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VORURTEIL

Meinen Ehemann Shlomo lernte ich in Mizra schon vor meiner Zeit beim Palmach kennen. Zunächst waren wir beide sehr gute Freunde und wussten nicht so recht, ob es vielleicht auch mehr sein könnte. Jedenfalls war Shlomo von Anfang an sehr angetan von mir, das merkte ich natürlich. Ich erinnere mich an einen Fronturlaub während des israelischen Unabhängigkeitskrieges im Jahr 1948. Damals trampte ich aus dem Kriegsgebiet zurück nach Mizra. Shlomo war die ganze Zeit in großer Sorge um mich, während ich an der Grenze zu Ägypten stationiert war. Zurück im Kibbuz zeigte ich ihm die Drills, die ich beim Palmach durchlaufen und die Selbstverteidigungsübungen, die ich gelernt hatte. Bei einer der Übungen legte ich ihn, obwohl er viel größer und stärker war als ich, ziemlich spektakulär aufs Kreuz. Shlomo war sehr beeindruckt. Danach aber klagte er über Schmerzen im Arm, auf den er sich im Fallen abgestützt hatte. Später stellte sich heraus, dass er sich dabei unglücklicherweise die Handwurzel gebrochen hatte. Das war der Knackpunkt, der aus besten Freunden ein Liebespaar werden ließ. Von da an war ich im Kibbuz als die Frau bekannt, die ihrem Freund, als Zeichen ihrer Liebe, die Hand gebrochen hatte.

Ich erzählte Onkel Jakob in Haifa von meinem neuen Freund und sagte ihm auch, dass er ein Jude aus dem Libanon sei. Jakob fragte, ob er ein »farbiger Jude« sei. Wenn ja, dann sei Shlomo in seinem Haus nicht willkommen. Ich war wie vor den Kopf gestoßen und konnte mir sein Verhalten nicht erklären. So hatte ich Jakob nie zuvor kennengelernt. Ich erklärte meinem Onkel, dass ich sein Haus dann ebenso nicht mehr betreten würde. »Ich werde Shlomo deinetwegen nicht verlassen«, erklärte ich ihm und meinte das auch so. Ich war sehr enttäuscht. Keine drei Jahre zuvor war ich selbst Opfer einer perfiden, rassistischen Ideologie geworden und jetzt würden wir selbst andere diskriminieren, nur weil sie anders aussahen? Was sollte das? Jakob wollte mir weismachen, die »farbigen Juden« seien anders, sie hätten ein hitziges Temperament und einen falschen Charakter, man könne ihnen nicht trauen. Tatsächlich, so glaube ich, störten sich gläubige aschkenasische Immigranten wie Jakob vor allem daran, dass Menschen wie Shlomo, nachweislich jüdisch, doch in einem arabischen Land geboren, auch in Israel ganz bewusst ihre arabische Mentalität leben wollten. Meiner Meinung nach war das, gerade für einen so starken Charakter wie Shlomo, völlig richtig. Warum hätte er die Bräuche und Lebensweisen aus seinem Geburtsland Libanon leugnen und aufgeben sollen? Mit welchem Recht hätte man das von ihm verlangen dürfen? Später, als Jakob Shlomo persönlich kennenlernte, mochte und schätzte er ihn sehr. Die eigenen Vorbehalte spielten auf einmal keine Rolle mehr. Sie waren ihm im Nachhinein auch sehr unangenehm, besser, man sprach ihn gar nicht erst darauf an. Diese kleine Geschichte belegt einmal mehr, was wir heute schon lange wissen, eine Binsenweisheit, die wir dennoch immer noch viel zu selten in die Tat umsetzen: Wenn ich nur einen von ihnen persönlich kennenlerne, vielleicht sogar mit einem oder einer von ihnen befreundet bin, dann gibt es plötzlich nicht mehr »die Juden« und auch nicht »die Araber« oder »die Palästinenser«, es gibt dann nur noch Shlomo oder Rachel oder Jakob. Und auf einmal fließen Vorurteile, Ablehnung, vielleicht sogar Hass ab wie schmutziges Badewasser aus einer Wanne, deren Stöpsel man gezogen hat. Ist das denn so schwer?

