9
Den Winter herbeisingen
I
n Nicks Briefkasten lag ein dünner Brief von Gold & Key Publishing, aber kein übergroßer Umschlag von seiner Bank. Ich schaffte es gerade rechtzeitig in die Kantine des Hospitals, um die letzte Hefeschnecke und einen Becher verbrannt schmeckenden Kaffee mit Deckel zu ergattern und beides mit nach oben zu nehmen. Angestellte schoben Rollwagen mit dem Frühstück für die Patienten vorbei und umgingen dabei die Postsekretäre, die Akten zwischen den Abteilungen hin und her beförderten. Der Brief, der in meiner Jackentasche wartete, stach mir in die Rippen. Ich hatte die Post eines Toten gestohlen – um Gerechtigkeit zu erlangen, rief ich mir ins Gedächtnis.
Es würde sich alles finden, wenn Mathy erst die Inspektion des Lebensumfelds autorisiert und den Bericht bei der Polizei eingereicht hätte. Und doch wollte ich nicht, dass jemandem der manipulierte Zeitplan auffiel, deshalb verbarg ich den Brief in der schwergängigen Schublade links. Die Teekanne stand auf einem Regalbrett, als wäre sie eine Rarität. Die Tinte auf den Inspektionsformularen war längst getrocknet, also schob ich sie auf mein Klemmbrett, bevor ich nach unten ging, um die Dienstprotokolle zu lesen.
Der junge und der alte Gerald gingen gemeinsam in den Garten hinaus, nachdem ich mit ihnen gesprochen hatte. Der junge Gerald kroch seitwärts um einen Fleck Erde herum, mit Gartenhandschuhen vergrub er Knollen in der dunklen Erde. Der alte Gerald rechte Blätter zusammen und füllte sie dann in einfach gewebte Jutesäcke. Auch andere meiner Patienten arbeiteten mit ihnen zusammen, sie versorgten Sträucher und pflückten Äpfel, als hätte die veränderte Stimmung des alten Gerald jeden einzelnen von ihnen angesteckt.
Die, die ihnen nach draußen an die frische Luft und in die Sonne gefolgt waren, waren die, die sich am besten erholt hatten, doch konnte ich sie nach Hause schicken? Sich in der Stille einer Einrichtung zu erholen, war nicht das Gleiche, wie der Welt draußen ausgesetzt zu sein. Doch es waren viele Männer auf dem Weg. Mehr Männer, als wir Betten hatten, selbst wenn wir jeden Mann entließen. Ich zog mich ins Hospital zurück, um mir die anzusehen, die sich noch nicht so gut erholt hatten wie die, die draußen gärtnerten.
Bill lag in seinem Bett, und seine Augen blitzten voller Hoffnung auf, als er mich sah.
»Können Sie mich mesmerisieren?« Bill umklammerte mit beiden Händen die meine. »Können Sie das tun, Doktor? Bitte.«
Eine Wolke von der Farbe getrockneten Bluts wirbelte wild durch seinen Kopf. Ich wagte nicht, sie zu berühren. Doch ich zog meine Uhr hervor und sprach ruhig und mit einem Funken meiner Macht durchwoben mit ihm, um ihm beim Einschlafen zu helfen. Er würde aufwachen und den gleichen Albtraum vorfinden, doch für den Moment hatte er Ruhe.
Um halb neun stahl ich eine Tasse Kaffee aus dem Arztzimmer, der nicht verbrannt schmeckte, und schlich mich dann hinaus, bevor mich jemand in eine Unterhaltung verwickeln konnte. Drei Stockwerke hinauf, die Teekanne holen, fünf Stockwerke hinunter bis in den Keller, wo ich einen Platz im Labor belegte, um eine Scherbe der Kanne auf den schillernden Rückstand von Arsen zu untersuchen. Ich ging es zwar verkehrt herum an, doch ich sah mit ein wenig Stolz zu, wie die Flamme über die gewölbte Oberfläche leckte. Nick Elliot würde Gerechtigkeit widerfahren.
Ich stellte die Flamme aus, dann drehte ich die Scherbe erwartungsvoll um und musterte die rußgeschwärzte Oberfläche.
Der Test war negativ.
Ich schob meine Laborbrille hoch und wandte die Scherbe dem Licht zu. Der geschwungene Teil von Nick Elliots Teekanne, die ich mit dem Hammer bearbeitet hatte, glänzte kein bisschen. Sie war nie mit Arsen in Berührung gekommen.
