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Versprechungen
D
as Schildchen mit meinem Namen stand vor dem Gedeck zu Graces Linken. Rasch erledigt. Robin saß an einem Tisch in der Mitte, nicht übel, da man so die einzelnen Gänge serviert bekam, wenn sie noch warm waren. Ich zog den Stuhl links von mir zurück und half einer Frau mit Schmetterlingsanstecknadel, sich zu setzen. Dabei beugte ich mich nach rechts und sagte leise: »Mussten alle anderen eins aufrücken, oder sitzt nun ein Verwaltungsratsvorsitzender auf meinem Platz direkt neben der Küche?«
Grace gab mir einen Klaps auf die Schulter und lachte. »Es tut mir leid, dass ich dich von deiner Freundin getrennt habe, doch ich möchte, dass du in meiner Nähe bist. Wird sie deswegen verärgert sein?«
Robin hatte den Gentleman links von sich bereits in eine Unterhaltung verwickelt. »Bekommt das Hospital durch mich eine ordentliche Spende, wird sie es als Segen sehen.«
»Oh, gut, darum kümmere ich mich.«
Grace öffnete ihre mit Silberperlen besetzte Handtasche und zog ein Scheckbuch heraus. Nachdem sie auf die Tinte gepustet hatte, schob sie mir einen Scheck über fünftausend Noten in meine Brusttasche. »Nun vergibt sie dir, denke ich.«
»Grace, du bist eine Wucht.«
Sie rollte die Augen wegen meines Arbeiterjargons, doch sie lächelte.
»Bitte verzeihen Sie, aber wir sind alle entsetzlich neugierig«, sagte die Frau zu meiner Linken. »Wir kamen nicht umhin, Ihre freudige Wiedervereinigung mit Miss Hensley zu bemerken.«
Wiedervereinigung. Ich musste mich bemühen, nicht den Mund zu verziehen. »Es war wirklich eine außerordentliche Überraschung«, sagte ich. »Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen.«
»Miles und ich sind zusammen aufgewachsen«, sagte Grace und reckte ihre Nase in die Höhe. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als sie nun etwas halb Wahres erzählte, das meine Aussage stützte. »Wir waren unzertrennlich als Kinder, doch dann ging er zur Armee, um Arzt zu werden.«
Soweit stimmte das. Grace hütete mein Geheimnis. Doch warum?
»Das ist wundervoll.« Die Witwe hob ihr Glas. »Auf euch beide, die ihr euch wiedergefunden habt.«
Wir hoben ebenfalls unsere Gläser und tranken. Mein Wein schmeckte bitter.
Man servierte uns in kleineren Gängen Salate und Fisch, jeweils mit dem extra Besteck, und Rot- und Weißwein in den entsprechenden Gläsern. Ich setzte das Lächeln auf, das man mir als junger Mann beigebracht hatte, aber Graces Miene war so glatt wie ein Teich bei Windstille. Meine stürmische Schwester war zu einer Frau herangewachsen, die eine Unterhaltung lenkte, wohin es ihr gefiel, und gerade jetzt gefiel es ihr, Beauregards Veteranen mit ihrem Beifall und dem Geld unserer Familie zu bedenken. Würde es ihr auch gefallen, dass ich dort blieb, damit ich mich auf meine Art für die Welt einsetzen konnte?
Nein, das würde es nicht. Sie würde mich zurück in den Schoß der Familie beordern. Niemals würde sie mich wieder gehen lassen.
In der vergangenen Nacht war eine Hexe, die meinen Namen gekannt hatte, in meinen Armen gestorben, und heute saß ich zum ersten Mal seit dreizehn Jahren neben meiner Schwester. Ich mochte keine Zufälle. Nick hatte meine wahre Identität gekannt, und er war gestorben, als er mir ein Geheimnis über den Krieg anvertrauen wollte –
Ich musste aufpassen, nicht an einem Bissen Lammbraten zu ersticken. Wenn es Geheimnisse hinter dem Krieg gab, so mussten sie den Unsichtbaren bekannt sein. Und das schloss meine Schwester mit ein. Eines Tages würde sie die geheimen Magier der Königin anführen.
