7
W. 1455 Wellston Street
D ie ganze Fahrt über hinauf zur Wellston und 14th West hielt ich den Mund. Auf der Wellston führten modische Schneider und Damenausstatter ihre Läden, doch um diese Zeit waren die Schaufenster bereits dunkel. Pferdewagen rumpelten durch die Straßen und lieferten Wäsche, Lebensmittel und Abendpost aus. Nachdem wir aus seiner feinen Kutsche gestiegen waren, hielt ich mich zwei Schritt hinter ihm, während Mr. Hunter mit im Wind flatterndem Überzieher vorweglief. Blätter tanzten über die dunkle Straße. Er blieb zwischen den Apfelbäumen auf dem Mittelstreifen stehen und ließ Fahrradfahrer vorbei, die gegen den Wind ankämpften. All diese Menschen passierten ihn, ohne auch nur zu ahnen, wer sich da unter ihnen aufhielt, und dass der gut aussehende Mann im eleganten Mantel mit dem unzeitgemäßen Zopf eine Legende war.
Diese Legende musterte jetzt die Eingänge, die sich zwischen den Läden befanden, die Haustüren zu den Wohnungen in den Stockwerken darüber. Ich schob die Hände tiefer in die Manteltaschen und wartete.
»Geradewegs aus der Tür und auf die Straße«, dachte er laut nach. »So würde ich es machen, in Panik.« Er wandte sich nach Osten und wählte sein Ziel aus, ein Backsteingebäude, in dessen Erdgeschoss sich das Geschäft einer Buchhandlung namens Martin & Gold befand.
Mr. Hunter stand auf den schwarz-weißen Fliesen, mit denen man die Nummer 1455 in den Boden eingelassen hatte, und probierte einen schwarzen Eisenschlüssel im Schloss.
Ich behielt die Straße im Blick. »Sie glauben, es ist dieses Haus?«
Das Schloss öffnete sich. Er hielt die Tür mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln für mich auf. Wir standen Schulter an Schulter, und lasen die Namen auf den Briefkästen mit den Messingtüren, die an der Wand befestigt waren.
»Elliot.« Ich legte den Finger auf das gravierte Schild. »Drei-Null-Eins.«
Die Stufen ächzten unter unseren Füßen, und ich erlebte eine weitere Überraschung – der abgetragene Teppich, der den Boden der Flure bedeckte, war mit hellroten Rosen bedeckt.
Er machte zwei Schritte, wandte sich dann um und sah mich an. »Was ist?«
»Ich habe diesen Ort schon einmal gesehen.«
»Kennen Sie jemanden, der hier wohnt?«
»Nein. Es war, als … als er starb.« Ich konnte hier draußen nicht darüber reden.
Er klopfte mir auf die Schulter. »Ich verstehe.«
Ich wollte mich an seine Hand schmiegen. Und zurückzucken. Stattdessen fragte ich nur: »Sollte so etwas passieren?«
Er legte den Kopf schief. »Ja. Wissen Sie das nicht?«
Es war sehr lange her, seit Hexen behauptet hatten, dass sie die Toten führten. »Nein.«
»Ich glaube schon. Aber lassen Sie uns jetzt die Nummer Drei-Null-Eins suchen.«
»Richtig.« Tu so, als würdest du hierher gehören, Miles. Ich straffte die Schultern und bereitete mich darauf vor, jeden anzulächeln, der uns begegnete.
Eine Frau im Samtmantel begegnete uns auf dem Treppenabsatz, und wir traten zur Seite, um sie vorbeizulassen. Sie warf einen verstohlenen Blick über die Schulter auf Mr. Hunter, mein Dienstmantel war ihrer Beachtung nicht wert. Das Bruchstück eines Liedes erklang im ersten Stock – jemand spielte Violine, es kam nicht aus dem Radio oder Grammophon.
Er blieb stehen und lauschte. »Spielt ziemlich gut.«
»Morbide Betrachtungen, Sir.«
Er warf mir einen missbilligenden Blick zu. »Was meinen Sie damit?«
»Das ist die letzte Arie aus ›Die Rache des Lucus‹.«
Der Klang der Violine schwoll angriffslustig an, die schrill gespielten Töne, das bittere Lachen, als Lucus dabei zusah, wie sich die verzauberten Untergebenen seines Feindes Corian erhoben und ihren König und Feldherren erstachen. Ich erschauderte.
