2
Verhandlung
I ch stieg die achtzig Stufen zu meinem Büro mit flatterndem Magen und Ärger auf den Fersen hinauf. Ich zwang meine Füße dazu, sich zu bewegen, hielt den Kopf hoch erhoben und versuchte, mir meine Ohnmacht nicht anmerken zu lassen. Mr. Hunter konnte zu Bericht geben, dass mich ein Hexer Gesternter genannt hatte, und allein dies würde eine Untersuchung nach sich ziehen. Da käme ich niemals mehr raus.
Mr. Hunter hielt die gesamten vier Treppen Schritt mit mir. »Steigen Sie diese Stufen jeden Tag?«
»Mehr als einmal«, sagte ich. »Treten Sie ein.«
Er erfasste alles mit einem Blick. Ich hatte kaum genug Platz für meinen Schreibtisch, und ein Gästestuhl lehnte zusammengeklappt am Fenstersims. Er würde seitwärts sitzen müssen, da der Platz zwischen meinem Schreibtisch und der Regalwand zu knapp war.
Er beugte sich nach unten, musterte meine broschierten Groschenromane und inspizierte dann meine kleine Sammlung medizinischer Notizbücher. Er maß mit einem weiteren Blick die Entfernung von Wand zu Wand und verzog das Gesicht.
»Winzig.«
Seine abschätzige Geste ließ mein Rückgrat steif werden. Ich hatte eine schöne Aussicht über den Südgarten. Viele Ärzte beneideten mich darum. »Sie wollten einen Ort, an dem wir ungestört sprechen können.«
»Ich vermute, dass Sie ebenso wenig wollen wie ich, dass jemand diese Unterhaltung mithört.«
Er legte seine Handschuhe und den Hut ab, und unter anderen Umständen wäre sein Anblick erfreulich gewesen. Sein Haar war so lang, dass er es zu einem goldenen Zopf geflochten trug. Dieser Zopf lag auf seiner Schulter und reichte bis über den Mantelkragen. Seine formelle Kleidung war rein, als hätte Nick Elliots Übelkeit sich gescheut, seine Erscheinung zu besudeln. Er war nach der neuesten Mode gekleidet, und sein Gesicht hätte auf jede Kinoleinwand gepasst – goldene Symmetrie der Gesichtszüge mit feinen Knochen und kühn blickenden blauen Augen. Die Linien um seinen Mund deuteten auf eine heitere Natur, und das Licht in seinen Augen ließ darauf schließen, dass ihn etwas amüsierte, ohne dass er dabei grausam erschien. Alles in allem machte ihn das zum anziehendsten Mann, den ich seit Jahren gesehen hatte. Es war furchtbar schade, dass hierzulande Gentlemen keine Schauspieler wurden.
Denn er war ein Gentleman. Sein Mantel war aus gutem Kaschmir, seine Handschuhe aus feinem Ziegenleder, doch nicht nur das Gutsituierte – sein ganzes Auftreten zeugte von Gelassenheit und Privilegien. Als er seine Hand ausstreckte, nahm ich sie, ohne zu zögern. Sein Gesicht verwandelte sich kurz, so als würde ich ihn durch altes, welliges Glas betrachten. Ich behielt dank jahrelanger Übung meine liebenswürdige Miene bei. Doch das Flackern, das seine Züge verzerrt hatte … Was war das gerade gewesen?
»Nun. Sie sahen alles mit an«, sagte ich.
»Ja.«
»Hörten alles.«
»Leider ja.«
»Und Sie schweigen, wenn …«
Er verzog ganz leicht den Mund, er war atemberaubend. »An dieser Stelle erwarten Sie, dass ich anfange, zu drohen und zu erpressen, richtig? Soll ich Sie um Geld bitten, oder irgendeine Freveltat fordern?«
Ich hob unwillkürlich den Kopf, blickte ihn direkt an und lockerte meine zu Fäusten geballten Hände. »Bringen Sie’s hinter sich, ja? Es ist spät.«
Sein Lächeln verblasste. »Vergeben Sie mir meinen Scherz, bitte. Ich möchte genauso wenig mit einer Hexe in Verbindung gebracht werden wie Sie, Doktor. Wenn jemand hört, dass er versuchte, Sie mit seiner Macht zu berühren …«
»Bin ich ruiniert«, seufzte ich. »Sagen Sie mir, was Sie wollen.«
»Ich suchte jemanden wie Sie.«
Er wusste es. Wusste er auch, was Sir Christopher bedeutete? Mein Magen zog sich zusammen, und ich versuchte, mich mit einem langsamen Atemzug zu beruhigen. Er kam gleich zur Sache, seine Ehrlichkeit ein gerade geführter Klingenstreich. Er suchte eine Hexe. Er würde sich in meine Verhältnisse einmischen und dann nicht mehr verschwinden. Ich musste ihn loswerden. Doch tief in meinem Inneren wusste ich bereits, dass diese attraktive Erscheinung nicht mehr gehen und mir Schwierigkeiten bereiten würde.
