8
Illusion
N ick?«
Eine Frau betrat die Wohnung. Geliefert. Wir waren geliefert. Sie würde schreien, wenn sie uns sah, die Polizei rufen. Könnten wir es erklären?
»Nick?« Sie trat ins Wohnzimmer.
Ohne uns zu bemerken.
Sie ließ einen pelzbesetzten Kokon-Mantel von den Schultern gleiten und warf ihn über das Sofa. »Sag mir nicht, dass du krank bist, Nicholas Alva Elliot, und dass du jemanden brauchst, der dich versorgt.«
Tristan drückte immer noch seine Hand auf meinen Mund, und einen Arm hatte er fest um meine Rippen geschlungen. Nicht sprechen. Nicht bewegen, sagten diese Hände, und sein nach Fenchel duftender Atem strich ruhig über mein Ohr.
Sie streifte schmale schwarze Lederhandschuhe ab. Ihr Haar war modisch kurz geschnitten und wellte sich an den markanten Wangenknochen. Das Schwarz der Haare war aus der Flasche, dem leicht blauen Schimmer nach zu urteilen, das ihre blasse Haut noch milchiger erscheinen ließ. Sie trug dunkelgraue Hosen mit weiten Beinen, ein cremefarbenes Seidenhemd und eine schiefergrau-silber gestreifte Krawatte.
Die Frau ging durch das Wohnzimmer und öffnete die Schlafzimmertür. »Nick?«
Sie konnte uns offenbar nicht sehen. Tristan hatte uns vor ihr verborgen, eine Macht, von der in Legenden und Geschichten erzählt wurde, die ich verspottet hatte, obwohl ich voller Eifer diese Kindermärchen gelesen hatte. Seine Hand auf meinem Mund wurde sanfter, glitt herab und schlang sich um meine Taille.
Wir berührten einander vom Nacken bis zum Knie. Sein Atem strich warm über mein Ohr, und ich wagte nicht, mich auch nur einen Zentimeter von ihm wegzubewegen.
Die Frau kehrte ins Wohnzimmer zurück, sie presste die weinfarben geschminkten Lippen zusammen. Nachdenklich blieb sie stehen, dann glätteten sich die Linien um ihren Mund, als sie eine Entscheidung fasste. Sie schlich auf Zehenspitzen ins Arbeitszimmer. Sechs Holzschubladen wurden geräuschvoll geöffnet und geschlossen, dann vier aus Metall, und schließlich schubste sie die letzte mit Wucht zu.
»Was machst du, Nick?«, sagte sie. »Und wo bist du hin?«
Sie kam zurück, um ihren Mantel zu holen und streifte ihn eilig über. Darauf sah sie noch ins Esszimmer und schließlich erklangen die gedämpften Schritte ihrer Absätze auf dem Teppich.
Meine Schultern juckten. In meinem gefilzten Wollmantel war mir zu warm. Tristans Atem in meinem Nacken schickte eine Gänsehaut über meine Glieder. Ich stellte mir vor, den Fenchel zu schmecken, und das kühle, seidige Haar unter meinen Fingern zu spüren. Die Vorstellung war zu lebendig, dafür dass wir nur ein Dielenknarzen davon entfernt waren, entdeckt zu werden. Ich sollte jetzt nicht daran denken, irgendwen zu küssen, von einem halb göttlichen Amaranthine ganz abgesehen.
Die Frau öffnete ihre Tasche und zog eine Silberflasche mit Gravur heraus, trank einen Schluck, zog die Handschuhe an und verließ die Wohnung mit leeren Händen. Tristan verstärkte seinen Griff, und wir standen da, bis die Stufen unter ihren Füßen knarrten.