Mr. Hunter stieg die Stufen zum zweiten Stock hinauf. »Lucus, der Bringer der Gerechtigkeit?«
»Lucus der Zerstörer«, berichtigte ich ihn. »Lucus, der Hexen-König.«
»Der Hexen-König«, wiederholte er spöttisch. »Was ist mit Lucus’ Herrschaft? Vierzig Jahre der Gesetzesreform, die Tradition der Bildung für Mädchen genauso wie für Jungen …«
»Verzeihen Sie mir, Sir, aber kann man Böses tun und es dann tilgen, weil das Ergebnis Gutes bringt?«, fragte ich. »Lucus brachte die Reform, aber er erkaufte sie mit Blut.«
Der Blick, mit dem er mich ansah, war skeptisch. »Also war das Gute, das er tat … böse?«
»Nein«, sagte ich. »Es ist kompliziert. Hier ist drei-null-eins.«
Mr. Hunter probierte einen Messingschlüssel, der zu dem zerkratzten Schlüsselschild passte. Ich beobachtete den Flur. Bestimmt würde jemand herauskommen und sehen, dass wir in die Nachbarwohnung einbrachen.
»Kein Glück?«
»Es muss einer von diesen … ah.«
Die Tür schwang auf und gab den Blick auf eine kleine, aber saubere Küche frei, deren Fenster über der Spüle beinahe vollständig von Regalen verdeckt war, auf denen Kräuter in Töpfen standen. Ich huschte hinter ihm hinein, schloss die Tür und ließ das Schloss wieder zuschnappen.
Er stand mitten in der Küche und musterte eine Sammlung teurer, aetherbetriebener Apparate. »Was halten Sie von diesen hier?«
Eine Diele knarrte unter meinem Fuß. Mr. Hunter lächelte, als ich zusammenzuckte. »Sir? Äh, meine Meinung?«
Er machte eine ausholende Geste über die Apparate. »Ich meine, was sagt dieser Besitz über Nick Elliot aus?«
Ich stellte meine Doktortasche auf die Arbeitsfläche und löste meinen Schal. »Er hatte Geld. Ein Kocher, ein Schnellkessel, ein Mixer und ein Kaffeegurgler? Die sind teuer.« Ich trat näher und streifte mit dem Ärmel meines Mantels den seinen. »Vielleicht hat er für die Firma gearbeitet. Das ist alles von Sunlight.«
»Keines der Geräte ist mit der Leitungsplatte verbunden«, stellte er fest. »Was halten Sie davon?«
»Es gibt nur die eine«, sagte ich. »Die Wohnung ist zu alt, um vollständig mit Aether versorgt zu werden.«
Er nickte zu dem Münzbehälter an der Wand hin. »Was noch?«
Ich sah mich um. Was war fehl am Platz, was passte nicht? Was sah ich?
Eine ordentliche Küche mit teuren Apparaturen. Ein Fenster voll grüner Kräuter, die den Raum vor der unschönen Aussicht auf den Hinterhof schützten. Alles sauber …
Alles aufgeräumt.
»Er sagte, es war Gift in seinem Tee«, sagte ich. »Wo ist die Tasse? Wo ist die Teekanne?«
Er öffnete einen Schrank. Eine einfache Teekanne aus Ton stand an ihrem Platz, neben einer Zuckerdose und Dosen mit Tee. An Haken hing je eine weiße Teetasse.
Mir lief ein Schauder über den Rücken, als ich begriff. »Jemand war hier. Sie haben sauber gemacht, nachdem sie ihn ermordet haben.«
»Sie verfügen über den richtigen Spürsinn, Doktor.«
Das Kompliment ermutigte mich und mir wurde warm. »Danke, Sir.«
Er seufzte.
»Mr. Hunter«, verbesserte ich mich.
Sein gequälter Blick ließ nicht locker. »Ich bin genau die gleiche Person, die Sie schon vorher kannten, Doktor. Nichts an mir hat sich verändert.«
»Aber Sie sind …«
»Töricht«, sagte er. »In Gesellschaft ungeschickt. Ich bin immer noch recht unwissend, was Ihre Welt betrifft. Ungeduldig.«
»Werden Sie mir jetzt jedes Mal Ihre Fehler aufzählen, wenn mir wieder einfällt, dass Sie eine Legende sind?«
Er schnaubte. »Früher oder später stürze ich von dem Podest, wenn Sie mich dort oben stehen lassen. Vergessen Sie das.«
»Wie kann ich es vergessen?« Ein Lachen stieg mir in der Kehle auf, ein gefährliches Lachen, eines, bei dem man nicht mehr aufhören konnte. »Wie kann ich vergessen, dass Sie …«
»Ich bin keine Geschichte, Doktor.« Er packte mich an den Schultern und mein Mantel wurde unter seinem Griff zerknittert. Er zuckte zusammen und strich ihn wieder glatt. »Ich möchte wieder dahin zurück, wo wir vorher waren. Freunde. Oder dabei, Freunde zu werden.«
»Wir können Freunde werden.« Freund, ein Amaranthine. Ich war ein Dummkopf.
