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Eine bescheidene Maus
U
m halb sieben Uhr morgens schreckte ich die Spatzen von dem hohen Eisenzaun auf, der um die Gärten des Beauregard-Veteranen-Hospitals stand. Ich hantierte an meinem Fahrradschloss, noch mit Handschuhen, und meine Finger kribbelten weiterhin von Nicks Macht und dem Drang, diese einzusetzen.
Die Absätze meiner besten Schuhe hallten durch die Eingangshalle. Die Plätze um den stummen, drahtlosen Radioapparat waren nicht besetzt. Ich wünschte einem Paar Chirurgen in roten Offiziersuniformjacken einen guten Morgen. Ihre Medaillen schwangen, während sie meinen grauen Flanellanzug missbilligend musterten. Missbilligung, nicht Entsetzen oder Abscheu. Hätte jemand davon erfahren, wäre mein Geheimnis längst im ganzen Hospital bekannt gewesen. Mit einem Mal fiel mir das Atmen wieder leichter.
Die Hälfte der Aetherlichter auf der Station für Psychische Leiden waren noch ausgeschaltet. Die Abteilungsschwestern grüßten mich mit einem Lächeln, arbeiteten aber weiter, unbeeindruckt von meiner Anwesenheit.
Niemand wusste also etwas.
Ich fröstelte, nahm meinen weißen Arztkittel vom Haken und wünschte mir, eine Strickjacke darunter zu haben. Eine Krankenschwester legte Zeitungen für mich auf den am besten beleuchteten Schreibtisch der Station, während der Kaffee gurgelnd fertig brühte.
»Danke, Kate.«
Sie nickte. »Werden Sie später Ihre Uniform anziehen, Doktor?«
»Ich habe Sie nicht dabei.« Würde sie es verstehen? »Ich fände es nicht richtig.«
Sie musterte mich. »Sie waren in Kalloo.«
Ich hatte meine ganze Zeit dort verbracht. »Mobiles Hospital 361«, gab ich zu. »Beauregard Bataillon.«
Der Zweifel, den ihre Mundwinkel ausdrückten, löste sich. »Ich hatte drei Brüder im Princess Anna’s.«
Hatte. »Kam einer von ihnen nach Hause?«
»Albert ist gerade auf dem Weg.«
»Das freut mich.«
Ihr Lächeln sank in sich zusammen.
Ich bot ihr mein Taschentuch, doch sie hatte selbst eines. Alle ihre Brüder waren gegangen, um in Sir Percys Krieg zu sterben. Gestorbene Geschwister hinterließen eine Lücke, die bei jeder Berührung schmerzte, und ich dachte an meine eigene Schwester, während ich Kate Smalls Hand streichelte.
Sie sammelte sich und ging, um den Bericht des Nachtdiensts zu holen, und ließ mich mit den Zeitungen zurück, die Kingstons zwei Seiten widerspiegelten.
Die Titelseite des Herald
zierte eine Fotografie von Dame Grace Hensley, die das Band zu Kingstons neuestem aetherbetriebenem Batterieaustauschdepot durchschnitt. Ein Hensley Triumph,
verkündete die Schlagzeile, und darunter 300 neue Stellen rechtzeitig für die Heimkehr der Soldaten
.
Ich strich mit den Fingern über Dame Graces Gesicht und schob dann den Herald
zur Seite.
Der Star
hatte die Druckerpressen zugunsten einer Riesenschlagzeile gestoppt. Fett stand dort ein einziges Wort: Grauen!
Ein mutiger Fotograf hatte das Risiko, eingesperrt zu werden, auf sich genommen, um das Bild zu machen, das sich über die Titelseite zog. Man musste sicher eiserne Nerven haben, um sich in dieses Schlachthaus zu wagen. Ich erkannte die schwarzen Streifen auf der Tapete. Die Gestalten unter den weißen Laken darunter waren klein und reglos.
Ich las die Geschichte von Korporal James Badger, der seine Frau und Kinder mit einem Küchenmesser erstochen hatte, bevor er die Klinge gegen sich selbst richtete. Die Nachbarn hatten berichtet, dass er nach seiner Rückkehr aus dem Krieg seltsam still und zurückgezogen gewesen war. Ein Giftmord kam nicht dagegen an. Nicks Geschichte würde bloß eine Lücke zwischen konkurrierenden Anzeigen für aetherbetriebene drahtlose Empfänger und Telefondienste füllen.