Ich stürzte nach vorn und löste mich aus seiner Umarmung, zog meinen Mantel zu und schloss die Knöpfe an meiner Taille. »Was haben Sie getan?«
Tristan zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein Illusionist. Wir hatten Glück, dass ich uns beide verbergen konnte. Was hat sie im Arbeitszimmer gesucht?«
Ich atmete zu schnell. »Sie haben uns unsichtbar gemacht?«
Er schenkte mir ein unsicheres Lächeln. »Ja.«
Die Macht, über die er verfügen musste … »Erstaunlich.«
»Danke.« Sein Lächeln wurde breiter. »Es war anstrengend, uns beide zu verbergen. Ich bin hungrig.«
Er hatte eine Tat vollbracht, wie man sie nur aus den Legenden kannte, und nun war er bloß hungrig? »Ich würde aus dem letzten Loch pfeifen.«
»Ich halte durch, bis wir hier fertig sind.« Tristan ging ins Arbeitszimmer. »Was immer sie wollte, sie fand es nicht. Interessant.«
»Wer immer hier hereinkam und sauber machte, hat das Arbeitszimmer bereits durchsucht?«
Er stand in der Mitte des Raums und drehte sich langsam im Kreis. »Ein armer Mann kommt zu Geld und wird vergiftet … Für etwas, das er schrieb? Ah, großartig. Darauf hatte ich gehofft.«
»Worauf?«
Tristan streifte seine Handschuhe über und hob die Abdeckung einer Typenhebelschreibmaschine an, und seine zufriedene Miene verwandelte sich in Verblüffung. Er öffnete Schubladen, genau wie die Frau.
»Was ist?« Ich ging zu ihm und inspizierte die Schreibmaschine.
»Das Band ist neu«, sagte er. »Aber sieh dir das an.«
Er stellte eine Schachtel auf den Schreibtisch. Die Beschriftung besagte Snyders Bestes Nachfülltintenset . Ich öffnete den Deckel; die Kurbelmaschine war von der Benutzung fleckig. In dem dafür vorgesehenen Fach lagen keine Bänder.
Tristan öffnete jede Schublade des Schreibtischs. »Keine Ersatzbänder. Keine Schachteln mit neuen Bändern. Ein Beweis, dass Nick Elliot seine alten Bänder wiederverwendete. Der Grund, aus dem Nick Elliot starb, war in diesem Raum, doch jetzt ist er weg. Es ist nichts mehr da.«
Er überprüfte den Aktenschrank. »Alle Schubladen sind leer.«
»Das Beweisstück ist verschwunden«, sagte ich. »Alles ist weg. Wir haben nichts herausgefunden.«
Er rüttelte am Aktenschrank. »Hilf mir, den zu bewegen.«
Ich schob mich links neben ihn, und gemeinsam rückten wir den Schrank aus der Ecke. Wir fanden nur jede Menge Staub. Tristan ruckelte den Schrank zurück in die Ecke, und wir hoben je eine Seite des Schreibtischs an.
»Aus den Knien anheben«, mahnte ich, als wir das Ding ein paar Zentimeter bewegten. Im Staub lag ein Notizblock, der vermutlich neben dem Telefon gelegen hatte.
»Leer.«
Tristan hob ihn auf und hielt ihn ins Licht. »Nicht ganz. Gib mir einen Stift.«
Ich öffnete eine Schublade und fand weiche Skizzenbleistifte. Tristan rubbelte mit einem über den Block. Er blickte mich mit großen Augen an, als er die Nachricht gelesen hatte. »Du sagtest, du kanntest ihn nicht?«
»Nein.«
Er gab mir den Block und ich las die Buchstaben, die er mit der Schraffur enthüllt hatte:
CMH = Dr. Miles Singer
Psychiater, BVH
Erlaubnis, Patienten zu befragen?
Verschrecke ihn nicht!