Lag ich falsch, was das Gift betraf? Die Symptome schienen zu passen. In weniger sauberen Zeiten, in denen man über weniger Wissen verfügt hatte, hätte man Nicks Krankheit für Cholera gehalten. Er hatte gesagt, er wäre vergiftet worden. »Im Tee.« Das waren seine Worte gewesen. Wir waren der Lösung nicht näher als zuvor.
Ich schob die Überreste der Kanne in einen Mülleimer. Dann ging ich in die Leichenhalle.
Ich öffnete die unverschlossene Tür. Die Angestellte blickte alarmiert auf und ihre Augen weiteten sich, als ich fragte: »Julia Riggins?«
Sie warf beinahe ihren Stuhl um, als sie aufsprang, um sich zu verneigen. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich bin Dr. Miles Singer.« Sie hatte die Notiz gesehen. Sie wusste, wer ich war.
»Sind Sie hier, um mich zu melden?« Ihre Stimme klang leise und verängstigt. Ich hatte sie in Angst versetzt, Angst davor, dass ich ihre Abwesenheit bei ihrem Vorgesetzten meldete, und sie die Konsequenzen tragen müsste. Es wäre gemein, ihr zu drohen, nur um zu bekommen, was ich wollte. »Ich dachte nicht, dass es Schaden anrichten würde. Die Leichenhalle war leer.«
»Darüber möchte ich mit Ihnen reden«, sagte ich. »Ich wollte eine Obduktion an einer der Leichen vornehmen, die gestern ins Krematorium gebracht wurden. Wie kam es dazu, dass alle Leichen abtransportiert wurden?«
»Dr. Matheson kam gestern herunter, fragte nach, wann die letzte gründliche Reinigung durchgeführt worden wäre«, sagte Mrs. Riggins.
Mein Mund wurde trocken. Warum sollte sie das interessieren? Sie war von der Allgemeinmedizin. Es war nicht ihre Aufgabe, die Reinigung der Leichenhalle anzuordnen. »Sie befahl Ihnen, die Leichen weiterzuschicken?«
»Nein. Sie sagte mir, dass ich die Reinigung durchführen sollte und die Leichen umlegen, damit sie alle in sauberen Fächern lagern.« Sie rang die zitternden Hände vor sich. »Nur konnte ich die Reinigungsanleitung nicht finden, also ging ich in den Materialienraum, um eine Kopie zu suchen, und …«
Ich wartete.
Sie schluckte und gestand dann. »Ich verließ das Hospital.«
»Ah.«
»Ich ging zu einem Karren mit Pasteten …« Sie rang die Hände und blickte auf, ihre Augen glänzten vor Tränen, die beinahe überliefen. »Ich musste die Leichenhalle nach Hygienestandard reinigen. Ich hatte das Frühstück ausgelassen, um meine Kinder zur Schule zu bringen. Ich brauchte etwas zum Essen. Und als ich zurückkam …«
»Waren die Formulare bereits ausgefüllt.«
Sie ließ den Kopf hängen. »Das Klemmbrett mit den Eingangsformularen lag auf meinem Schreibtisch. Ich weiß, dass ich die Leichenhalle immer beaufsichtigen muss. Ich wollte nicht …« Ihre Stimme verklang.
»Ich hätte an Ihrer Stelle genauso gehandelt. Aber Dr. Matheson hat die Leichen nicht ausgetragen?«
»Sie muss ihre Meinung geändert haben. Ich kam zurück und fand die Anordnung, dass sie weggebracht werden sollten.«
»Ist sonst jemand in die Leichenhalle gekommen während Ihrer Schicht?«
»Nein. Ich war allein, bis ich …«
»Bis Sie früher gegangen sind, um Ihre Kinder zu holen.«
»Bitte, Doktor.« Mrs. Riggins Stimme brach. »Es waren keine Leichen hier.«
Ich gab ihr mein Taschentuch. »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte ich. »Sie taten, was man Ihnen auftrug, und es schien nicht so, als würde es schaden, eine leere Leichenhalle unbeaufsichtigt zu lassen. Sie mussten Ihre Kinder versorgen. Ihre Schicht und die Ihres Ehemannes überlappen sich?«
Sie schluchzte. »Es ist nur … ein Tag die Woche und …«
»Und das bringt Sie in eine wirklich unangenehme Lage«, sagte ich. In der nächsten Woche würde ich meinen Papierkram nach Schichtende hier unten erledigen. Es war völlig egal, wo ich diese Aufzeichnungen machte. Niemand musste das erfahren. »Aber Sie sahen nicht, wie Dr. Matheson die Anordnung ausfüllte?«
»Sie kam um halb elf herunter, und ist direkt danach gegangen.«
»Wann sind Sie gegangen, um die Pastete zu holen?«
»Um elf Uhr. Ich war höchstens zwanzig Minuten weg.«
»Erinnern Sie sich daran, was Dr. Matheson anhatte?«
»Ihren Arztkittel.« Sie tupfte sich Tränen aus den Augen. »Eine Chirurgenhaube, aber sie trug darunter Lockenwickler. Einen ihrer Anzüge, Sie wissen schon, mit der … Hose.«
Also war sie nicht für den Lunch gekleidet gewesen. »Danke, Mrs. Riggins. Sie waren eine große Hilfe. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, würden Sie in meinem Büro anrufen?«
Sie dankte mir, und ich schrieb auf die Seite mit meiner Notiz im Dienstprotokoll: Bitte nicht beachten, Angelegenheit erledigt.