»Geht es dir gut, Miles?«
Ich griff nach meinem Wasserglas, um mir die Antwort zu ersparen. Meine Schwester war eine der Unsichtbaren, doch noch war sie keine Ministerin der Königin. Außerdem war die Vorstellung, dass Grace jemandem Gift verabreicht hatte, einfach lächerlich. Sie hätte einen Blitz geschickt. Oder jemandem ein Schwert ins Herz gestoßen. Bei diesem Gedanken musste ich beinahe lächeln.
»Mir geht es gut.«
Grace schniefte. »Lass das Dessert aus, ja? Ich möchte unter vier Augen mit dir sprechen, bevor du gehst.«
Alle Blicke am Tisch waren auf mich gerichtet. »Oh, Grace. Du weißt, wie sehr ich Dessert liebe. Und ich muss zurück zu meinen Patienten.« Und zu Nick Elliot, der in der Leichenhalle des Hospitals auf mich wartete.
»Bitte, Miles.«
Der Anstand erlaubte mir nicht, abzulehnen, nicht in so vornehmer Gesellschaft. Also verabschiedeten wir uns von unseren Tischnachbarn mit einer kurzen Verneigung, dann führte Grace mich zum Aufzug, vor dem ein Paar wartete, das in Seide und Kaschmir gekleidet war. Sie drückte auf einen Knopf, und kurz darauf fuhren wir in der vergoldeten Kabine in den achtzehnten Stock hinauf und blickten auf die Anzeige, die mit einem Klicken von Nummer zu Nummer sprang.
Die gut gekleideten Frauen wandten sich nach rechts; Grace ging nach links zu einer ebenholzgetäfelten Tür. Sie schritt voran durch eine luxuriöse, moderne Suite, die in Schwarz und Silber gehalten war, Rauch und Glas. Meine Füße versanken im Teppich, als ich ihr folgte, und durch die Spiegelglasfenster sah ich kilometerweit entfernt den Ozean.
Grace streckte die Hand aus, um mich an der Schulter zu berühren. »Ich dachte, ich würde dich nie wieder …«
Ich machte einen Schritt zur Seite. »Berühr mich nicht.«
Grace erstarrte und sah mich an, als hätte ich sie geschlagen. »Denkst du ernsthaft, ich würde dich …«
»Ich kann das Risiko nicht eingehen.« Ich musste hier raus, bevor sie mich mit einem Zauber band. Wirkte sie einen Bindungszauber, gehörte meine Macht ihr und sie könnte sie nutzen, wie es ihr beliebte. Und sie konnte mich aufstöbern, ganz gleich, wohin ich ging.
Damit würde ich ihr gehören.
Sie streckte die Hand erneut nach mir aus. »Du musst der Bindung zustimmen.«
»Das stimmt nicht, Grace, das weiß ich.«
»Ich möchte nur mit dir reden. Ich habe dich so lange nicht gesehen …«
Ich hatte geglaubt, ich würde sie niemals mehr wiedersehen. »Bleib weg von mir.«
»Wie du willst.« Sie trat zurück. »Ich bin so froh, dich zu sehen. Lass uns nicht über die Bindung reden. Seit wann bist du zurück? Wurdest du verletzt?«
Zwischen uns lagen vielleicht eineinhalb Meter, und als ich jetzt nicht antwortete, zog sie sich noch weiter zurück. »Vor Monaten. Ich … sie nahmen mich gefangen«, sagte ich endlich.