»BVH ist das Beauregard Veteranenhospital«, sagte Tristan. »Was bedeutet CMH
»Das bin ich«, sagte ich. »Er kannte meinen Namen. Christopher Miles Hensley.«
»Ah. Irgendwie verwandt mit Kanzler Christopher Hensley?«
»Das könnte man so sagen.« Es war schwer, durch die eisige Übelkeit hindurch zu atmen, die mich erschaudern ließ. »Er ist mein Vater.«
»Ah. Also bist du doch ein Gentleman.«
Ich nickte und versuchte, zu schlucken. »Ich lief weg, um mich der Armee anzuschließen.«
Er neigte den Kopf. »Du kamst früher zurück als die meisten. Wurdest du verletzt?«
Ich hatte die Tür zu diesen Erinnerungen geschlossen. Ich war in Aeland, in Kingston, und das Camp Paradise war Vergangenheit. »Technisch gesehen, ja.«
Tristans Gesicht verzog sich gedankenverloren, dann glättete es sich und zeigte höfliche Besorgnis. »Ich werde nicht neugierig nachfragen.«
»Danke.«
»Ich wechsle sogar das Thema.« Er führte uns durch Nicks Wohnung zur Küchentür. »Nick wurde von jemandem getötet, der viel zu verlieren hatte, wenn das, was er schrieb, ans Licht käme.«
»Aber er schrieb übers Gärtnern«, sagte ich. »Wer würde wegen Gartenarbeit töten? Moment. Was, wenn das nicht alles war, über das er schrieb?«
»Über was hätte er sonst noch schreiben sollen?«
»Den Krieg. Er sagte, die Soldaten verdienten es, die Wahrheit zu erfahren.«
»Wer würde ihn töten, weil er gegen den Krieg war?«
»Nationalisten«, sagte ich. »Aber nicht mit Gift. Sie hätten ihn auf der Straße zu Tode geprügelt, die Hälfte von ihnen betrunken.«
»Sie verdienten es, die Wahrheit hinter dem Krieg zu erfahren«, sann Tristan. »Welche Wahrheit?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Er schien nicht viel Sinn zu machen. Er sagte auch etwas über Seelen.«
Das ließ Tristan aufmerken. Er packte meinen Arm. »Ja. Nick sagte, sie brauchten die Seelen. Er war auf der gleichen Spur wie ich.«
»Sie suchen nach Seelen?«, fragte ich. »Ich dachte, Sie suchen nach verlorener Magie.«
»Seelen liefern die Energie für die Magie.«
Ich blieb mit offenem Mund stehen. »Sie was?«
»Du bist eine Hexe, weil du eine besondere Kraft der Seelenenergie besitzt. Weißt du das nicht?«
»Nein.« Es war wirklich so einfach? Ein Dutzend Gedanken wirbelte durch meinen Kopf, aber jetzt und hier war nicht die Zeit noch der Ort, um Erklärungen zu fordern. »Dann ist es wahr. Die Toten gehen wirklich in den Ewigen Hort ein.«
»Natürlich ist es wahr. Warum würdest du etwas anderes glauben?«
Ich musste mich nun hinsetzen. »Weil Geschichten über Geister nur Geschichten sind. So etwas gibt es nicht.«
»Du glaubst, Geister gibt es nicht, weil Aeland keine hat.«
Ich wollte dagegenhalten, aber das konnte ich nicht. Amaranthine waren echt. Der Ewige Hort war echt. Ich hatte eine Seele. Ich würde in den Ewigen Hort eingehen, wenn ich starb … und vielleicht wäre dann auch Tristan dort, wie der einzige Bekannte in einer fernen Stadt.