Ich sagte nichts weiter. Die Menschen sprechen gewöhnlich, um die Stille zu füllen, um die Verbindung nicht abreißen zu lassen. Ich stand geduldig da und wartete.
Er lächelte mich an. Nicht beschwichtigend, da war kein Anzeichen von Unsicherheit. »Ich möchte wissen, wer Nick Elliot ermordet hat.«
Wollte er das? Ich stellte mich so, dass der Schreibtisch zwischen uns stand, und ordnete die Berichte auf der Schreibtischunterlage. »Warum? Sie kannten ihn nicht.«
»Nennen Sie mich einen Menschenfreund.«
Wäre ich nicht so gut erzogen, ich hätte ihm ins Gesicht gelacht. Menschenfreund. Gewiss. »Es muss mehr daran sein. Warum wollen Sie wissen, wer Nick Elliot ermordet hat?«
Er neigte den Kopf, und mir gefiel, wie seine Augen das Lampenlicht reflektierten wie die Augen einer Katze. »Interessant. Sie leugnen nicht, dass er ermordet wurde, Doktor.«
Oh, verdammt. »Das werde ich erst nach der Untersuchung wissen.«
Er neigte sich zu mir. »Werden Sie diese jetzt vornehmen?«
»Ich muss nach Hause, bevor meine Hausherrin die Tür verriegelt.«
»Ah. Sie möchten, dass ich zum Punkt komme.« Mr. Hunter lehnte sich an meinen Aktenschrank. »Ich muss wissen, warum die Magie stirbt.«
Ich blieb stumm. Die Magie starb? Das stimmte nicht. Er lag falsch …
Verdammt! Er hatte mich mit dieser Äußerung schockiert. Ich beeilte mich, es wiedergutzumachen.
»Ich verstehe«, sagte ich. »Und woher sollte ich die Antwort kennen?«
»Ich möchte, dass Sie mir helfen, sie zu finden. Sie und Nick Elliot sind die einzigen Hexen, die ich in Aeland getroffen habe. Mr. Elliot ist tot. Doch Sie sind am Leben und frei.«
Und ich hatte es Nick versprochen, nicht wahr? Er hatte mir seine Macht gegeben, damit ich die … Wahrheit herausfand. Über den Krieg, vermutete ich. Den Krieg, den ich zu hassen gelernt hatte, den Krieg, der so viele Männer innerlich zerrüttet hatte. Mr. Hunter wollte helfen, er wusste bereits zu viel über mich, kannte zu viele meiner Geheimnisse. Ich hatte keine Wahl, als zu leugnen. »Sie möchten, dass ich Ihnen helfe, herauszufinden, wer Nick Elliot vergiftete, und das Wissen führt Sie … Nein, das ist verrückt. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Das können Sie, Sir Christopher. Und ich kann Ihnen dabei helfen.«
Mir blieb die Luft weg. Das war schlimmer als Erpressung.
Ich war aufgeflogen.
Lauf, befahl ich meinen nutzlosen Beinen. Lauf!
»Sie haben Angst«, sagte er. »Das brauchen Sie nicht. Ich bin genauso in Gefahr wie Sie.« Mr. Hunter hob eine Hand, die zur Faust geballt war. Die Ränder seiner Finger glühten rot, und er öffnete die Hand, um mir ein winziges Licht zu zeigen. Der Kern brannte heller als eine Kerze, heller als Gaslampen, beinahe so hell wie Aether.
Falls er die Wahrheit sagte, konnte das nur zwei Dinge bedeuten: Er war ein Hexer von niederer Geburt in feinen Kleidern, oder er war ein geflüchteter Magier wie ich. Er bot mir diese Zurschaustellung seiner Magie als Zeichen des Vertrauens an. Er konnte mich denunzieren, doch ich konnte ihn ebenso denunzieren.