»Wie schrecklich.« Kate legte die Dienstberichte ab und las über meine Schulter mit. »Glauben Sie …?«
Ich fing ihren Blick auf und keiner von uns wagte, auszusprechen, was wir dachten. Ich schob den Star
von der Stationsschreibtischunterlage. »Möchten Sie die Zeitung?«
Sie faltete sie zusammen. »Die Patienten sollten das nicht sehen.«
»Sie könnten versuchen, es zurückzuhalten.« Die Männer würden die Geschichte dennoch über den Radioempfänger hören. Sie würden es einander erzählen, und die Geschichte würde bei jeder Erzählung weiter ausgeschmückt.
Die Kaffeemaschine verstummte. Ich schob den Stuhl zurück, doch sie fragte: »Sie nehmen ihn schwarz?«
»Ja, danke.«
Eine Kopie des Memos vom Vortag lag auf der Theke und erinnerte mich daran, dass ich ein Drittel meiner Patienten würde entlassen müssen. Bei all der Aufregung gestern hatte ich kaum mehr daran gedacht.
»Hat jemand Dr. Matheson gesehen?«
»Nicht um diese Zeit. Das Memo?« Kate gab mir eine dampfende Tasse, die ich mit beiden Händen entgegennahm.
»Natürlich.«
»Niemand möchte so viele nach Hause schicken, Doktor.«
Nicht ohne Heilung, oder auch nur die Diagnose, die ich mir kaum vorzustellen wagte: dass die Veteranen in meiner Hospitaleinheit mit Korporal James Badger mehr gemeinsam hatten als ihren bloßen Kriegseinsatz. Schickte ich einen Mann nach Hause, und es käme zu einer Bluttat, würde ich mir das selbst nie verzeihen können. Ich musste Nick Elliots Geheimnis aufdecken. Ich hoffte, dass es mir verriet, was ich tun sollte. »Ich weiß. Doch sie sind nicht bereit.«
Kate tätschelte meine Schulter und ließ mich allein, damit ich den Papierkram des vergangenen Abends lesen konnte. Die Dienstprotokolle waren eine Chronik der Frustration: Patienten wollten nicht schlafen. Patienten wollten ihre Medikamente nicht nehmen. Patienten leisteten Widerstand.
Ich würde Münzen gegen Knöpfe setzen, dass Dr. Crosby die Nachtschicht gehabt hatte. Ein Blick über meine Schulter bestätigte es – er saß im Bereitschaftszimmer, kaute auf seiner Unterlippe und vergoss literweise Tinte mit seinem Kolbenfüller. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder den Protokollen zu und las, wer schlaflos in der Dunkelheit gelegen, wer Albträume gehabt hatte und wer durch die düsteren Flure geschlurft war, weil er die Nacht nicht überstehen konnte, ohne dass jemand Wache hielt.
Das morgendliche Gemurmel der Krankenschwestern beim Dienstwechsel verstummte. Ich zog den Kopf ein.
Du bist in Sicherheit, Miles. Sei kein Narr.
Ich zupfte an meinen Schnürsenkeln, bevor ich den Kopf wieder hob und in die Richtung blickte, in die sich alle Köpfe gedreht hatten, zum unbeleuchteten Nordflur.
Der kleine Gerald war aufgestanden. Bei jedem Schritt schwang er seine Krücken vor sich her, die mit einem gedämpften Klopfen aufschlugen, das Geräusch von Gumminoppen auf Holzboden. Er pendelte zwischen den Krücken hin und her, der schwankende Körper von einem nackten Fuß gestützt. Die Geräusche lösten eine Gänsehaut bei mir aus.