»In Ordnung. Seelen sind also echt, und durch eine besonders starke Seele wird man zum Magier oder zur Hexe. Haben Sie noch weitere erschütternde Enthüllungen für mich?«
»Bedenkt man, wie wenig ihr Aeländer über Magie wisst, können wir jetzt nicht auf den Rest eingehen. Also lass hören, was Nick wohl meinte. Wer braucht die Seelen?«
»Wenn jemand sie braucht, dann die Unsichtbaren. Meine Leute. Aber Sie kommen nicht an sie heran. Und ich werde es nicht.«
»Du hast Recht, ich kann es nicht.« Tristan ließ mich los und glättete meine zerknitterten Ärmel. »Ich muss wissen, was Nick herausgefunden hat, Miles. Wirst du mir helfen?«
»Er wusste etwas über den Krieg. Etwas, das die Soldaten erfahren müssen. Ich bin dabei. Was sollen wir zuerst tun?«
»Vielleicht bringt uns ein Besuch an seinem Arbeitsplatz weiter.«
»Ich weiß nicht, ob mein Untersuchungsformular sich darauf ausweiten lässt.«
»Vielleicht erzählt uns niemand etwas, aber es kann auch nicht schaden.« Er verschloss die Tür und bedeutete mir, ihm zu folgen. Die Stufen knarzten wieder, als wir die Treppe hinabstiegen. »Komm, wir suchen uns etwas zum Abendessen.«
Abendessen mit Tristan. Knie an Knie und Ellbogen an Ellbogen an einem kleinen Tisch in einem Speisezimmer, oder serviert in der behaglichen Vertraulichkeit seines Heims? Ich dehnte die Finger und entspannte sie wieder. Ich konnte nicht mit ihm alleine sein. Ich wusste, wie die Geschichten über Amaranthine endeten. »Ich sollte nach Hause gehen.«
Er richtete sich auf und sammelte sich sichtlich. »Ich suche dich morgen auf, nach der Arbeit? Ich lasse meine Haushälterin ein frühes Abendessen …«
»Bis dahin habe ich die Testergebnisse der Teekanne«, versprach ich.
Ich nahm mein Fahrrad vom Haken an der Rückseite seiner Kutsche, und wir gingen an der Wellston Street auseinander.
Ich hatte den Gegenwind auf der neun Kilometer langen und langsam ansteigenden Strecke hinauf nach Ost Kingston einem feinen Mahl in Tristans Heim vorgezogen. Die Teekanne beulte meine Doktortasche aus, als ich mein Fahrrad vom Bordstein lenkte, und ihr Anblick jagte mir einen schuldbewussten Schauder über den Rücken. Wir waren in eine Wohnung eingebrochen. Wären wir erwischt worden …
Ich stand in den Pedalen und beugte mich über die geschwungene Lenkstange, um gegen den Wind anzukämpfen, der mich nach Westen drückte. Ich kreuzte Straßenbahnlinien und biss die Zähne zusammen, als ich die Aetherdrähte spürte, die sich darüber spannten. Meine Beine zitterten, als ich das große graue Haus mit den weißen Fensterbänken und den vertrockneten Herbstblumen in Mrs. Bass’ preisgekröntem Vorgarten erreichte.
Eine Kutsche stand vor der Tür, und auf dem Wappen prangten die drei Keiler der Familie Hensley.
Flieh, Miles. Verschwinde. Doch meine Beine hatten mir in Kalloo nicht gehorcht, und jetzt gehorchten sie mir auch nicht. Ich saß wie erstarrt auf der Querstange meines Fahrrads.
Die Kutsche schwankte, als der Kammerdiener in seiner Livree – Livree  – von der Stufe sprang und auf mich zukam. »Dame Hensley erwartet Sie drinnen, Sir.«
Er packte den Griff meiner Doktortasche und hob ihn aus dem Korb, der über dem Vorderrad befestigt war.
Ich rührte mich, endlich. »Nicht …«
»Sir? Darf ich Ihnen behilflich sein?«
Er hievte die Tasche hoch, und das Leder beulte sich unter dem Widerstand der Teekanne aus. Er blickte zu Mrs. Bass’ Haus hinüber, wo meine Schwester vermutlich inmitten des Dufts von gekochtem Kohl und gehacktem Hammelfleisch Tee trank, und dabei sorgsam aufgesparte Kekse aus einer Dose aß.