Falls er nicht log. Außerdem sollte ich ihn in jedem Fall denunzieren. Ich versuchte es mit einem letzten Bluff. »Es tut mir leid. Wie erzeugen Sie dieses Licht?«
»So.« Er hob das Licht an und berührte damit meine Hand.
»Was …?«
Und wieder berührte ein anderes Ich das meine, angespannt und hoffnungsvoll in dem Augenblick, bevor diese Macht sich mit meiner verband. Ich riss meine Hand zurück. Das Licht haftete an meinen Fingern, flackerte ohne seine Berührung, die es festigte, verblasste und erstarb beinahe.
»Verbinden Sie sich damit«, sagte er. »Berühren Sie es, wie Sie es mit einem Herzen tun würden.«
Das Licht beruhigte sich, flackerte ein wenig schwächer als zuvor. Es tanzte auf meinen Fingerspitzen und mein Blut rauschte, als ich mich dank der Magie größer fühlte, scharfsichtig und mächtig.
Das hatte ich so sehr vermisst.
Er berührte mich wieder und leitete meine Bemühungen. »Sie leben. Sie sind frei. Doch Sie sind ungeschult.«
Das kleine Licht leuchtete. Ich hatte den Trick erkannt, wie ich es halten und mit kleinen Impulsen meiner Macht nähren musste, damit es brannte.
Ich hob den Blick von dem Licht und sah in Mr. Hunters Gesicht. Sein warmes Lächeln spiegelte das Staunen wider, das ich spürte. Ich konnte die Verbindung zwischen dem Licht und mir nicht sehen. Ich versuchte, es dazu zu bringen, heller zu leuchten …
Ein Windstoß, eine lose Glasscheibe klirrte. Ein Luftzug und meine Gaslampe flackerte, die Kälte sickerte in mein Bewusstsein: Konnte uns jemand sehen? Ich schloss die Faust. Meine Knochen schienen Schatten, gebadet in Rot, bevor schließlich das Licht erlosch und mich klein und frierend zurückließ. Ich befand mich voll und ganz in seiner Hand.
»Helfen Sie mir, herauszufinden, wer Nick Elliot ermordete, und alles, was ich Sie vor der Frostnacht lehren kann, gehört Ihnen.« Er stützte das Kinn auf seine Hand und musterte mich. »Wir beginnen damit, wie Sie Ihr wahres Wesen verbergen können, denke ich. Sie strahlen, Gesternter, für jeden sichtbar, der die Macht hat zu sehen.«
Hinter der Tür, die er da einen Spalt breit öffnete, lagen Möglichkeiten. Kingston würde wieder mir gehören, wenn ich für die hochgeborenen Magier, die magische Auren sahen, gewöhnlich erschien. »Was geschieht dann?«
Er zögerte. »Dann muss ich nach Hause zurück.«
Nur bis zur Frostnacht. Wie viel Ärger konnte er noch machen, wenn er in acht Tagen verschwunden wäre?
Zu viel Ärger, das wusste ich. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich muss mich um die Patienten kümmern.« Doch Nick Elliot hatte ein besseres Hospital verschmäht und versucht, mir etwas über den Krieg und die Soldaten zu sagen, bevor er starb. Was hatte er gemeint? Und wer wollte ihn deshalb töten?
»Nie würde ich einen Heiler bitten, seine Patienten im Stich zu lassen«, sagte er. »Doch wenn ich Ihnen etwas beibringe, mit dem Sie ihnen helfen könnten, wäre es das nicht wert?«
Wenn er mir half, etwas gegen die Dinge zu unternehmen, die ich sah, wenn ich sie berührte …
Nein. Keine Wunder mehr. Doch was auch immer Nick Elliot gewusst hatte, war mit ihm gestorben, außer jemand machte sich daran, es aufzudecken. Wenn Nick gewusst hatte, was meine Patienten plagte, warum sie litten, ob ihre schlimmsten Ängste vor Gräueltaten wahr würden …
Eine der Treppenstufen knarrte. Mr. Hunter riss alarmiert die Augen auf, ich nahm wieder meinen Platz ein, als hätten wir uns über den Schreibtisch hinweg unterhalten, und er klappte den Besucherstuhl auf und ließ sich lässig darauf nieder. Schritte näherten sich. Kreppgummisohlen. Eine Krankenschwester.
