Ab meinem siebten Lebensjahr ging ich vormittags in Unterwischau in die örtliche Volksschule. Ich hatte mich mit Sarah Waxmann angefreundet, die in den Jahren danach meine beste Freundin werden sollte. Sarah ging in die gleiche Klasse wie ich, kam aber, anders als ich, aus einer bettelarmen Metzgerfamilie von außerhalb. Wir beide verstanden uns auf Anhieb. Beinahe täglich unternahmen wir etwas zusammen, machten gemeinsam Hausaufgaben oder spielten nach der Schule bei uns zu Hause im Garten, unser Haus lag gleich neben der Schule. So ging das drei, vier Jahre lang. Freunde fürs Leben wollten wir werden, das hatten wir uns geschworen.
Im Sommer 1940 veränderte sich die Stimmung an unserer Schule. Lesen, schreiben, rechnen war auf einmal nicht mehr das Wichtigste. Nordrumänien wurde Teil des faschistischen Ungarns, das an der Seite von Hitlerdeutschland stand. Die äußeren Umstände kannte ich damals nicht, denn zu Hause wurde nicht über Politik gesprochen, unsere Eltern, gerade Papa, wollten uns nicht weiter beunruhigen. Meir hat mir später erzählt, dass sich unsere Eltern mit der Teilbesetzung des Landes schleichend veränderten. Die Unbeschwertheit sickerte Stück für Stück aus ihrem Leben. Meir bekam immer mal wieder mit, wie Papa sehr ernst mit Ethel sprach, ohne genau zu wissen, worum es eigentlich ging. Es dauerte eine Weile, ehe er die Bruchstücke und Satzfetzen, wie in einem vielteiligen Puzzle zusammensetzen und die Zusammenhänge besser verstehen konnte. Unsere Eltern machten sich deutlich mehr Sorgen als früher und waren nicht mehr so fröhlich, so erinnerte er sich. Was mich betraf, kann ich mich daran nicht erinnern, auch weil unsere Eltern wahre Meister darin waren, zu Hause so zu tun als wäre alles in bester Ordnung. Meir aber war alt genug, um den Unterschied zu erkennen zwischen Schauspiel und Wirklichkeit.
Doch auch ich begann die Auswirkungen der politischen Veränderungen in den folgenden Jahren unmittelbar zu spüren. Ich war elf Jahre alt, hatte den Namen Adolf Hitler vielleicht einmal gehört, ein deutscher Politiker eben, ein Politiker von vielen, dachte ich, mehr wusste ich nicht. Ich hatte keine Ahnung, was Faschisten sind, was Faschisten wollen, warum die Annexion von Teilen Rumäniens eine ernsthafte Gefahr für unsere Familie darstellte und dass der Krieg bereits begonnen hatte. In der Schule waren eines Tages unsere alten Lehrer alle verschwunden gewesen, dafür kamen Lehrer in Uniformen, die wie Soldaten sprachen und sich auch so benahmen. Sie sprachen ungarisch, kommandierten uns in militärischem Befehlston herum und fingen an, uns jüdische Schülerinnen und Schüler bloßzustellen und zu drangsalieren. Erst beschimpften sie uns nur, aber es dauerte nicht lang, dann begannen sie, uns körperlich zu züchtigen und zu schlagen. Im Jahr darauf mussten wir den Davidstern sichtbar an unserer Schulkleidung tragen. In der Mitte von zwei ineinandergelegten, nach oben und nach unten weisenden gelben Dreiecken stand: Jude. Der Davidstern war jetzt ein Judenstern, der uns demütigen sollte.
