Ich hatte Angst vor meiner ersten Rückkehr nach Polen, an die Orte des Grauens. Ich wusste nicht, was es aufrühren, was es mit mir machen würde, wenn ich die Schatten und Erinnerungen der Vergangenheit in mein Leben zurücklassen würde. Aber die Zeit der Ausreden war endgültig vorbei. Auch mein jüngster Sohn Yaron wollte es nun ganz genau wissen und bat darum, mich auf zwei Delegationsreisen begleiten zu dürfen. Während seiner ersten Reise 2012 besuchten wir zunächst das Vernichtungslager Majdanek. Yaron hatte die feste Absicht, die Gaskammer und das Krematorium von innen zu besichtigen. Ich konnte das nicht, also versuchte ich es ihm auszureden – erfolglos. Als er in das Gebäude hineinging, sah ich vor meinem inneren Auge einen 15-jährigen Teenager, der darin verschwindet, um nie wieder herauszukommen. Ein Teenager wie ich damals einer war. Es sind Bilderschnipsel wie diese, die sich in meinem Gehirn einbrennen und aus denen sich immer wieder neu die Albtraumfilme meines Lebens zusammensetzen. Danach erzählte Yaron mir, dass es ihm in der Gaskammer gar nicht gut ging und er schnell wieder raus an die frische Luft musste. Auf der nächsten Majdanek-Reise, Jahre später, verzichtete er auf einen Besuch der Gaskammer. Selbst für ihn, der all das selbst nicht erlebt hatte, war es eine traumatische Erfahrung gewesen. Dennoch bestand er darauf, Auschwitz mit eigenen Augen zu sehen. Also begleitete er mich auch zurück an den Ort, der mich mehr geprägt hat als jeder andere Ort in meinem Leben, obwohl ich nur vier Monate dort war. Auschwitz hat eine enorme Wirkung auf seine Besucher, das ist bekannt, aber konnte es vielleicht auch umgekehrt sein? Zumindest redete ich mir das vor unserem ersten gemeinsamen Besuch ein. Diesen selbstbewussten, erwachsenen Mann, meinen Sohn, musste Auschwitz als große Demütigung empfinden. Dieser Ort, der mich als junges Mädchen vernichten wollte, an den ich jetzt, einfach so, als mehrfache Oma zurückkam, mit meinem erwachsenen Sohn an der Hand, den es, nach Auschwitz-Logik, gar nicht hätten geben sollen.
Von so viel persönlicher Genugtuung war ich knapp zehn Jahre zuvor weit entfernt gewesen. 1993 war ich das erste Mal seit jenem September 1944 nach Auschwitz zurückgekehrt. Allein und noch ohne familiäre Unterstützung. Auf den Stufen zum Krematorium 1 im Stammlager spielte mein Kreislauf Roulette, alles drehte sich. Ich bekam keine Luft mehr, torkelte, übersah eine Stufe und wäre beinahe die Treppe hinuntergestürzt, wenn mich nicht ein Student aufgefangen hätte. Ich musste schnell wieder nach oben. Drei Kilometer Luftlinie von hier lag Auschwitz-Birkenau, das, wenn man es so nennen wollte, Grab meiner Eltern, das Grab meiner Familie, das ich 49 Jahre lang nicht besucht hatte. In Israel haben wir keine Gräber unserer Lieben, die während des Holocaust umgekommen sind. Sterbliche Überreste, die man hätte überführen können, gab es nicht. Und auch jetzt gab es keinen Grabstein, vor den ich mich hätte hinstellen und meiner Familie gedenken können. Die Ermordeten wurden verbrannt und, das weiß man heute, als Asche auf die Wiesen des Areals verteilt. Die Asche sickerte mit dem nächsten Regen ins Erdreich ein und aus einer ehemals grünen Wiese wurde ein Massengrab für Hunderttausende, ohne dass auch nur ein einziges Schild oder ein Gedenkstein darauf verwiesen, dass man auf den Toten herumtrampelte, wenn man hier entlangging. Irgendwo hier mussten auch Fivish und Ethel, Zvi und Yehuda, Chaya und ihr Baby Etia liegen. Sechs von geschätzt 1,3 Millionen Auschwitztoten. Selbst 80 Jahre danach kennen wir immer noch nicht alle Namen, wissen wir immer noch nicht, wie viele es genau waren. Für die betroffenen Familien muss das das Schlimmste sein.
