbar hatte ich einen weiteren Schutzengel gehabt, der mich vor diesem Fehler bewahrte. Dabei half mir sicher auch, dass ich selbst nach der Befreiung immer noch kein Fleisch aß, das bekanntlich schwer verdaulich war. Damit war ich also unbewusst sehr vernünftig gewesen, so kurz nach der Gefangenschaft, immer noch auf meinen koscheren, vegetarischen Essensregeln zu bestehen. Vielleicht habe ich, ob der besonderen Tragik der Geschichte, auch deshalb seinen Namen aus meinem Gedächtnis gelöscht, den Namen meines allerersten Freundes, des jungen Mannes aus Budapest mit seinen wunderschönen Postkarten: Um den Schmerz darüber zu verdrängen, dass wir trotz Auschwitz und Krieg eine gemeinsame Zukunft hätten haben können.