Es fing damit an, dass mir unser neuer Klassenlehrer mit dem Holzlineal auf die Fingerspitzen schlug. Richtig fest. Einfach so. Ich hatte nichts ausgefressen, ich hatte nichts falsch gemacht, es gab gar keinen Grund dafür, außer – dass ich jüdisch war. Es war mir damals aber nicht bewusst, dass er nur diejenigen peinigte, die einen Judenstern trugen. Er schlich sich immer wieder von hinten an mich und meine jüdischen Mitschülerinnen und -schüler heran, um uns zu verunsichern und zu ängstigen, plötzlich zog er das Lineal über unsere Finger. Seine »Strategie« ging auf. Mit der Zeit machte mir bereits der Schatten seiner Uniform Angst, sobald er sich von hinten über mich legte. An einem meiner Geburtstage habe ich meinen Enkelkindern diese Geschichte aus meiner Kindheit erzählt, nicht um sie zu erschrecken, sondern um ihnen bewusst zu machen, wie wertvoll eine ordentliche Schulbildung ist, wie sie sie genossen: »Aber Oma«, fragten sie mich, »warum hast du dir das gefallen lassen? Warum hast du nicht einfach zurückgeschlagen? Du bist doch eine starke Frau?« Eine sehr gute Frage, dachte ich, aber wie konnte ich ihnen dieses Klima der Angst verdeutlichen, ihnen, die selbst noch nie derartige Angst haben mussten?
Der neue Klassenlehrer hetzte mit der Zeit auch die nicht jüdischen Kinder gegen uns auf. Es gab einen Jungen, er war einer der Klassenbesten, ein wirklich gut aussehender und schlauer Kerl, mit dem ich mich immer prima verstanden hatte. Doch auch er fing plötzlich an, mich nur noch zu beschimpfen. Ständig stichelte er: »Rachel, du stinkst!«, oder: »Rachel, du bist dreckig!«, oder: »Hau ab, Rachel!« Wenn ich von der Schule nach Hause kam und meinem Vater wieder einmal davon erzählte, dass ich beleidigt und geschlagen worden war, von Lehrern und von Schülern, dann nahm er mich zärtlich in den Arm, tätschelte mir den Kopf, sagte aber kaum etwas. Er wollte es sicher, so gut kannte ich ihn, aber er brachte keinen einzigen Laut hervor. Ich konnte sehen, wie er in seinem Kopf nach Antworten auf meine fragenden Blicke suchte. Sein Gesicht sprach Bände, doch in seinem Mund vertrockneten die Worte, noch ehe sie seine Lippen von innen berührten. Er sah so traurig aus, es war das erste Mal in diesen schrecklichen Jahren, dass ich seine Verzweiflung buchstäblich mit Händen greifen konnte, obwohl er selbst gar nicht in der Lage war, sie zu artikulieren. Sie sollte in den kommenden Jahren nur noch größer werden.
Papas Traurigkeit übertrug sich nach und nach auch auf mich. Ich war gerne zur Schule gegangen, ich war auch eine gute Schülerin, Mathematik war mein Lieblingsfach, ich wollte lernen und strengte mich an, ich wollte einen guten Abschluss machen, aber das alles zählte jetzt nicht mehr. Es ging nicht mehr darum, wie sehr ich mich bemühte, sondern, dass irgendetwas falsch war, dass ich irgendwie falsch war. Für meine Freundin Sarah und mich war die Schule zu einem Spießrutenlauf geworden, jede musste nun für sich schauen, wie sie den Angriffen der Mitschüler am besten aus dem Weg gehen konnte. Für die Zeit danach verabredeten wir uns an einem geheimen Platz, den nur wir kannten. Eine versteckt liegende Parkbank zwischen unserem Haus und dem unserer Nachbarn. Nach einem weiteren Vormittag voller Beleidigungen und Anfeindungen, nach Stunden des Herumgeschubst- und Angespuckt-Werdens, nahmen wir uns in den Arm und versuchten, uns gegenseitig zu trösten, so gut es ging. Die Welt schien sich gegen uns beide verschworen zu haben.