Er trug meine Tasche, in der die Teekanne, ein Sortiment an Medikamenten, mein Spritzenset und die Skalpelle waren, die ich nicht mehr angerührt hatte, seit ich das Leben und den Leib von Gefreitem James Wolf im Mobilen Hospital 361 gerettet hatte. Ich könnte das alles einfach hinter mir lassen, genau wie alles, das in meinem Zimmer war. Ich könnte in halsbrecherischem Tempo den Kings Way hinunterrasen und …
Und wohin sollte ich gehen? Grace hatte bei ihrem Blut geschworen. Was immer sie hier wollte, sie würde mich nicht als ihren Sklaven mitnehmen.
Also hob ich mein Kinn und schwang mich vom Fahrradsattel. Ich gestattete, dass er den Lenker packte, dann ging er zwei Schritt hinter mir her, als ich zur Haustür lief.
Dann gab ich dem Kammerdiener meinen Schlüssel. Er schloss mein Fahrrad ab, reichte mir meine Tasche und nahm seinen Platz neben der Tür ein, formvollendet in dem orangefarbenen Mantel und den Fleck hinter sich nicht beachtend, wo die graue Farbe des Hauses abgeblättert war.
Die Glocken der nahen Turmuhr schlugen die Stunde. Die Vordertür öffnete sich, bevor das Geläut verklungen war. Der Rohrleger, der nachts im Zimmer neben meinem schnarchte, trat hinaus.
»Doc.«
»Arthur. Ist alles in Ordnung?«
»Fein, es ist nur …« Er drehte den Hals langsam und zuckte bei der Bewegung zusammen. »Ich glaube, ich habe falsch gelegen. Würden Sie sich das mal ansehen? Nach Ihrer extravaganten Besucherin natürlich.«
Meine extravagante Besucherin. Nicht meine Schwester . Ein kleiner Segen. Ich ging in den hinteren Teil des Hauses, vorbei an den theatralischen Stimmen aus dem Radio, die von den Salontüren gedämpft wurden.
Grace saß auf dem Sitzkissen eines Holzstuhls in Mrs. Bass’ behaglicher grüner Küche mit einer der guten Teetassen in der Hand. Mrs. Bass stand auf, um mir das Abendessen zu bringen, anscheinend dachte sie, dass ich wie ein Arbeiter in Anwesenheit von Damen über den Teller herfallen würde.
»Nur Tee, Mrs. Bass …«
»Mach schon und iss, Miles«, sagte meine Schwester. »Du musst ein wenig herausgefüttert werden.«
Gehackter Kohl und Hammelschulter geschmort in Wein, der schon beinahe zu Essig geworden war, dampfte auf meinem Teller. Ein Kerl mit Teerbrandwunden auf den Unterarmen kam aus dem Waschraum, betrat die Küche und hob die Hand. »Hausherrin, Eure Ladyschaft. Und …«
»Dr. Singer, das ist Douglas. Er ist im hinteren Schlafzimmer«, sagte Mrs. Bass. »Douglas Fox.«
»Straßenbauarbeiter?«, fragte ich und schüttelte seine seifenreine Hand.
Magensäure brodelte in seiner Speiseröhre, wohl um einen Kloß aufzulösen, der nicht verschwinden wollte.
»Ich höre, Sie sind Arzt«, sagte Douglas. »Wieso lebt ein Doktor hier? Bitte um Verzeihung, Mrs. Bass. Sind Sie einer von den Auszubildenden?«
»Ich bin kein Praktikant, Mr. Fox.«
»Sie sind ein echter Arzt? Hm.« Douglas wischte sich mit dem Unterarm über die feuchte Stirn. »Ich bekomme Bauchschmerzen nach dem Essen. Warum?«
»Könnte unterschiedliche Gründe haben.« Es war ein Magenstein, und das bedeutete eine Operation. Ich würde ihn davon überzeugen müssen, sich von der Arbeit beurlauben zu lassen. Schwer, wenn es einen die Arbeit kosten konnte, wenn man krank wurde. »Ich kann es mir ansehen.«
»Morgen. Sie haben einen wichtigen Gast.« Er neigte den Kopf vor meiner Schwester und ging, um mich meinem Abendessen zu überlassen.