Ich hielt eine Krankenschwester an, die ging, um ihn zurück ins Bett zu scheuchen. »Es ist noch früh, Gerald.«
»Morgen, Doc. Sie tragen ja Ihre Uniform gar nicht.« Sorgenfalten furchten seine Stirn. »Stimmt etwas nicht? Gehen Sie nicht zum Lunch mit den anderen?«
»Doch, ich gehe.« Ich kreuzte die Arme, doch zwinkerte ich ihm gleichzeitig zu, um seine Ängste zu beschwichtigen. »Was hat dich aufgeweckt?«
»Der alte Gerald, Doc.« Sein Gesicht war verzerrt, das dunkle Haar vom Kissen zerwühlt. »Er hat das Zittern.«
»Er hat geredet?«
»Mit mir. Mit Dr. Crosby wollte er letzte Nacht nicht reden.« Geralds Krücke ächzte unter seinem Gewicht, als er sich bewegte, und dabei Dr. Crosbys Blick mied. Ein weiterer Schauder krallte sich in meinen Rücken.
»Gut, dann lass uns mal sehen, ob er mit mir redet.«
Wir liefen rasch auf unserem Weg zu Station 12, ein Raum mit hoher Decke und Fenstern, die nach Norden zeigten und den Blick auf den Himmel freigaben, der die Farbe von Kohlestaub hatte. Gaslampen schienen hier keine, um die Patienten in ihrem leichten Schlaf nicht zu stören. Sieben Männer lagen in ihren Betten.
Im vierten Bett von der Tür aus lag der alte Gerald auf dem Rücken und starrte an die Decke. Müdigkeit zeichnete Falten in seine Miene, doch er grub seine Fingernägel in die Handflächen. Seine Lippen bewegten sich in einer geräuschlosen Unterhaltung, der Bewegung nach ein kurzer Satz, den er immer und immer wieder murmelte.
Der junge Gerald humpelte hinüber und ließ sich auf seinem eigenen Bett nieder, bedeckte sein Bein mit der grauen Wolldecke. »Der Doktor ist hier.«
Der alte Gerald drehte den Kopf und blickte den Jungen kurz an. »Du hast es ihm gesagt.«
»Musste ich«, sagte der Junge. »Würdest du auch tun, wenn ich’s wär.«
»Du bist jung«, sagte der alte Gerald, als ob sie mehr als zehn Jahre auseinander wären.
»Du hast eine Familie«, sagte der junge Gerald. »Ich habe nicht einmal eine Liebste. Was ist mit ihnen?«
Das reichte. Ich beugte mich zwischen die beiden und goss jedem Wasser in sein Glas. Der alte Gerald wurde still. Der junge Gerald presste die Lippen aufeinander, verärgert über die Unterbrechung.
Ich bot dem alten Gerald das Glas an. Er beäugte es, nahm dann einen bedächtigen Schluck.
»Ich weiß, dass du heute ein wenig angeschlagen bist. Wir müssen nicht darüber reden.« Das wollte ich nicht. Erzählte er mir, dass er darüber nachgedacht hatte, sich durch eigene Hand in den Ewigen Hort davonzumachen, würde ich ihn zwangseinweisen müssen. Ich hasste die Regel, die den Patienten das Recht auf ihre Verzweiflung nahm. Ich war selbst an diesem Punkt gewesen, und ich wusste zu gut, wie es sich anfühlte.
Also lenkte ich die Unterhaltung auf einen sichereren Pfad. Dr. Crosby hatte sich bereits darüber beschwert, aber ich fragte dennoch. »Hast du geschlafen, Gerald?«
»Kann nicht«, sagte er. »Er
träumt, wenn ich das Medikament nehme.«
Ah. Ein Teil des Bildes wurde klarer. »Von was träumt Er
?«
»Vom Töten«, sagte der alte Gerald. »Und der glühenden, schrecklichen Freude, die Er
daran findet. Tötet jeden auf der Station. Den jungen Gerald, Sniffy, Schwester Robin – grauenhaft, die Dinge, über die Er
lacht. Ich kann nicht schlafen, Doc.« Der alte Gerald krallte die Finger in die Decke. »Sie wissen nicht, was Er
tun wird. Wenn ich schlafe …«
Ich hielt mich zurück, ihm die Hand zu reichen, um ihn zu trösten. Voll von Nicks Macht, wie ich war, wäre es zu leicht, sie einzusetzen. Seine braunen Augen waren weit aufgerissen, und sein Blick huschte durch den Raum. Er atmete kurz und keuchend durch den Mund. Nahm ich jetzt seinen Puls, würde ich spüren, dass sein Herz raste. Hatte er die ganze Nacht in dieser Panik verbracht?