Ich marschierte über das Gelände von Auschwitz-Birkenau, entlang an den noch existierenden Baracken, entlang an den Fundamenten der gesprengten Baracken, entlang an den hohen Begrenzungszäunen, vorbei an der Rampe, dem Ort, an dem ich am 15. Mai 1944 selektiert wurde und meinen 15. Geburtstag »gefeiert« hatte, vorbei am ehemaligen Frauen- und Zigeunerlager, hin zu den Krematorien 2 und 3, bis ich am Ende des Weges vor dem offiziellen Gedenkplatz mit den Blumenkränzen stehenblieb, den es zu meiner Zeit natürlich nicht gab, weil die heutige Gedenkstätte noch ein Vernichtungslager war. Fühlte ich was? Konnte ich spüren, wie der Ort mit mir und meinem Leben in Verbindung stand? Konnte ich spüren, was dieser Ort mit mir gemacht, dass er mir fast alles genommen hatte?
Fast 50 Jahre später horchte ich in mich hinein und fühlte – nichts. Es war aber auch nicht wie damals, als ich 15 war und alles in mir abgestorben schien. Wie eine Blume, die verdorrt war und ihre Blätter verlor, weil man sie nicht mehr gießen wollte. Diesmal war es anders. Auf einmal schien ich taub zu werden, jedenfalls verstummten alle um mich herum. Ich bekam keine Luft mehr, irgendjemand drückte seine Pranken um meinen Hals. Ich konnte nicht mehr sprechen, obwohl die Jugendlichen, die um mich herumstanden und mich anstarrten, auf meine Geschichte warteten. Würde ich jetzt also endlich sterben in Auschwitz, so wie es immer geplant war? Oder war ich dabei verrückt zu werden? Die Trauer, von der ich erwartet hatte, dass sie mich überwältigen würde, sie kam einfach nicht. Stattdessen stülpte jemand einen luftdichten Sarkophag über die vertrocknete Blume, der verhindert, dass der Sauerstoff die Blume zu Staub zerfallen lässt. Ich zerfiel nicht zu Staub, ich erstickte von innen.
Während ich so starr dastand vor dem Gedenkplatz und mich nicht rühren konnte, ging mir alles Erlebte noch einmal im Hochgeschwindigkeitszeitraffer durch den Kopf. Der Bilderrausch ließ meinen fremdgesteuerten Körper erzittern. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, am Ende waren es wohl rund 20 Minuten, bis ich mich allmählich aus diesem Schockzustand befreien konnte und realisierte, dass ich nicht mehr das ausgelieferte, verängstigte junge Ding von damals war, sondern eine 63-jährige Frau, die dem hier Erlebten aus guten Gründen ein erfülltes und glückliches Leben entgegensetzen konnte. Meine Söhne, meine gegründete Familie, mein beruflicher Erfolg. Der Nullmensch von damals war eine gereifte Persönlichkeit geworden, das durfte ich hier und jetzt nicht vergessen. Meine Eltern, meine Geschwister waren immer noch tot, aber anders als damals, wusste ich das heute. Und anders als damals konnte ich heute frei sprechen, niemand würde mir den Mund verbieten, niemand würde mich zurück in die Reihe schubsen, niemand würde mich anbrüllen und entwürdigen, niemand würde mich selektieren und ins Gas schicken, auch nicht der schöne Mann mit den schwarzen Lederstiefeln. Also rede endlich, Rachel! Rede!
Ja, es stimmt, ich habe es lange als großes Unrecht empfunden, dass man Mengele nie gefasst hat, dass man ihm nie den Prozess gemacht hat, dass er sich nie erklären musste. Er war schuldig und lief ein Leben lang frei herum. Er war Arzt, er sollte die Menschen heilen, aber er tat das Gegenteil. Ja, er war ein schöner Mann und zugleich ein monströses Scheusal. Nun war er seit über zehn Jahren tot, dennoch marschierte er immer noch ungeniert und ungehindert in meinen Träumen herum und zertrampelte mit seinen polierten Stiefeln rücksichtslos alles, was sich in mir an zart blühendem Leben aus der Umklammerung der Angst befreien konnte. Seinetwegen konnte ich nachts nicht schlafen, seinetwegen konnte ich nicht süß träumen, seinetwegen konnte ich mir als junge Frau keine schwarzen Stiefel kaufen, keine schwarzen Damenstiefel und auch diese wunderbar modischen Stiefeletten nicht, wie sie in den 1980er-Jahren aufkamen. Alles an ihm erinnerte mich an Auschwitz. Jetzt aber, hier und heute, fühlte ich mich endlich stark genug, ihm direkt in seine angeblich so schönen, hellbraunen Augen zu schauen, das, was ich mich im Lager nie getraut hatte, ihm direkt in seine Seele zu schauen, die schwarz gewesen sein muss, dunkelschwarz, wie sollte es anders gewesen sein. Mengele war Geschichte, heute wollten junge Menschen meine Geschichte hören, sie wollten endlich die ganze Geschichte hören.
Ich war jetzt bereit dafür.