Grace sah zu, wie ich den ersten Bissen meines Koteletts nahm, ohne allzu sehr zu schaudern. Mrs. Bass folgte Mr. Fox und gesellte sich zu den anderen im vorderen Salon, wo sie den Aetherzähler mit Groschen fütterten und dem abendlichen Radio-Theater lauschten, das vor unwahrscheinlichen und überraschenden Wendungen und spannender Musik, die die Atmosphäre verstärken sollte, nur so strotzte. Als wir allein waren, wandelte sich die Höflichkeit auf Graces Miene in Zorn.
»Birdland? Du lebst in einem Einbettzimmer in einer Pension in Birdland? «
So war sie, genau wie ich sie in Erinnerung hatte, verzog das Gesicht wegen des Abendessens, das sie nicht mochte, und wegen dieser Art zu leben, die sie nicht ertragen könnte. Die Jahre fielen von uns ab, als ich ihr zuzwinkerte. »Du klingst besser. Ist die Erkältung weg?«
»Nachdem ich wegen der Heilung von dir beinahe verglüht wäre. Mir geht es blendend.« Sie blickte sich in der Küche um. Ich war froh, dass Mrs. Bass’ emaillierte Töpfe fleckenfrei waren, und dass sie niemals ein Staubkörnchen übersah. Doch Grace blickte drein, als wäre die Küche eine armselige Bruchbude. »Wie viel bezahlen sie dir?«
»Genug.« Das Fleisch hatte sich dem stundenlangen Köcheln ergeben. »Ich könnte mir eine Wohnung leisten, wenn ich eine finde.«
»Überlass das mir. Birdland. Wirklich.«
»Warum bist du hier?«
Sie blickte auf ihre Tasse hinab, bevor sie antwortete. »Ich kam her, um dich zu sehen.«
»Warum?«
»Weil du mein … mein Freund bist. Und ich dich vermisst habe.«
In meinen Gliedern breitete sich so etwas wie Wärme aus, und ich rieb mir über die Brust. Das hatte ich Jahre nicht gespürt. »Ich habe dich auch vermisst.«
»Und ich wollte mit dir reden …« Sie schüttelte den Kopf. »Egal. Dieser Ort, du kannst hier nicht leben.«
Die Sentimentalität löste sich auf. Sie konnte keine Entscheidungen über mein Leben treffen, als wäre ich ihr Sekundär. »Nein.«
Sie hob eine Augenbraue. »Nein?«
»Du suchst keine Wohnung für mich«, sagte ich. »Du würdest einen Prunkbau mit zehn Zimmern aussuchen. Wie hast du mich gefunden?«
»Ich habe im Hospital angerufen. Dr. Matheson war sehr hilfsbereit.«
»Oh, tatsächlich.« Das Fleisch schmeckte sauer.
»Schmoll nicht, Miles. Sechs Zimmer.«
»Nein.«
Sie verdrehte die Augen. »Bauen sie überhaupt Wohnungen, die kleiner sind als sechs Zimmer?«
»Grace, weißt du, wie viel ein Laib Brot kostet?«
»Nennst du mich einen Snob?«
»Kannst du das leugnen?«
Sie schnaubte. »Welche Art von Wohnung brauchst du dann?«
»Du bist nicht hergekommen, um anzubieten, für mich eine neue Unterkunft zu suchen.«
Grace blickte kurz zur Seite. »Du hast die Arbeit vor Stunden verlassen. Wo warst du?«
Ich durfte ihr auf keinen Fall die Wahrheit sagen. Gegen einen Amaranthine würde sie den ganzen Zirkel zusammenrufen. Im Kino? Sie würde fragen, welchen Film ich gesehen hatte. Abendessen? Ich aß wie ein Verhungernder. Die Bücherei? Welche Bücher hatte ich ausgeliehen?