Gerald Grimes war nicht einmal mein schlimmster Fall. Wie konnte ich sechzehn Männer auf die Straße setzen ohne jede weitere Hilfe vom Hospital oder von außerhalb? Verdammt sei dieser Krieg und verflucht, wer glaubte, Kriegsneurose sei nur ein Mythos und ein Vorwand. Ich schob meine Wut beiseite. Wenn Gerald dachte, dass ich auf ihn wütend war, machte es das nur schlimmer.
»Ich kann dir ein Medikament geben, damit du schlafen kannst, wenn du das möchtest?« Dumme Frage. Aber ich musste sie stellen.
»Nein.«
»Bitte, nimm das Medikament, alter Gerald«, sagte der Junge. »Ich bleibe bei dir. Ich halte Wache.«
»Kann nicht. Er
wird …« Die Schultern des alten Gerald sanken herab. »Ich kann nicht.«
Sein Geständnis überraschte mich nicht. Viele der Männer hier hatten ähnliche Wahnvorstellungen wie der alte Gerald. Für den Moment musste er sich sicher genug fühlen, um schlafen zu können. Kein Wunder. Niemand würde es überhaupt bemerken. Meine Fingerspitzen kribbelten mit Nicks Macht, ungeduldig und kaum im Zaum zu halten.
Niemand müsste erfahren, was ich getan hatte.
»Ich habe eine Idee. Du kannst schlafen, wenn ich Ihn
schlafen schicke.«
»Können Sie das?«
»Lass es uns ausprobieren, einverstanden?«
Ich nestelte an meiner Tasche und löste die Kette meiner Taschenuhr. Ein paar Stunden Schlaf würden nicht auffallen. Es würde in der üblichen Morgenroutine untergehen. Ich nahm sein Handgelenk. Sein Herzschlag flatterte, erschöpft und doch um sein Leben kämpfend. Halbmondförmige Kerben röteten seine Handflächen. Mein Blick löste sich von dem Bild vor mir und erfasste den leuchtenden Lebensweg im Körper des alten Gerald: der gehetzte Atem, der Puls seines Blutes bei jedem Herzschlag und der rotbraune Morast in seinem Kopf.
Ich hob die Uhr in die Höhe. »Sieh auf die Uhr. Folge ihr mit dem Blick und hör auf meine Stimme.«
So etwas hatte ich noch nie gesehen, bevor ich hergekommen war. In den Köpfen einiger meiner Patienten wirbelte es, wie ein Haufen winziger Insekten, die zornig über den Gehirnwindungen summten. Es könnte der Wahnsinn meiner Patienten sein. Es könnte die Quelle der schlimmsten Albträume der Patienten und dieser grauenhaften Verlockungen sein. Ich hatte zu große Angst gehabt, es zu berühren. Doch Gerald ging es schlechter, und ich musste Männer nach Hause schicken.
Es ist bloß ein
Patient. Ich berührte den zuckenden Saum der Masse mit meiner übersprudelnden Macht.
»Stell dir eine Kiste vor«, sagte ich. »Eine schöne, starke Kiste, Er
ist darin. Die Kiste ist fest verschlossen, und Er
kann nicht heraus.«
Der alte Gerald atmete langsam und tief. Ich packte die rotbraune Masse und hielt sie fest.
»Jetzt stell dir vor, wie die Kiste kleiner wird. Kleiner und kleiner. Er
ist immer noch darin gefangen, doch die Kiste schrumpft, und so schrumpft Er
auch. Wird winziger. Unwichtiger.«
Ich zwang es, sich klein zusammenzufalten. Es lauerte unter den Zwillingslappen seines Gehirns, winzig, doch es weigerte sich, ganz zu verschwinden.
»Sie haben es geschafft«, sagte der alte Gerald. »Das hat Ihn
erledigt.«
Ich hatte das Gefühl, zu viel Macht zu haben, abgelegt. Ich atmete freier. »Schlaf, ja? Nur ein Nickerchen. Ich schicke eine Schwester, die dir etwas verabreicht, falls du es brauchst.«
Andere Patienten waren wach, warteten, bis sie an der Reihe waren, um mit mir zu reden. Ich würde die Schichtbesprechung verpassen, wenn ich blieb. Doch ginge ich jetzt, lockerte das die dünnen Fäden des Vertrauens zwischen mir und meinen Patienten, und es würde mehr Arbeit erfordern, diese wieder zu festigen.