Ich entspannte mich wieder.
Die Silhouette vor dem Milchglasfenster der Tür war dunkel und klein, das Klopfen vertraut. Robin öffnete die Tür und schob sich seitlich hindurch. »Du kannst die Berichte bis morgen liegen lassen. Die Polizei kommt nicht.«
»Nicht? Warum?«
»Sie sind alle bei einem anderen Mord. Der Mörder ist ein Veteran, wie beim letzten Mal. Schrecklich, nach dem was ich gehört habe.«
Robin erblickte Mr. Hunter und senkte den Kopf. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht stören.«
Er stand auf. »Bitte, machen Sie sich keine Gedanken, Mrs. …«
»Das ist Miss Robin Thorpe«, sagte ich. »Robin, Mr. Tristan Hunter.«
»Hocherfreut, Miss Thorpe.« Er streckte die Hand aus, verwandelte das aber in eine höfliche Verneigung, als Robin den Kopf zum Gruß neigte.
»Entschuldigen Sie bitte, Mr. Hunter, aber ich habe gerade die Leiche berührt. Angenehm, Sie kennenzulernen«, sagte sie, dann wandte sie mir ihre Aufmerksamkeit zu. »Miles, hast du mich gehört? Du brauchst diesen Bericht nicht sofort zu schreiben.«
»Ich sollte jetzt Abschied nehmen, damit Sie nach Hause gehen können, Doktor. Ich hoffe, Sie werden über mein Angebot nachdenken. Darf ich Ihre Antwort morgen erwarten?«
Ich zögerte. Es war nicht klug, mich da hineinziehen zu lassen, doch was immer Nick gewusst hatte, wenn es meinen Patienten half … brauchte ich es. Verdammt.
»Kommen Sie am Nachmittag. Meine Schicht ist um vier Uhr vorbei.«
»Ich freue mich darauf.« Er tippte kurz an seinen Hut und ging. Meine Haut kribbelte, als ob er mich noch immer berührte, mich anleitete, das Licht am Leuchten zu halten.
Robin wartete, bis Mr. Hunters Schritte auf dem ersten Treppenabsatz verklangen, die Hände auf den Hüften. Sie wandte sich um und sah mich an.
»Welches Angebot?«
Meine Stifte lagen durcheinander auf der Schreibunterlage. Ich ordnete sie und die Berichte, die ich geschrieben hatte. »Er will wissen, ob Nick Elliot ermordet wurde. Bekomme ich eine zu rauchen?«
Sie grinste. »Nein. Nur an schlechten Tagen.«
»Ich habe einen Patienten verloren. Ist das schlecht genug?«
»Nein. Warum kümmert es diesen hochmütigen Kerl, ob es ein Mord war?«, fragte Robin mit zusammengekniffenen Augen. »Sagte er nicht, er fand Elliot auf der Straße?«
»Das tat er.«
»Was, wenn er selbst Nick Elliot getötet hat und nun die Ermittlung vereiteln will?«
Kluge Robin. Doch wenn er es gewesen war, warum hatte Mr. Elliot ihn dann nicht beschuldigt? »Daran habe ich nicht gedacht.«
»Ich schätze, du kannst der Polizei sagen, dass er ein wenig zu interessiert ist«, sagte Robin. »Sie übernehmen immerhin die Ermittlungen.«
»Das kann ich.« Ich hatte nicht vor, das zu tun. Mr. Hunter musste mich nur denunzieren, und ich war erledigt. »Was machst du noch hier? Solltest du nicht deine Schicht wegen des Lunchs aufteilen?«
»Du musst auch nach Hause. Du musst morgen bei dem Lunch besonders reizend zu einer reichen Witwe sein. Das Budget für die Wäscherei wird noch einmal gekürzt. Wir brauchen dringend Spenden.«
Also hatten die gemeinen kleinen Sparmaßnahmen des Verwaltungsrats diesmal die Pflege getroffen. Beauregard brauchte Geld, doch das verschlang sich von selbst. »Ich bitte sie um fünftausend Noten.«
Ich hatte ein Lächeln erwartet angesichts einer solch ungeheuerlichen Summe, doch sie schob die Hände in die Taschen ihres dicken grauen Rocks. »Da ist noch etwas.«
»Was?«
»Ich habe meine Kündigung eingereicht. Ich gehe an die medizinische Fakultät.«
Mir blieb die Luft weg.