»Miles.«
Lüge . »Ich habe einen Freund besucht.«
»Wen?«
Ich sah weg.
»Oh. Du suchst immer noch die Gesellschaft von Männern? Bist du nicht ein wenig zu alt dafür?«
»Grace.«
Sie nippte an ihrem Tee. »Ich schätze, das ist immer noch besser, als wenn du dich an eine Wäscherin bindest.«
»Grace.«
»Ich scherze. Eine Sekretärin natürlich.«
Ich starrte sie an, und sie sah mich entschuldigend an. »Es tut mir leid. Ich bin froh, dass du einen Freund hast. Mrs. Bass sagte, du wärst viel allein.«
»Ich bin sicher, sie hat dir alles erzählt.«
Im Flur vor der Küche knarrte ein Dielenbrett. Ich schob mir ein Stück Hammel in den Mund. Grace trank ihren Tee. Mrs. Bass klopfte, bevor sie hereinkam. »Bitte um Entschuldigung, Dame Hensley, aber ich erlaube keine Gäste nach neun, und es ist zehn nach.«
»Natürlich.« Grace schob ihren Stuhl zurück. »Danke für den Tee. Miles und ich gehen …«
»Du gehst, Grace«, korrigierte ich sie. »Ich bleibe hier. Ich kann dir gar nicht sagen, welche Überraschung dein Besuch war.«
Mrs. Bass und Grace blickten mich streng an.
»In der Tat.« Grace zog einen Handschuh an. »Überraschungen sind so ziemlich das Thema unserer Wiedervereinigung, nicht wahr? Auf Wiedersehen, Mrs. Bass.«
Sie küsste die Luft neben Mrs. Bass’ Wange, und meine Hausherrin strahlte wie die Sonne. Grace blickte zu mir zurück, bevor sie ging, und die Schritte des Kammerdieners hallten ihren auf der Veranda nach.
Mrs. Bass wandte sich mir zu. »Dame Grace ist eine feine Lady. Sie hatten kein Recht, sie schlecht zu behandeln, auch wenn sie Ihnen den Laufpass gegeben hat.«
»Das war nicht …« Ich hielt den Mund und begann dann von neuem. »Das ist lange her.«
»Sie essen jetzt auf.« Sie nahm die Teesachen vom Tisch und blickte dabei in die Tasse meiner Schwester. Ihre Augen weiteten sich, und sie wurde still.
»Was ist?«, fragte ich. »Hat sie nicht ausgetrunken?« Grace würde es genauso wenig wagen, jemanden zu beleidigen, indem sie eine Teetasse nicht austrank, wie nackt durch das Wellston Triangle zu tanzen.
»Es ist nichts«, sagte Mrs. Bass, doch ihre Lippen waren weiß, als sie Graces Tasse nicht zur Steinspüle, sondern nach hinten hinaustrug. Die Tür zum Garten schwang mit einem Knarzen auf, dann ertönte das Geräusch von Tonzeug, das auf dem Pflaster zersprang, gefolgt von dem Zischen, als Mrs. Bass dreimal ausspuckte.
Beinahe hatte ich mein Abendessen vergessen. Mein Mund stand offen, aber ich schloss ihn rechtzeitig, bevor Mrs. Bass es sehen konnte. Sie errötete, als sie bemerkte, dass ich sie anstarrte.
»Ich weiß, es ist unsinnig.« Sie versuchte, es mit einem Lachen abzutun, dass sie eine ihrer wertvollsten Teetassen zertrümmert hatte.
»Sie können Omen in Teeblättern lesen«, sagte ich.