Ich warf die warme Kannenscherbe, die ich überprüft hatte, von einer Hand in die andere, während ich die Stufen hinaufstieg und im dritten Stock stehenblieb, um an Dr. Mathesons Tür zu klopfen.
»Es ist offen«, rief sie.
Ich öffnete die Tür zu einem Büro, in das meines viermal hineingepasst hätte. Die warme Scherbe schob ich in die Tasche, ging über die breiten Kieferndielen durch das Zimmer und legte die Inspektionsformulare auf ihren Tisch.
Sie nahm sie und setzte ihre Brille ab, um die winzige Schrift des Formulars zu entziffern. »Warum müssen Sie eine Umfeldinspektion vornehmen?«
»Einer meiner Patienten …«
»Untersuchen Sie die Entlassungsbedingungen eines Patienten?« Sie schob ihre Brille in die Brusttasche ihres weißen Kittels und stand auf. »Kommen Sie mit, ich wollte gerade nach den Schwestern sehen. Von welchem Patienten wollen Sie sich das Zuhause ansehen?«
Ich öffnete die Tür für sie, und blieb neben ihr stehen, als sie abschloss. »Nick Elliot. Er starb in der Notfallabteilung, vorletzte Nacht.«
»Was hat die Obduktion ergeben?« Sie ging in raschen Schritten auf die Treppe zu, und ihre Absätze klackten auf den Dielenbrettern.
Ich beeilte mich, sie einzuholen. »Gestern wurde angeordnet, die Leiche zu verbrennen. Er war weg, als ich ihn untersuchen wollte.«
Sie warf mir aus schmalen Augen einen Blick zu. »Also, Sie jagen da Hirngespinsten hinterher.«
Sie ging auf der Innenseite der Treppe, und ihre linke Hand lag auf dem Geländer, während sie mit schnellen Schritten hinablief.
»Nick Elliot sagte zu mir, dass er vergiftet wurde«, sagte ich. »Seine Symptome ließen mich an Arsen denken.«
»Er muss sich übergeben haben. Soll man die Kleider untersuchen?«
»Von den Mitarbeitern der Leichenhalle verbrannt.«
»Also haben Sie nichts außer seiner Aussage.« Sie übergab mir die Formulare. »Das kann ich nicht freigeben.«
»Was? Dr. Matheson?«
»Sie machen sich zu viele Gedanken, Miles. Ich meine damit nicht, dass Sie zu weich sind. Sie sind gründlich, pflichtbewusst und mitfühlend. Das macht Sie zu meinem besten Arzt in der Psychiatrie. Doch Sie haben noch nicht entschieden, wen Sie entlassen, und die Betten müssen bis nächste Woche frei sein.«
»Deshalb haben Sie …«
»Ich brauche in zwei Tagen sechzehn freie Betten. Ich kann es dahingegen nicht gebrauchen, dass Sie einem Rätsel aus einem Groschenroman hinterherrennen. Legen Sie diesen Verdacht auf Totschlag beiseite und erfüllen Sie Ihre eigentlichen Aufgaben.«
»Verdacht auf Totschlag ohne einen Bericht des Arztes, der die Leiche untersucht hat? Die Polizei würde keinen Finger rühren. Ich aber könnte etwas tun. Ich war der Einzige …«
War es so schlimm, dass ich keinen formalen Auftrag hatte? Ich musste herausfinden, was man ihm angetan hatte, und warum. Niemand außer mir und Mr. Hunter setzte sich für ihn ein. Verdammt, warum wollte sie nicht unterzeichnen?
Es sei denn, Tristan hatte Recht, und ich lag falsch.