Shlomo war in Beirut geboren und drei Jahre älter als ich. Sein Vater Simon war Vorstand der jüdischen Gemeinde der Hauptstadt, seine Mutter Jamila stammte ursprünglich aus Damaskus. Shlomo war der vierte von insgesamt sieben Brüdern. Ihr Vater Simon sammelte Geld für die Synagoge in Beirut und unterhielt enge Kontakte zur »Hagana«, der bedeutendsten und größten zionistischen, paramilitärischen Untergrundorganisation in Palästina vor der eigentlichen Staatsgründung. Simon war, unter seinem arabischen Namen Aref, eine Art Geheimagent für die Aktivitäten der Hagana in Beirut. Wenn jüdische Agenten von Palästina aus in den Libanon geschickt wurden und spurlos verschwanden, wurde Simon aktiviert, um sie zu suchen. Wie dem Palmach ging es auch der Hagana darum, immer noch mehr Juden in das Land ihrer Vorväter zurückzuholen. Mit der zunehmenden jüdischen Besiedelung, so die Idee dahinter, würde man den Druck auf die konkreten politischen Vorbereitungen einer Staatsgründung erhöhen und gleichzeitig die Gegenwehr im Unabhängigkeitskrieg von 1948 stärken.

Drei von Simons Söhnen traten später in die Fußstapfen ihres geheimnisumwitterten Vaters und spionierten in den umliegenden arabischen Hauptstädten Beirut, Amman und Damaskus für den Nachrichtendienst der Hagana wichtige Informationen über die militärischen Pläne des Feindes aus. Shlomo war einer der drei. Mit 14 Jahren kam er das erste Mal aus Beirut nach Israel und schmuggelte, im Auftrag einer zionistischen Jugendbewegung, die im Untergrund agierte, Juden aus Syrien und dem Libanon ins Land, ebenso Holocaust-Überlebende, die auf ihrer Flucht vor den Nazis im Libanon hängen geblieben waren. Mit 17 zog er ganz nach Israel und brachte auch seinen jüngeren Bruder David mit. Noch vor der Staatsgründung siedelten alle seine Brüder nach Israel über. David, der Shlomo auch in den Kibbuz nach Mizra gefolgt war, verlor 1962 sein Leben, als er östlich des Sees Genezareth für Israel gegen die syrische Armee kämpfte. Shlomo war ein Abenteurer und Tausendsassa, der sich beruflich immer wieder neu erfand. Ob als verdeckter Hagana-Ermittler, Kurier oder »Judenschmuggler« (wie er sich selbst nannte) entlang der Staatsgrenzen oder später, nach der offiziellen Gründung Israels, als er mehrere Jahre als Guide für junge Immigranten aus arabischen Ländern arbeitete. Eine Zeit lang züchtete er sogar Kälber auf einem Bauernhof, er hatte ein Händchen für Tiere. Wie gesagt: Shlomo war ein echter Tausendsassa. Einmal bekam er das Angebot, eine Polizeilaufbahn einzuschlagen. Das aber wollte ich wiederum nicht. Die Polizei galt zu jener Zeit als besonders gewalttätig, mir zuliebe verzichtete er. Stattdessen wurde er Leiter einer Abteilung des israelischen Gewerkschaftsbundes »Histadrut«, die sich im Norden des Landes um die Rechte von arabischen Arbeitern kümmerte, die gewerkschaftlich organisiert waren. Dabei war er nicht nur sehr erfolgreich, sondern auch bei allen gleichermaßen beliebt, egal ob bei Arabern, Juden oder Drusen, die in Israel eine eigene Religionsgemeinschaft bilden.

Wie sehr sich meine Verwandten zu Beginn in Shlomo irrten, zeigte die Tatsache, wie wichtig ihm das Andenken an meine Familie war. »Wenn du willst, nehme ich deinen Namen an«, meinte er eines Tages, als wir über unsere bevorstehende Hochzeit sprachen. Ein Vorschlag, der absolut untypisch war für die damalige Zeit und für ein so religiöses, traditionelles Land. Es war ihm ein persönliches Bedürfnis, dass mein Familienname weitergeführt wurde, nachdem fast meine gesamte Familie, vor allem die namensgebende männliche Seite, in Auschwitz ausgelöscht worden war. Ich selbst, religiös erzogen, konnte mich jedoch nicht damit anfreunden, meine Schwestern bei ihren Eheschließungen übrigens auch nicht. Und einen Feminismus, auf den ich mich hätte berufen können, den gab es zu der Zeit in Israel noch nicht. Also nahm ich seinen Familiennamen an: Aus Rachel Cahana wurde Rachel Hanan.