Robin war die beste Krankenschwester im Hospital. Sie war meine Freundin. Alles würde zusammenbrechen ohne sie. Die Patienten würden ein Jahr darauf warten, bis sie sie behandelte, wenn sie erst einmal Dr. Robin Thorpe wäre. Sie verließ das Hospital … verließ mich.
Ein guter Mann würde sich für sie freuen. »Hervorragend. Herzlichen Glückwunsch. Queen’s Universität?«
»Ja. Ich beginne zum Frostmonat.«
»Allgemeinmedizin?«
»Chirurgie.«
Die Warteliste in meinen Gedanken verdoppelte sich. »Deine kleinen Hände sind perfekt dafür. Du wirst auf einer Kiste stehen müssen.«
Sie lachte. »Ich könnte Stelzen nehmen.«
Mein Herz zog sich zusammen. Sie würde die Beste sein. »Ich werde dich vermissen.«
»Nein, wirst du nicht. Wir bleiben in Kontakt. Obwohl du auch von hier weggehen solltest.« Sie machte eine ausholende Geste, die das ganze Hospital einschloss. »Du bist so viel besser als das hier.«
»Sie brauchen mich.« Keiner der anderen Ärzte in der Abteilung für Psychische Leiden hatte den Krieg erlebt. Sie wussten nicht, wie die »hoffnungslos unterlegenen« Laneeri unter Zuhilfenahme von Überraschung, Lautlosigkeit und Brutalität zurückgeschlagen hatten. Die Männer hier brauchten mich. Nach all dem, was ich in Laneer erlebt hatte und tun hatte müssen, könnte ich sie niemals im Stich lassen.
Robin seufzte. »In Ordnung. Für heute lasse ich es gut sein. Doch du musst nach Hause gehen.«
»Ich sollte meine Berichte schreiben …«
»Die können warten, Miles. Geh nach Hause. Schlaf in deinem eigenen Bett, und lass uns morgen bei der Benefizveranstaltung Spaß haben.«
»Was würde ich ohne dich nur tun?« Das würde ich herausfinden müssen. Sie würde gleich nach der Frostnacht weg sein.
»Du kommst zurecht.« Robin gab mir den Hut, entschlossen, mich hinauszuscheuchen.
Ich war schon fast zu Hause, als ich das Feuer roch. Und kurz darauf sah ich es: Ein schmales Holzhaus brannte mitten im Viertel, die Giebel standen in Flammen. Eine rußverschmierte Frau starrte dumpf auf die Möbel, die ihre Familie aus dem Haus geschleppt und auf der Straße abgeladen hatte, während Nachbarn eilig Decken, Wasser und Gebete brachten.
Ich war in Nullkommanichts von meinem Fahrrad abgestiegen. »Ich bin Arzt«, rief ich. »Geht es allen gut?«
Ein großer Mann im Ledermantel eines Schweißers brachte ein kleines Mädchen zu mir, das blass war und weinte. »Sie hört nicht auf.«
»Sind Sie ihr Vater?«
»Ein Nachbar. Der Vater ist auf Schicht an den Druckerpressen. Alle haben es rausgeschafft, aber der nächste Feuerwehrwagen ist in der Trout Street.«
Von der Hitze der Flammen spannte die Haut in meinem Gesicht, doch die Nachtluft kroch mir kalt in den Nacken. Wolken bedeckten den Himmel, zu denen sich der schwarze Rauch gesellte, der von dem brennenden Haus aufstieg. »Sind alle aus den Nachbarhäusern draußen?«
Er gestikulierte in Richtung der Menschen, die Möbel, Werkzeugkisten, Uniformen und Lebensmittel aus ihren Häusern trugen. Der Wind war im Augenblick auf unserer Seite, doch die hohen, schmalen Häuser im neunzehnten Viertel auf der East Raven Street standen dicht aneinander. Eine Bö konnte das nächste Dach in Flammen setzen, und das nächste, und ein Feuerwehrwagen für ein ganzes brennendes Viertel wäre, als pisste man auf ein Lagerfeuer.