»Dr. Matheson, die Anordnung, dass die Leichen zum Krematorium überstellt werden sollten, waren mit E. M. unterzeichnet«, sagte ich. »Waren Sie das?«
Ihre Augen weiteten sich. »Dr. Singer. Haben Sie da gerade …«
»Miles! Oh, was für ein Glück.«
Grace stand mitten in der Menge im Foyer und hielt einen geflochtenen Picknickkorb in der Hand. Der Deckel war einen Spalt breit geöffnet, und zwei Weinflaschen ragten heraus.
»Grace, was machst du hier?«
»Ich dachte, wir essen zusammen zu Mittag«, sagte sie. Ein Picknick, wie sie es sich immer als Kind gewünscht hatte, auf einem Tischtuch, sogar wenn wir nur im Spielzimmer gegessen hatten. Erinnerte sie sich auch an diese Zeiten? Sie reichte Mathy die Hand. »Dr. Matheson, wie geht es Ihnen?«
Dr. Matheson richtete sich gerader auf. »Wie geht es Ihnen? Vielen Dank für Ihre großzügige Spende für das Beauregard Veteranenhospital.«
»Es ist eine gute Sache«, sagte meine Schwester. »Ich fürchte, Sie haben mich ertappt, Doktor. Ich bin hier, um meinen ältesten Freund fortzulocken, damit wir gemeinsam zu Mittag essen können. Wir hatten gestern kaum Zeit, um uns auf den neuesten Stand zu bringen.«
Zuerst tauchte sie bei mir zu Hause auf, und jetzt stand sie mit einem Picknickkorb hier. »Ich muss meine Nachmittagsrunde erledigen, Grace, ich kann den Tag nicht über einer Flasche Wein verbummeln.«
Dr. Matheson tätschelte meinen Arm. »Ich weise Ihre Runde jemand anderem zu, keine Sorge. Genießen Sie das Mittagessen mit Ihrer Freundin, und dann wählen Sie Ihre sechzehn Männer aus. Wenn Sie eine Entscheidungshilfe benötigen, klopfen Sie.«
Sie rauschte in Richtung der Schwesternumkleideräume ab, und ihr Missfallen über meine noch nicht erledigte Arbeit schien unwichtig geworden. Grace hob den Korb ein wenig in die Höhe, und in ihrem zerknirschten Lächeln zeigte sich die Spur des Mädchens von früher.
»Du schwänzt nicht, wenn du die Erlaubnis hast.«
Ihre Spende hätte genauso gut ein Kaufvertrag sein können. Das ganze Hospital würde sich seiner großzügigsten Wohltäterin beugen. Doch ich kannte meine Verantwortung. »Ich habe einen Berg Papierkram vor mir. Und ich sollte meine Runde nicht verpassen.«
»Nur heute, Miles. Zeig mir dein Büro.«
»Es ist winzig.«
»Es hat eine gute Aussicht«, erwiderte ich unwirsch. »Warum fällt niemandem die Aussicht auf?«
»Weil sie versuchen, sich nicht die Knie überall anzuschlagen.« Grace wand sich durch den schmalen Gang zwischen meinem Aktenschrank und der Ecke meines Schreibtischs.
»Ich empfange keine Patienten in meinem Büro.« Ich räumte die Stifte, Tintenfässer und Löschpapiere vom Tisch und ließ den Stapel mit Formularen, den ich einsortieren musste, auf die Fensterbank fallen. »Ich habe für gewöhnlich auch keine Besucher.«
Sie blickte zu Boden. »Ich musste dich sehen.«
»Du hast mich gestern gesehen. Zweimal.« Ich war am Morgen ins Waschhaus gegangen, und war dabei über die Bruchstücke ihrer verhängnisvollen Teetasse gestiegen. Etwas würde von Grace kommen. Etwas Schlimmes. »Warum musst du mich sehen?«
Sie berührte mein Gesicht. Ich versteifte mich, zuckte aber nicht zurück. »Du fühlst dich beinahe nicht echt an, Miles. Ich dachte, du wärest tot, deine Knochen würden in der verdammten Erde Laneers verwesen.«
»Ich hätte dort sterben sollen«, sagte ich. »So viele starben, aber ich nicht.«
»Verstehst du es nicht? Ich musste dich sehen. Lebendig. In Sicherheit, und so lebend, wie du es verdienst.«
Wozu nicht gehörte, in einem einzigen Zimmer zu wohnen und als unbedeutender Arzt im Beauregard zu arbeiten. »Ich bin zufrieden, wo ich bin.«
Sie verdrehte die Augen. »Lass uns nicht streiten, Miles. Es tut mir leid, dass ich deinen Tag gestört habe. Nächstes Mal gehen wir in einen Speisesaal.«
Und ließen uns gemeinsam in der Öffentlichkeit sehen? »Wir können nicht in einen Speisesaal gehen.«
»Dann in eine Taverne. Die, die du mochtest. Der Rehbock
.«
Ich verschluckte mich. »Grace, der Rehbock
ist ein … Etablissement für Herren.«
»Das weiß ich, Miles. Ich bin kein Kind.« Grace öffnete die erste Weinflasche. Sie löste die Schnallen am Korbdeckel und nahm die Suppenschüsseln aus Porzellan und das Silberbesteck, dann goss sie Krabbensuppe aus einem beheizten Stahltopf.