Es war keine Frage.
Ich setzte mich neben Bill Pike, der in Prinz Richards Erster Kavallerie in meinem Beauregard Bataillon gewesen war. Er hatte die gleichen Albträume wie der alte Gerald, vom Töten und Morden und kranker, düsterer Freude. Ich dachte an Korporal Badger in der Zeitung, als Bill den Ärmel meines weißen Kittels packte und sich daran hochzog.
»Helfen Sie mir, Doktor. Er
will Sie töten.«
Um elf Uhr versuchte ich, all meine Notizen niederzuschreiben. Meine letzten Einträge waren wenig mehr als ein oder zwei Zeilen gewesen, in Eile dahingeschmiert. Der Wohltätigkeitsverein von Kingston richtete diesen Lunch aus, und Mr. Hunters Worte gingen mir noch durch den Kopf. Ich leuchtete, für jeden sichtbar, der die Macht hatte, zu sehen.
Wie wichtig war diese Benefizveranstaltung? Sie war wichtig für uns, doch war der Anlass es wert, die Aufmerksamkeit eines Ritters der Königin zu erregen? Eine schreckliche Vision, wie von Stanleys oder Pelfreys Blick sich weitete, wenn sie quer durch den Raum einen toten Mann erspähten, verursachte mir Übelkeit. Ich stellte mir vor, wie ich aus dem Hotel lief, verhaftet und nach Hause gebracht wurde, um meine Macht einem Sturmsänger zur alleinigen Verfügung zu stellen.
Das gab den Ausschlag. Ich konnte es nicht riskieren. Ich musste mich in Arbeit vergraben und den Wagen verpassen. Papierkram. Berichte. Nick Elliot.
Perfekt. Ich hatte die Notfallbegutachtung noch nicht erledigt.
Auf der Notfallstation holte ich die Formulare und noch ein paar zusätzliche Blätter, die ich in meinem Büro hamsterte. Ich musste telefonisch eine Akte anfordern, um die Prüfung der Todesursache vornehmen zu können. Wenn diese eintraf, würde ich ganz einfach behaupten, die Zeit aus den Augen verloren zu haben.
»Miles!«, rief Robin da.
Verflixt. Da war sie, und sie war bildschön. Sie trug ihre langen, geflochtenen Haare in einem Netz, das vor winzigen, bunten Steinen glitzerte, die zu denen passten, die die perlenbestickten Schultern ihres meerblauen Kleides zierten.
»Robin«, sagte ich. »Du siehst fantastisch aus.«
»Du musst dich beeilen, die Wagen sind da.«
Sie ging vor mir die Stufen zu meinem Büro hinauf. Die Sohlen ihrer Schuhe tappten gegen die Gummitreppenstufen, schabten auf den Treppenabsätzen, jedes Geräusch schrill in meinen Ohren.
»Ich sehe dich dort. Ich will nur …«
»Miles Singer, ich kenne dich«, unterbrach sie mich. »Du hast Formulare in den Händen. Du denkst dir: Ich muss nur noch diese Notiz niederschreiben, damit ich sie nicht vergesse. Und dann schaust du auf, und die Wagen sind weg, und du hast den ganzen Lunch verpasst.«
Doppelt verflixt. »Das würde ich nicht tun.«
Robin tat meinen Protest mit einem Winken ab. »Du bist niemals zu einer Benefizveranstaltung eingeladen gewesen, Miles. Das ist wichtig. Schade nicht deiner Karriere.«
Sie stand in der Tür und wartete darauf, dass ich meinen Mantel anzog, dann eskortierte sie mich auf die Straße, wo die Wagen warteten. Robin suchte einen aus und legte ihre Hand, die in einem Satinhandschuh steckte, in meine, als ich ihr hineinhalf.