Die kalte Brise ließ meinen Nacken kribbeln, und ein hohes Heulen hallte in meinen Ohren, so wie Aether sich anfühlt, nur dass es immer näher kam. Die Menge teilte sich vor der langen Schnauze eines schnittigen, sagenhaft noblen schwarzen Automobils.
Ich wich mit dem weinenden kleinen Mädchen in den Armen zurück. Sie hatte ein wenig Rauch eingeatmet, doch die frische Luft würde ihr helfen. Ich verbarg mein Gesicht hinter ihr, als die schweren Türen des Autos sich öffneten und ein Mann ausstieg.
Er war wie für eine Opernpremiere gekleidet. Er umrundete den Wagen und öffnete die Beifahrerseite, verneigte sich dann vor der Frau, die in einer Wolke aus Lavendelzigarettenrauch aus dem Gefährt ausstieg. Ein glitzerndes schwarzes Abendkleid umhüllte ihre eleganten, blassen Glieder, und eine Schneefuchsstola lag um ihre Schultern. Ich erkannte die Familie, der sie angehörte, an dem patrizischen Schwung ihrer langen Nase und der eisigen Blässe ihres Haars. Sie war eine Carrigan, eine Sturmsängerin, und wenn sie jetzt zu mir herübersah, war alles vorbei.
Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb. Sie blickte nicht zu mir oder zu sonst jemandem in der Menge auf der Straße, sondern zog es vor, sich auf die Wolkenbank über dem Feuer zu konzentrieren, während das bernsteinfarbene Licht auf ihrer Haut leuchtete. Der Mann wartete zwei Schritt hinter ihr. Sie stand mit zurückgeneigtem Kopf da, den Pelz um die Schultern geschlungen, und wirkte Magie direkt vor den Augen der Menschen, die auf der Straße standen.
Kein Anzeichen der Anstrengung war ihr anzumerken, doch die Knie ihres Sekundärs knickten ein, als sie so viel seiner Kraft nahm, wie es ihr beliebte. Ich schauderte. Das wäre ich gewesen, wenn ich nicht geflohen wäre. Nichts als der Speichellecker eines Sturmsängers, meine eigene Gabe als nutzlos abgetan.
Ich wandte mein Gesicht ab, als die Sturmsängerin und ihr Lakai zum Wagen zurückkehrten. Sie fuhren davon, während die Wolken über unseren Köpfen sich zusammenzogen, gewaltig und dunkel vor Wasser. Erste Tropfen landeten auf den Wangen der Zuschauer, die nach oben blickten. Das kleine Mädchen in meinen Armen hörte auf zu schluchzen, als der Regen auf ihre Stirn fiel, und sie wand sich mir vom Arm und rief dabei: »Regen! Regen!«
Bald klebten den evakuierten Nachbarn die Nachthemden an der Haut. Sie priesen den Regen als Wunder, umarmten einander erleichtert. Es war tatsächlich ein Wunder für sie. Sie hatten keine Ahnung, dass eine wohlhabende Frau mit glitzernden Perlen und einem Pelz ihre Mietshäuser mit Magie gerettet hatte. Wie konnten sie auch? Magie war selten, war ein gefährlicher Fluch. Sie brachte niemandem Glück. Ich stieg auf mein Fahrrad, und fuhr so schnell gen Osten, wie meine Beine es erlaubten.
Ich musste mich klein machen, um möglichst nicht aufzufallen. Falls Mr. Hunter mich lehren würde, wie ich meine Macht abschirmte, könnte ich aufhören, nur durch die Nebenstraßen von der Arbeit nach Hause zu fahren. Ich müsste zwar im East End bleiben, doch ich könnte in Restaurants gehen, ins Kino, außerhalb des Hospitals ohne Sorge, mitten unter die Leute. Und falls Nick verstanden hatte, was es mit den Albträumen und den Obsessionen meiner Patienten auf sich hatte, würde ich Mr. Hunters Hilfe nicht mehr ablehnen können.
Als ich über die Kreuzung 32nd East und Magpie Road fuhr, war das Pflaster vollkommen trocken. Von meiner Beinahe-Entdeckung und dem überschäumenden Gefühl von Nicks Macht war mir übel geworden. Ich war nur entkommen, weil ich keiner Beachtung wert war. Ich hatte nur überlebt, weil ich für tot gehalten wurde.
Ich packte den Lenker fester und trat härter in die Pedale.