Ihre Schultern hoben sich. »Nur ein bisschen alte Weisheit. Das ist keine Hexenkunst
»Natürlich nicht«, beschwichtigte ich sie. »Was haben Sie gesehen?«
»Ich muss die Männer ins Bett scheuchen. Wenn Sie ein Bad möchten, der Tank ist angeheizt.« Sie ging hinaus.
Ich zählte bis drei, dann sah ich mir die Tasse an, die noch auf dem Tisch stand und aus der Mrs. Bass getrunken hatte. Ein Rad klebte an der linken Seite, was bedeutete, dass jemand der ihr nahe stand, gehen würde, aber nicht sie selbst. In der Nähe des Flecks, den der korallenfarbene Lippenstift hinterlassen hatte, war ein Kreuz, was bedeutete: sei vorsichtig, spare Geld, gehe kein Risiko ein. Der Rest der Blätter sammelte sich in der rotbraunen Flüssigkeit am Boden der Tasse.
Sie hatte etwas in Graces Tasse gesehen. Und es war so schlimm, dass sie versucht hatte, das Omen zu brechen. Nahm ich mir eine Tasse und trank Tee, was würde sich bei mir wohl finden?
Vielleicht wollte ich es nicht wissen, aber ich hatte bereits eine recht gute Mutmaßung. Ich wünschte, ich hätte meine Sammlung von Senecals Geschichten über die Amaranthine . Doch Kindheitserinnerungen würden mich nicht besonders weit bringen, was die Sagen über die Hüter des Ewigen Horts betraf.
Ich brachte meinen Teller zur Spüle und wusch ihn ab. Ein Luftzug vom Küchenfenster legte kühl seinen Arm um mich. An was erinnerte ich mich? Sich die Feindschaft der Amaranthine zuzuziehen, bedeutete Katastrophen lyrischen Ausmaßes. Menas der Gerechte hatte sie bestraft, nachdem ihre Streiche den Sterblichen gegenüber seine Geduld zu sehr strapaziert hatten, und so verfluchte er sie, nur noch die Wahrheit aussprechen zu können. Ihre Rache war der Stoff der Legenden, und ihre sterblichen Liebhaber vergingen vor Kummer.
Tristan war einen Handel eingegangen, mich zu unterrichten, und er würde genau das tun, was er versprochen hatte. Alles darüber hinaus bedeutete, sich auf trügerischen Boden zu begeben. Und das galt besonders für seine Einladung, sich privat zu treffen. Es war lange her, seit ich die vertraute Gesellschaft eines Freundes genossen hatte. Ich war zu beschäftigt. Und ich hatte zu viele Geheimnisse. Tristan kannte jedoch bereits ziemlich viele davon.
Die Handlung von Eine Sternensträhne für dein Haar kannte ich aber auch. Die Besucher des Stücks fragten sich, ob sie am Ende mit Heilyn wieder vereint sein würde, wenn Helenas Geist sich aus der blutigen Badewanne erhebt und in den Himmel zum Ewigen Hort aufsteigt.
Ich durfte ihn nicht näher an mich heranlassen.
Mrs. Bass rauschte mit einem kleinen Stapel Post in die Küche. »Die Quartalsabschlüsse kamen heute«, sagte sie. »Es waren so viele, dass sie nicht in den Briefkasten gepasst haben.«
Der Umschlag mit meinem sauber getippten Namen und Adresse und dem Logo der Bank in der oberen Ecke knisterte in meinen Händen. Auf der Briefmarke stand 20. Laubfall, also der Tag, an dem Nick Elliot gestorben war. Meine Fingerspitzen kribbelten. Ich tastete nach meiner Hosentasche, um mich davon zu überzeugen, dass die Schlüssel noch dort waren.
»Mrs. Bass, können Sie um fünf an meine Tür klopfen?«, bat ich. »Ich habe am Morgen eine Besorgung zu machen.«