»Das weiß ich«, sagte sie. »Ich wollte eine Beerdigung. Vater erlaubte es nicht. Er sagte, das wäre, als würden wir dich aufgeben.«
»Vater fügte sich noch nie gerne in etwas, das mit seinen Wünschen kollidierte.«
Grace hatte die Lippen fest zusammengepresst, doch nun verzog sie den Mund. »Chris …«
»Miles.« Ich bekam kaum Luft. »Wen hast du an dich gebunden? Jemanden, den ich kenne?«
»Niemanden«, sagte Grace. »Ich habe niemanden gebunden.«
Innerhalb eines Augenblicks stand ich an der Tür.
»Miles! Bitte, geh nicht.«
Ich riss die Tür auf und sah mich nach dem Treppenhaus um.
»Miles! Bei meinem Blut!«
Ich blickte zu ihr zurück. »Schwöre.«
Sie zog eine Klinge aus ihrer Tasche. Ich schloss die Tür, ließ die Hand jedoch auf der Klinke. Sie zog das Messer mit dem weißen Griff über ihre Haut. »Bei meiner Macht verspreche ich, dass ich deine Macht nicht mit meiner verbinden werde, ohne dass du dem zustimmst.«
Aus ihrer Handfläche strömte Blut, und sie zeichnete das stilisierte G darauf, das einen Blitz darstellte. »Bei meinem Eid, meinem Mal und meinem Blut, dies ist wahr.«
Sie verwendete den ernsthaftesten Schwur. Ein dreifacher Schwur war unmöglich zu brechen. Das war alte Magie, älter noch als Bannkreise, älter als das Sturmsingen, und sie hatte ihn ohne zu zögern gesprochen.
Sie streckte ihre Hand aus. Das Blut zog sich in ihre Haut zurück, und der Schwur wurde auf immer zu einem Teil von ihr.
Ich konnte ihr vertrauen.
Ich nahm ihre Hand und strich mit dem Finger darüber. Eine dünne Narbe kreuzte ihre Handfläche, eine neue Glückslinie, die sich zu den anderen gesellte.
»Du bist erkältet.«
»Du hast ein neues Hexenmal.« Sie bewegte die Finger. »Hast du es im Krieg bekommen?«
»Ein was?«
»Ein Hexenmal. Du hattest immer das rosafarbene, aber das neue ist grün. Genau da. Und da.« Ihre Finger schwebten über meinem Kopf: einer neben meiner Schläfe, der andere an meinem Hinterkopf. »Du kannst immer noch keine Auren erkennen, ohne jemanden zu berühren.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es gibt eine Menge Dinge, die ich nicht kann.«
Grace schlug sich die Hand vor den Mund vor Entsetzen über ihre unhöfliche Bemerkung. »Du hast den Krieg überlebt.«
Doch ich hatte es nicht verdient. »Ja.«
»Wir wussten, dass du in den Krieg gegangen bist. Vater fand heraus, dass du an der medizinischen Fakultät gewesen bist.«
»Warum hat er mich dann nicht zurückgeschleift?«
»Er dachte, du würdest nach Hause kommen. Wir hielten dein Verschwinden monatelang geheim«, sagte Grace. »Dann bist du abgereist. Er war am Boden zerstört. Als das Telegramm eintraf, in dem stand, dass du vermisst wirst …«
»Da hat er was getan? Sich Sorgen gemacht?« Ich stieß ein kurzes, freudloses Lachen aus. »Vermutlich hat er dir potenzielle Sekundäre vorgeführt, noch bevor die Nachricht auf seinem Schreibtisch lag. Wie hast du so lange ablehnen können?«
Sie presste die Lippen aufeinander. »Er drehte durch. Er verpflichtete die Armee dazu, nach dir zu suchen.«
»Vater
drängte General Johnston dazu, das Camp Paradise anzugreifen?«
»Grässlicher Name.« Grace verzog das Gesicht.