Ich war verloren. Ich nickte dem Arzt zu, der mir gegenüber saß, einer der Kollegen, der nicht in eine rote Uniform gekleidet war. »Ist dieser Lunch nur eine aufgebauschte Inszenierung? Ich war nie bei einem.«
»Keine Sorge«, sagte er. »Ein Lunch ist nicht so wichtig wie ein Dinner. Warten Sie, bis jemand Sie fragt, was Ihre Abteilung braucht, bevor Sie darüber reden. Was ist Ihr Fachgebiet?«
»Psychiatrie.«
Er kicherte. »Genießen Sie den Lunch und entspannen Sie sich.« Er blickte aus dem Seitenfenster und beendete so die Unterhaltung. Seine Worte beruhigten mich. Ich war auf der untersten Stufe. Ich konnte am Rand bleiben, unbemerkt, unerkannt.
Wir fuhren zum Hotel Edenhill, das wie ein Finger aus Stahl und Glas in den Himmel voll silberner Wolken ragte. Unsere Parade aus vierundzwanzig Ärzten und Schwestern in Anzügen, Tageskleidern und Ausgehuniformen wurde von den Rauchglasspiegeln an den Wänden vervielfacht, als wir in den Starlight-Ballsaal strömten.
Zwei Dutzend runde Tische für je acht Personen standen auf der einen Seite und Sessel für die Einflussreichen waren auf der anderen. Die meisten von uns liefen unter den Glaskugeln umher, die von der Decke hingen. Einzelne, sanft glühende Aetherlichter, die die Menge in ihrem Glanz badeten, während sie einen Nachthimmel mit Glühwürmchen nachahmten. Eine Brise ließ die Kugeln schwingen und aneinanderklicken, kaum hörbar im Summen der Unterhaltung und des hohen Pfeifens des Aethers.
Ein Teil des Champagners, den die Kellner den Adligen auftrugen, kam langsam sogar zu uns Parterrebesuchern hinüber. Robin griff nach zwei Gläsern und wir standen stumm da, als wir den ersten prickelnden Schluck nahmen. Es roch süß, grünes Gras und Wiesenblumen in der Nase – von Miss Vaniers Deer Valley? Vielleicht. Ich hielt mich an der Wand des Ballsaals und sah zu, dass die Menge stets zwischen mir und den reichen Gastgebern war.
»Du kannst dich nicht so an der Wand herumdrücken, dummer Kerl. Sieh mal. Da ist eine reiche Witwe.«
Ich erblickte die Schmetterlingsanstecknadel am Kragen ihres eleganten Tageskleides. »Sie trauert noch.«
»Grau ist gerade in Mode – oh, warte. Pass auf, Miles.«
Dr. Matheson trat aus der Menge. Sie trug ein ausgesprochen feminines Tageskleid von der Farbe des Mitternachtshimmels. Es betonte den goldenen Ton ihrer Haut und das dunkle Haar, doch ihre Miene spiegelte Ungeduld.
Ich gab mein Bestes, zu lächeln. »Dr. Matheson. Sie sehen hervorragend aus.«
Sie musterte meinen Flanellanzug. »Sie tragen nicht Ihre Uniform.«
»Sie muss für die Heimkehr bereit sein«, sagte ich. »Stellen Sie sich vor, ich würde Krabbensuppe daraufkleckern.« Als ob sich das Edenhill dazu herabließe, den Mitgliedern des Wohltätigkeitsvereins Krabbensuppe zu servieren! Bei dem Gedanken musste ich ein Lächeln unterdrücken. »Ich muss mit Ihnen reden. Über das Memo.«
»Ich kann Ihre Patienten nicht von dem Entlassungsbefehl ausnehmen. Diesmal haben Sie Pech.«
»Mathy.«
»Nein.«
»Ihnen geht es nicht gut genug.«
»Nein. Sechzehn Betten werden nicht annähernd ausreichen für die Männer, die nach Hause kommen. Und jetzt, das Kinn hoch.« Sie rückte meine Krawatte gerade. »Sie sind noch nie zu einer Benefizveranstaltung gekommen.«
»Ich kann mich rausschleichen und wieder ins Hospital gehen, wenn Sie möchten.«
Robin trat mir gegen den Knöchel.