»Nennen Sie mich Tristan«, sagte er.
Mein Puls pochte mir in den Ohren. »Das ist nicht richtig.«
»Miles«, sagte er. Wärme breitete sich in meiner Brust aus. Er beugte sich näher zu mir. Verdammt gutaussehend, und sein Gesicht zeigte nur einen Teil der Wahrheit. »Ich möchte dich gerne so nennen. Wirst du es mir verbieten?«
Ich trat ein wenig zurück und stieß gegen die Arbeitsplatte. »Nein.«
»Miles.« Das Wort ließ meinen Magen hüpfen. »Sag es. Nenn mich Tristan.«
Meine Lippen kribbelten. Meine Zunge berührte die Rückseite meiner Zähne. Tristan.
»Mr. Hunter«, sagte ich.
»Wie störrisch.« Ein Mundwinkel bog sich nach oben. Kühle umfing mich, als er nicht mehr so dicht vor mir stand. »Es könnte mehr zu finden sein, obwohl die Teesachen weggeräumt wurden.«
»Lassen Sie mich die Teekanne ansehen.« Ich musste etwas tun, um mich zu beruhigen. »Wenn sie nicht geschrubbt wurde, könnte ich sie nutzen.«
Tristan streckte die Hand nach der Schranktür aus, so wie ich, und unsere Hände berührten sich.
»Ziemlich eng hier.« Er stellte die Teekanne auf die Arbeitsplatte. »Was willst du mit der Teekanne?«
»Ich kann sie auf Arsen testen.«
»Ist er daran gestorben?«
»Das ist meine Vermutung. Er hat lange genug durchgehalten, um ins Hospital zu kommen. Arsen schmeckt leicht süßlich. Man würde es im Tee nicht bemerken.« Ich hob den Deckel und lächelte. Die Innenseite war dunkel vom Tee, den man jahrelang darin gebrüht hatte, und die Patina war unberührt.
»Hier ist unser erstes Beweisstück.« Ich stellte die Teekanne neben meine Doktortasche.
»Hervorragend. Hilf mir, den Rest zu durchsuchen.« Er ging ins Esszimmer und trat ein wenig beiseite, um mich ebenfalls hineinzulassen. Ein Tisch für sechs Personen stand dort und eine gehäkelte Spitzendecke war ausgebreitet. Ich legte die Hand auf einen filigran gearbeiteten Vogel mit Fächerschwanz, sah einen anderen in leicht variierter Haltung, und einen dritten …
Tristan stützte sich an einem Stuhl ab, dessen Lehne eine Lyra darstellte, und strich über das Spitzengewebe des Tuchs. »Was ist?«
»Teuer«, sagte ich. »Man kann Häkelspitze nicht auf einer Maschine herstellen. Das muss von Hand gefertigt werden.« Ich berührte die fünf Vögel, die ich entdeckt hatte. »Jeder einzelne ist anders, und sie sind nicht in einem Raster oder Muster angeordnet.«
»Woher weißt du das?«
»Früher sah ich bei den Mahlzeiten auf eine ähnliche Tischdecke«, sagte ich.
Ich hatte den Blick gesenkt gehalten, während Vater die Abendessen dazu nutzte, seine frühreife Tochter zu loben und meine Fehler aufzuzählen. So verliefen die Tage, die Wochen, die Jahre, die Enttäuschungen ruhten niemals, um zu verschorfen und schließlich zu heilen. Ich hatte gegen meine Tränen angekämpft, während ich die fächerschwänzigen Vögel zählte, die das liebste Tischtuch unserer Mutter zierten. Grace würde eine Sturmsängerin werden, und ich ein Sekundär, dazu bestimmt, der Leibeigene meiner Schwester zu sein.