»Wir mussten es irgendwie nennen«, sagte ich. »Bittere Ironie schien da angebracht.«
Grace zog die Schultern hoch und betrachtete den Himmel. Ich sah sie an – sie war älter, eine Frau. Und doch schien diese Frau schon immer in ihr gewesen zu sein. »War es … war es schlimm?«
Etwas drückte kalt gegen meinen Schädel. Ein Geist. Eine Erinnerung, die ich mit einer Geste meiner Hände verscheuchte. »Du hast nicht zufällig etwas zu trinken da, oder?«
»Natürlich.«
Ich setzte mich in einen Samtsessel an dem Wohnzimmertisch, der aus Glas und Schmiedeeisen gefertigt war, und Grace goss mir einen großen Whiskey ein, den sie mit einem Tropfen Wasser verdünnte. Ich nahm einen Schluck, der größer war, als es dem guten Benehmen entsprach, und stellte das leere Glas dann auf den Tisch zwischen uns.
Grace setzte sich zu meiner Linken und stellte die Karaffe aus geschliffenem Kristall an den Rand des Tischs. Ich neigte mich ein wenig nach rechts und der Aussicht zu.
Schiffe segelten aus der Mündung des Blue Rivers hinaus aufs Meer. Die Ayers Bucht säumte die andere Seite des nach Westen zeigenden Fingers, auf dem die ältesten und reichsten Viertel Kingstons standen, von den weißen Banken und Handelshäusern bis zu den blassgrünen Kuppeln, die den Palast überdachten. Golden und scharlachrot belaubte Alleen, soweit ich blickte. Kingston war gewachsen, seit ich es verlassen hatte, die Gebäude waren höher und wirkten nobler. Ich hätte für immer gehen sollen. Und ich hätte nicht so sehr an Kingston hängen dürfen.
Menschen liefen durch die Straßen, das Leben pulsierte und alles sah klein und geschäftig aus, wie es da weit unter uns lag. Manche dieser Menschen hatten ebenfalls Schwestern. Was würden sie mir raten, was ich zu meiner sagen sollte?
Ich habe dich vermisst. Wir können uns nicht wiedersehen. Es war nicht deine Schuld.
»Ich dachte, ich würde dich nie mehr wiedersehen.«
»Warum bist du gegangen?«
»Ich wollte Menschen heilen.« Ich goss uns beiden einen Fingerbreit Whiskey ein.
»Ich weiß. Ich hätte dich nicht aufgehalten.«
»Ich will frei sein.«
»Ich hätte dir deine Freiheit gelassen …«
»Warum willst du mich dann überhaupt binden?«
»Weil ich dich brauche«, sagte sie. »Keiner der anderen Sekundäre will seine Freiheit so sehr wie du. Sie beugen sich und tun ihre eigene Gabe als wertlosen Trick ab. Unter ihnen ist keiner, den sich die anderen Sekundäre zum Vorbild nehmen könnten.«
»Ich wünsche mir die Freiheit, und du willst mich anketten, damit die anderen lernen, dass sie wie ich sein sollten.«
»Ich brauche dich, weil sich Sturmsänger und Sekundäre als Partner binden sollten. Weil Sekundäre keine Versager sind. Das ist eine Lüge. Es geht nur darum, dass wir die Macht brauchen.«
»Du wirst immer mehr Macht brauchen, Grace.« Ich wollte diesen Streit nicht ausfechten. »Es ist gleich, wie edelmütig du sie dir zunutze machen willst, du wirst immer mehr brauchen. Ich kann nicht glauben, dass du so lange durchgekommen bist, ohne jemanden zu binden.«
»Es fühlte sich mit niemandem richtig an. Es fühlte sich mit niemandem an wie mit dir, und keiner hatte deine Macht oder wusste, was ich vorhabe, bevor ich es selbst wusste. Du und ich, wir waren ein Herz und eine Seele …«
»Und ich war die Seele.« Zusammen hatten wir alles tun können. Wir hatten eine Regenflut aufgehalten, um die Frühlingsblumen zu retten, als ich gerade einmal acht Jahre alt gewesen war. Ich hatte den Wind und die Spuren in Luft und Wasser erkennen können, wenn wir uns verbunden hatten, allein konnte ich jedoch nicht einmal eine leichte Brise herbeirufen. Zusammen waren wir unbesiegbar. Ohne sie war ich ein Versager mit nichts als zweitklassigen Zaubertricks. Nein. Ich rettete Leben. Ich hatte eine Bestimmung. Ich war mehr wert als eine bloße Batterie für ihre Macht, und das würde ich nicht aufgeben, nicht einmal für Grace.