Mathy zupfte an meinem Einstecktuch herum. »Entspannen Sie sich. Stellen Sie sich vor, das wären Ihre Patienten. Sie sind wunderbar mit den Patienten. Sie können mit ihnen reden. Machen Sie sich keine Sorgen.«
So behandelte einen wohl eine Mutter, auch wenn man ein erwachsener Mann war. Vielleicht hätte sie noch weiter an meiner Krawatte gezupft und mich gefragt, ob es mir gut ging.
Ich lächelte trotz der Schmerzen. »Danke, Mathy. Sie gehen besser da hinüber und beginnen mit den Reden …«
»Tatsächlich habe ich nach Ihnen gesucht«, sagte sie. »Kommen Sie mit. Ich bin gebeten worden, Sie vorzustellen.«
Ich war wirklich verloren. »Ich? Wer würde … ich meine, wem wollen wir begegnen?« Einem anderen Arzt. Einem anderen Psychiater. Niemandem von Bedeutung. Oh, bitte. Ich schob Robins Hand in meine Armbeuge. Sie quiekte protestierend auf, doch ich führte sie durch die Menge.
Dr. Matheson zog mich an der Samtschnur vorbei, die uns von den reichsten und wichtigsten Teilnehmern trennte, den Gastgebern. Meine Hoffnung sank auf den Parkettboden. Ich folgte ihr auf dem Fuße, doch bei jedem Schritt zog sich das Seil um meine Brust noch mehr zusammen.
Sie führte uns direkt auf eine Gruppe vornehmer junger Leute zu, die nach allerneuester Tagesmode gekleidet waren. Sie trugen Anzüge und weich fallende Seidenroben in den künstlichen Farben des Kinos, ganz Nebel und Rauch und tiefe Nacht, das Haar in glänzenden, sorgfältig gelegten Wellen zurückfrisiert. Ihre Anführerin lümmelte im Zentrum einer Polsterbank mit lilienförmigem Rücken und hörte einem Mann zu, der auf der Armlehne ihres Sitzes saß. Sie warf den Kopf zurück und lachte, und ihre Entourage ahmte sie nach.
Dr. Matheson stolperte, als ich wie vom Blitz getroffen stehen blieb. Robin verharrte an meiner Seite und richtete sich so hoch auf, wie es nur ging. Mein Hals zog sich zusammen, als ihre Anführerin mich ansah, mit offenem Mund und genauso reglos wie ich.
Wir beide sahen einen Geist vor uns.
»Chris«, sagte meine Schwester.
»Grace«, erwiderte ich. »Ich heiße jetzt Miles.«
Verdammt.
Einen Augenblick lang schienen alle im Starlight-Saal den Atem anzuhalten.
»Miles.« Plötzlich stand sie mir direkt gegenüber. Wann war sie so groß geworden? Ich dachte, ich würde sie nur noch in Fotografien in den Zeitungen sehen, doch sie war da und beobachtete mich mit whiskeyfarbenen Augen, die denen unserer Mutter so ähnelten. Wie meine.
»Ich dachte, du wärest tot.«
Spuren des Mädchens, das ich gekannt hatte, lebten in dieser Frau – ihr Kiefer war spitzer, die weichen Wangen geschmolzen, das Grübchen in ihrem Kinn ähnlich dem meinen. Grace, die Schmetterlinge gemalt hatte an dem Morgen, an dem ich an der Ulme neben meinem Schlafzimmerfenster herabkletterte und ihr Leben für immer hinter mir gelassen hatte.
Genauer gesagt, bis jetzt.
Mein Herz raste. Ich konnte nicht davonlaufen, keine Szene machen. All diese Blicke und die Vornehmheit sperrten mich ein, zwangen mich zu lächeln, als wäre dies alles ganz wunderbar.
»Es liegt daran, dass ich nicht geschrieben habe.«
»Du Mistkerl.« Sie schloss mich fest in die Arme.
Meine Schwester. Ich umarmte sie ebenfalls. Sie drückte mich fest an sich und erstickte ein Schluchzen neben meinem Ohr. Ich konnte sie nicht im Arm wiegen wie früher, wenn sie in Tränen aufgelöst zu ihrem Bruder gekommen war. Ich konnte mich nicht losreißen und davonlaufen, laufen, bis meine Beine aufgaben.
Meine Schwester hatte mich gefunden, und meine Freiheit war verloren.