Wer tagtäglich beschimpft und persönlich verletzt wird, der will eine Erklärung dafür finden, warum das so ist. Doch eine Erklärung gab es nicht. Die Nazilehrer brüllten, die besorgten Eltern schwiegen und wir Kinder? Ich verstand das alles nicht, ich dachte, es müsse an mir liegen. Ich glaubte, ich selbst habe etwas falsch gemacht, ich sei einfach nicht so gut wie die anderen Kinder, weshalb ich ganz zu Recht derart angefeindet werde. Dieses Gefühl der Unsicherheit, für etwas bestraft zu werden, ohne zu wissen, welchen Fehler ich begangen habe, brachte mich in große Gewissensnöte. War es, weil etwas mit mir nicht stimmte? Das Gefühl jener Zeit, das mir den sicheren Boden meiner Jugend entriss, hat mich Zeit meines Lebens stark geprägt. Bis heute verzeihe ich mir auch nicht die kleinste Unzulänglichkeit, bin mir gegenüber sehr unnachgiebig und, wie meine Söhne sagen, viel zu selbstkritisch. Das hat ganz sicher mit der Erfahrung der Ausgrenzung in jenen Jahren meiner Kindheit zu tun, aber auch damit, dass ich nur so kurze Zeit zur Schule gehen durfte. Ich hätte so gerne so viel mehr gelernt, so viel mehr verstanden von der Welt. Das weiß man aber erst zu schätzen, wenn einem diese Möglichkeit plötzlich genommen wird. Das ist es auch, was ich meinen Enkelkindern immer wieder erzählt habe, als sie noch klein waren. Rechnen zu lernen mag unangenehm und langweilig sein, nicht mehr rechnen lernen zu dürfen, hinterlässt eine Lücke, die sich später nicht mehr füllen lässt.
Wochen später, die Übergriffe der Lehrer wurden schärfer und immer unerträglicher, nahm Vater mich mitten im Jahr aus der Klasse. Kurz darauf war es jüdischen Kindern ganz verboten die Schule zu besuchen. Jetzt kam auch Sarah nicht mehr nach Unterwischau und nicht mehr zu mir nach Hause. Unsere gemeinsame Zeit war vorbei, und damit auch unser gegenseitiger Trost. Papa schickte mich stattdessen zu einem Gemeinderaum im Dorf, in dem traditioneller, jüdischer Bibelunterricht gelehrt wurde, der noch nicht verboten worden war. Solche sogenannten Chederschulen waren ursprünglich nur den Jungen vorbehalten, aber als Fivish darauf bestand, dass auch ich, seine Tochter, unter den besonderen Umständen daran teilnehmen müsse, hatte keiner etwas dagegen. Nach nicht einmal vier Jahren war meine Schullaufbahn beendet. Ich war gerade einmal elf Jahre alt.
Auch meine Freundschaft zu Sarah war von einem Tag auf den anderen beendet. Kein ganzes Leben hatten wir den Wirren der Zeit abtrotzen können, aber immerhin knapp vier Jahre. Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen. Was ich nicht wusste: Auch Sarah wurde später, etwa zeitgleich wie ich selbst, nach Auschwitz deportiert. Fünfzehn Jahre nach meiner Befreiung brachte uns der glückliche Zufall oder das Schicksal, wer weiß das schon genau, wieder zusammen. Aus naiven, unschuldigen Schulmädchen, denen man einst ihre Freundschaft geklaut hatte, waren erwachsene Frauen geworden, die ihre dunkle Vergangenheit wie einen schweren Rucksack schultern mussten. Ohne jede Vorahnung liefen wir uns mitten in Haifa, dem Ort unserer gemeinsamen Zuflucht, und 2000 Kilometer von unserer rumänischen Heimat entfernt, wieder über den Weg. Wie das möglich war, ist mir bis heute unerklärlich, aber es war so. Heute sind wir zwei rüstige, ältere Damen, beide deutlich über 90 Jahre alt, und wir leben immer noch. Jetzt sogar im selben Stadtviertel, nicht weit voneinander entfernt. Wir sind wieder und immer noch beste Freundinnen. Wie oft haben wir uns schon in einem unserer zwei Lieblingscafés zu Kaffee und Kuchen getroffen, dann reden wir über damals und über heute und können immer noch nicht glauben, dass unsere Freundschaft, Klischee hin oder her, stärker war als jeder Hass und Krieg. Eine Freundschaft fürs Leben eben!