»Wir könnten es schaffen«, sagte Grace. »Ich muss dich im Zirkel nicht anzapfen. Ich Rufe bereits ohne dich.«
»Also würdest du mich nur zum Schein versklaven?«
Grace presste die Lippen aufeinander. »Ich habe es bereits versprochen, Miles. Beleidige mich nicht.«
»In Ordnung. Erzähl mir, was du getan hast.«
»Ich werde heiraten.« Graces Lächeln war sanft und warm, und das Erstaunen frisch. »Mein Verlobter hat dieses Gebäude entworfen.«
»Edwin hat das gemacht? Niemals.«
Grace verzog das Gesicht. »Edwin ist Jahre her, Miles. Ich bin mit Raymond Blake verlobt.«
»Von den Grand Lake Blakes?« Natürlich kam nur einer der mächtigsten der Hundert Familien für den Spross des Hensley-Erbes infrage. Ich nahm einen weiteren Schluck Whiskey, trank aber nicht aus. »Du warst Edward treu ergeben.«
»Miles, ich war vierzehn.«
Ich legte den Kopf schief und sah sie an. »Vater wollte nicht, dass du einen Sekundär heiratest.«
Ein Muskel an Graces Kiefer zuckte. »Ray ist wunderbar. Er spielt Harfe. Er hat dieses Hotel entworfen. Er ist stattlich, talentiert …«
»Talentiert? Er ist ein Sturmsänger.«
Grace rutschte auf ihrem Sessel herum. »Er ist mit mir im Zirkel, ja.«
»Rufer oder Binder?«
»Er ist Rufer für seinen Posten im Zweiten Ring.«
Dann war er ein fähiger Wettermanipulator, wesentlich besser als die Binder, die zwar die Macht besaßen, aber kein Geschick. Seine Stellung im Zweiten Ring könnte mit seinem Talent zu tun haben. Möglich. Doch es lag sicher auch an seinem Namen.
»Ein Bund zwischen den Hensleys und den Blakes würde dir äußerst viel Einfluss bei den Unsichtbaren verschaffen.«
Grace sah weg. »Sagen wir, viel Einfluss.«
Der letzte Schluck Whiskey schimmerte in meinem Glas. »Wie schlimm ist es?«
»Es war schwer, seit du weggegangen bist.«
Meine Rebellion hatte Konsequenzen gehabt. Ich überschlug den Preis – die Unannehmlichkeiten, den Machtverlust, die Schande für die Familie – und ich begriff. »Vaters Macht ist geschwächt. Du hast niemals einen Sekundär an dich gebunden. Hättest du aber deinen verlorenen Bruder wieder an deiner Seite …«
Grace seufzte. »Ja.«
»Und du hast bei deinem Blut geschworen, mich nicht zu binden?« Ich lehnte mich erstaunt zurück. »Warum?«
»Es gibt nichts, was mir so viel bedeutet wie du«, sagte Grace. »Du lebst. Ich kann meinen Bruder zurückhaben.«
»Christopher Miles Hensley starb im Krieg.«
»Nein, das tat er nicht.« Grace fuhr mit den Fingern durch die sorgsam gelegten Wellen, und das mahagonifarbene Haar fiel ihr in die Augen. »Ich habe dich an jedem Tag vermisst.«
»Es tut mir leid, Grace.«
»Muss es nicht«, sagte sie. »Du bist jetzt hier.«
Doch ich würde nicht zurückgehen. Auch wenn man einen Käfig mit Seide und Satin auskleidet, so bleibt er immer noch ein Käfig. Ich stand auf, knöpfte meine Jacke zu und ging zu ihr. »Hast du heute Nachmittag irgendwelche Verabredungen?«
»Nein.«
»Dann gestatte mir, dass ich dich heile.« Ich strich mit den Fingern über ihr Gesicht. Sie hatte die verstopfte Nase mit Salzlösung bekämpft, doch der Virus war immer noch da und reizte ihre Nase und den Hals. Ich erkannte die Art der Erkältung, und bald hatte ich ein Bild des Virus. Sie saß still da und ließ zu, dass ich sie kurierte, obwohl sie danach eine halbe Stunde lang unter hohem Fieber leiden und den Rest des Nachmittags vor Erschöpfung schlafen würde. Bis zum Abendessen würde sie jedoch geheilt sein, sie würde aufstehen können und Hunger haben.