»Miles.« Tristan berührte mich an der Schulter. »Was verrät dir das Tischtuch?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es könnte gar nichts bedeuten. In Bezug auf seinen Tod, meine ich.«
»Aber es sagt dir etwas über Nick. Warum hat er diese Tischdecke?«
»Er hat sie nicht gekauft. Zu teuer. Sie ist von seiner Mutter«, sagte ich. »Vielleicht hat sie sie angefertigt, um ein wenig Geld dazuzuverdienen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Die Küche.« Ich deutete in die Richtung. »Teure Apparate und billiges Tongeschirr. Ein reicher Mann hätte Porzellan und eine Haushälterin, selbst wenn sie nicht mit in der Wohnung lebte.«
»Also, ein armer Mann, der zu Vermögen gekommen ist, wird vergiftet. Das ist der Anfang seiner Geschichte. Lass uns den Rest herausfinden.«
Nick Elliots Wohnzimmer rühmte sich eines Ausblicks auf eine Ziegelmauer und verfügte über eine Plattensammlung. Der trompetenförmige Trichter des Grammophonhorns war auf einen Lehnstuhl ausgerichtet, neben dem ein Standaschenbecher aufragte. Ein weiterer Aetherzähler, der an der Wand befestigt war, lieferte den Strom für ein Radio.
»Er mochte Musik.«
»Genug, um ein Radio zu ertragen«, stimmte ich zu.
»Hasse die Dinger. Wie das Sirren einer Stechmücke im Ohr und der Geschmack von Kupfer auf der Zunge«, sagte Tristan.
Ich schauderte mitfühlend. »Der Aether fließt über Kupferdrähte. Vielleicht liegt es daran.« Ich öffnete den Flurschrank. »Er lebte allein. Das andere Schlafzimmer ist ein Arbeitszimmer, und hier drin sind keine Frauenkleider.«
»Miles«, sagte Tristan und lachte. »Du überraschst mich.«
Mit heißem Gesicht musterte ich fünf Paar Herrenschuhe auf dem Boden des Schranks. Mr. Elliot hätte die Gesellschaft von Männern vorziehen können. Er war in dem Alter, in dem diese Gepflogenheit nicht mehr recht geduldet wurde, der Druck zu heiraten jedoch auch noch nicht unerträglich war. »Da ist etwas dran.«
»Aber ich denke, du hast recht. Da ist nichts, was paarweise vorhanden ist. Die Möbel hier drin sind nicht so aufgestellt, um ein Paar zu beherbergen. Sein Schlafzimmer …« Tristan drehte den geschliffenen Türknauf. »Oh. Er hatte eine Geliebte.«
An Haken hinter der Tür schwang ein blassrosafarbener Morgenrock neben einem schweren Mantel aus bronzefarbenem und grünem Brokat. Tristan schloss die Tür wieder.
»Ein Zimmer nach dem anderen. Was ist das?« Er nahm ein Album vom Wohnzimmertisch. »Zeitungsausschnitte.«
Ich durchsuchte die Taschen des Überziehers und fand einen Presseausweis. »Er war Journalist.«
»Ich glaube, er schrieb über Gartenarbeit.«
»Gartenarbeit?« Ich ging hinüber und blickte auf die ausgeschnittenen Seiten. Tristan blätterte zu einer Seite, auf der ein Foto von einem winzigen Blumengarten zu sehen war, in dem eine Sommermaid aus Beton stand.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund. »Er war der Grüne Daumen.«
»Der entzückendste Garten der Woche?«
Jede Woche wetteiferte man in Ost Kingston um die Ehre, dass der eigene zwei Quadratmeter große Garten vom Star gekürt wurde. Meine Hauswirtin hatte einmal gewonnen, und der Ausschnitt stand gerahmt in der Eingangshalle.
Mrs. Bass würde den Tod des Grünen Daumens betrauern.
»Nick Elliot schrieb eine der beliebtesten Kolumnen der Stadt. Wer sollte ihn umbringen wollen?«
»Vielleicht kannte jemand sein Geheimnis«, sagte Tristan.
»Man hätte ihn denunzieren können. Er hätte die Tests niemals bestanden. Er wäre in einem Sanatorium gelandet, bevor er auch nur hätte blinzeln können. Warum Mord?«
»Ein Konkurrent von der Arbeit? Ärger in der Familie?«
»Seine Geliebte? Es ist jemandem gelungen, Gift in seinen Tee zu mischen, und danach aufzuräumen. Mr. Hunter.« Ich griff nach seinem Ärmel. »Er war allein, als er den Tee trank. Der Mörder hätte ihn nicht hinaus auf die Straße laufen lassen. Haben Sie jemanden gesehen, als Sie angehalten haben?«
Tristan hob einen Finger an die Lippen.
Die Dielenbretter im Gang knarrten. In das Schloss der Eingangstür wurde ein Schlüssel geschoben.
Tristan legte eine Hand fest über meinen Mund und zog mich in die Ecke.