Als ich meine Hand wegnahm, hielt sie sie fest. »Danke, Miles. Ich hasse Erkältungen. Ich habe nie gelernt, sie zu ertragen. Möchtest du etwas aus der Küche? Beim Telefon liegt eine Karte …«
»Ich muss los.«
Das war der Preis, den ich für die Freiheit und die Medizin bezahlte: sieben Jahre im Dienst Ihrer Majestät, und meine Schwester. Ich konnte ihr nicht ins Gesicht blicken. Ein beißender Schmerz in meinem Hals ließ mich schweigen, als ich hinausging.
Sie wartete, bis meine Hand die Tür berührte. »Miles.«
Mir gelang es gerade so, nicht den Kopf an die holzgetäfelte schwarze Oberfläche zu lehnen. »Was?«
»Ich gebe nicht auf. Doch ich werde Vater nicht von dir erzählen.«
Über den Schmerz strich sanft etwas Hoffnung, sodass ich schlucken konnte. »Gut«, brachte ich heraus.
Dann drückte ich die eiserne Türklinke.
Ich prüfte, dass keine Ecke meines feuchten und zerknitterten Taschentuchs aus der Jackentasche lugte, setzte ein Lächeln auf und trat aus dem Aufzug. Im Foyer waren Gäste, doch ich ignorierte ihre Versuche, sich mit mir zu unterhalten. Ich eilte hinaus auf die Straße und atmete den Apfelduft ein.
Würde ich meine Schwester sehen, wenn ich nun den Kopf drehte und zu den obersten Fenstern des Edenhill hinaufschaute, die mir hinterherblickte, wie ihr Bruder sie erneut verließ? Doch ich sah nicht auf und lief in der Menge der modisch gekleideten Menschen im Wakefield Geschäftsbezirk mit. Banker und Geschäftsleute schritten entschlossen von den Lunchverabredungen zurück zur Arbeit und blickten nicht zu den schwer mit Äpfeln beladenen Bäumen auf.
Ich ging um drei jugendliche Mädchen herum, die ihre Eimer mit Äpfeln füllten, um sie mit nach Hause zu nehmen. Das Mädchen, das in die Zweige geklettert war, rief eine Warnung, und ich fing eine goldrote Frucht aus der Luft auf.
»Entschuldigen Sie, Mister.«
»Macht nichts.« Ich hielt den Apfel einem Mädchen mit Strickmütze und gestreiftem Pullover hin.
Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben ihn gefangen. Er gehört Ihnen.«
Ich nahm meine Beute, lief über die Straße und wich dabei einer Meute Fahrradfahrern aus. Der Apfel war rund und fest, ein wenig kühl von der Herbstluft. Grace hatte Äpfel geliebt. Sie hatte sie gegessen, bis sie Bauchschmerzen bekam, besonders zu Beginn des Laubfalls, wenn sie noch nicht ganz reif waren. Sie hatte sich das erste Mal mit Apfelwein betrunken, den sie aus dem Vorratsschrank der Diener gestohlen hatte, und selbst dieses unliebsame Ergebnis tat ihrer Begeisterung für ihre Lieblingsspeise keinen Abbruch. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und ließ den Apfel in einen Abfalleimer fallen.
Ich würde meine Schwester nicht zurückbekommen. Selbst wenn ich lernte, meine magische Aura zu verbergen, konnten wir uns nicht zusammen in der Gesellschaft sehen lassen. Sie konnte mich nicht besuchen, und ich konnte niemals mehr nach Hause zurückkehren. Mit einigen Vorsichtsmaßnahmen könnten wir uns vielleicht heimlich treffen.
Ging ich behutsam vor, könnte ich durch Grace vielleicht erfahren, was ihre Freunde und Verbündete so taten, und auf diese Weise Informationen über jene sammeln, die mit Nicks Mord in Verbindung stehen könnten. Ein Minister musste mindestens Hochverrat begehen, damit man ihn absetzte. Erfuhren sie, dass ich sie jagte, würde ich als Nächster neben Nick Elliot in der Leichenhalle liegen.
Grace würde reden, wenn ich sie fragte. Menschen gegenüber, denen sie vertraute, hatte Grace eine lockere Zunge. Und als wir noch Kinder gewesen waren, hatte sie mir am meisten vertraut. Ich konnte sie beinahe alles fragen. Doch war sie noch die Gleiche?
Ein Schwarm Radfahrer in Tweed-Anzügen von der Stange wartete, dass eine lange Fußgängerparade die Straße kreuzte. Ich beschleunigte, um das Ende der Schlange einzuholen, und erschreckte dabei eine Frau mit fuchsverbrämtem Mantel. Sie blickte mich über die Schulter hinweg an, und meine Entschuldigung blieb mir im Hals stecken.
Clara Sibley begegnete meinem Blick, sie starrte den Jungen, der mit ihr um die besten Noten in Biowissenschaft konkurriert hatte, mit großen Augen an. Es gab keine Möglichkeit, die Begegnung zu leugnen, keine Möglichkeit so zu tun, als täuschte sie sich.
In den Geschäftsbezirk mit all den respektablen Banken und Firmen zu kommen, war ein Risiko gewesen. Gebundene Sekundäre kümmerten sich häufig um die alltäglichen Angelegenheiten ihrer Sturmsänger, und sie erledigten auch oft ihre Bankgeschäfte, um deren Einkünfte zu mehren. Verdammt! In einer Mietkutsche wäre ich sicher gewesen, doch jetzt war ich geliefert. Sie würde ihrer Sturmsängerin erzählen, dass sie mich gesehen hatte, und das Gerücht würde umgehend meinem Vater zu Ohren kommen.
Ich hätte Kingston meiden müssen. Ich hatte Glück gehabt, dass ich es so lange geschafft hatte, unerkannt zu bleiben.
»Vergeben Sie mir.« Claras Miene glättete sich. Sie sah mich höflich und reserviert an, der Blick, mit dem man einem Fremden begegnete. »Sie sehen jemandem sehr ähnlich, der mit mir zur Schule ging, aber Sie sind es nicht.«
Sie log, und am liebsten hätte ich sie dafür geküsst.
»Nichts passiert«, sagte ich. »Es würde ihn vielleicht amüsieren, wenn er hörte, dass er einen Doppelgänger hat.«
»Ich wünschte, er könnte es hören. Er starb im Krieg. Doch er bleibt mir als ein Freund in Erinnerung.«
»Ich bedaure Ihren Verlust, und für sein Opfer bin ich dankbar.« Oh Clara, du bist eine Wucht. »Er hatte Glück, eine solche Freundin zu haben.«
»Danke«, sagte sie. »Ich muss gehen.«
Sie schenkte mir einen letzten Blick, als sich unsere Wege trennten, und ich eilte mit gesenktem Kopf zum Hospital.