»Krabbensuppe.«
»Magst du sie nicht?«
»Sollte ich wohl besser«, sagte ich. »Die steht dreimal die Woche zu Hause auf dem Tisch. Ich bin überrascht, dass du sie magst.«
»Ich habe schon in Tavernen gegessen. So abgeschirmt lebe ich nicht.«
»Warum tust du das?«, fragte ich. »Jemand wird es bemerken.«
Grace grinste. »Alle glauben, dass du eine alte Flamme aus Schulzeiten bist. Und ich habe sie nicht eines Besseren belehrt.«
»Aber du wirst heiraten.«
Grace brach ein Brötchen entzwei und Dampf stieg auf, als sie Butter darauf strich und es mir gab. »Und deine Abwesenheit bei der Hochzeit wird die Menschen nur noch mehr davon überzeugen, dass du ein lieber Freund bist. Alles ist in Ordnung, Miles. Iss deine Suppe.«
Die Suppe schmeckte köstlich, in der Brühe war Wein, und sie war mit mehr Kräutern veredelt, als ich es gewohnt war. »Also spendest du dem Hospital einen Haufen Geld.«
»Ich hätte mehr anbieten sollen. Ihr habt wirklich keinen Aufzug?«
»Wir haben wirklich keinen.«
»Das Mindeste, was ich für sie tun kann. Ein Abschiedsgeschenk.«
Ich senkte den Löffel. »Ein was?«
»Ich weiß, wie ich es anfangen muss.« Grace beugte sich über ihre Schüssel und stützte die Ellbogen fest auf den Tisch. »Deine eigene Praxis.«
»Nein.«
»Hör mich an. Du kannst Privilegien in jedem Hospital der Stadt haben …«
»Ich brauche keine Privilegien, es sei denn, ich operiere …«
»Das kannst du«, sagte sie. »Du würdest dich nie sorgen müssen, entdeckt zu werden.«
Oh, natürlich. Ich lehnte mich zurück. »Weil meine Patienten von den Hundert Familien kämen. Eine exklusive Kundschaft, die ihre Krankheiten mittels Magie behandeln lässt.«
»Genau.«
»Nein, Grace.«
»Aber bist du nicht deshalb gegangen?«, fragte sie. »Du wolltest ein Heiler sein, als alle sagten, dass Sekundäre nur dumme Tricks draufhaben. Du hast ihnen allen das Gegenteil bewiesen. Du kommst nach Hause …«
»Und erlaube, mich von dir binden zu lassen.«
»Du wirst Medizin ausüben können! Du zeigst den anderen Sekundären, wie sie ihre eigenen Fähigkeiten auch nützlich einsetzen können. Du kannst sie inspirieren!«
»Warum? Damit sie noch nützlicher sind für die Leute, denen sie sowieso schon gehören?«
Grace sah mich ernst an. »Niemand denkt so.«
»Vater denkt so.«
»Unsere Generation tut das nicht«, sagte sie. »Wir könnten die Kultur verändern, Miles. Wir könnten es besser machen. Du musst wissen, dass ich dich zu nichts zwingen würde, dass du dich mir nicht unterwerfen oder all die anderen schrecklichen Dinge tun müsstest, die Sturmsänger von ihren Sekundären erwarten.«
»Also würden wir mit gutem Beispiel vorangehen.«
»Ja! Ganz genau. Wir würden einen neuen Weg beschreiten.«
»Ich müsste mein Leben hier aufgeben. Meine Arbeit.«
Grace sah sich in meinem Büro um. »Ich sehe schon, es gibt hier so viel, was dich hält.«
»Sie brauchen mich, Grace.«
Die Sehnen an ihrem Hals traten hervor, als sie sich bemühte, ihre Gefühle im Zaum zu halten. »Ich brauche dich, Miles. Ich habe um dich getrauert. Ich konnte nicht aufhören, davon zu träumen, dass du ein Geist wärest, und du warst die ganze Zeit am Leben. Als ich dich brauchte.«
»Mich oder meinen Gehorsam?«
»Meinen Bruder. Unsere Familie. Ich weiß, dass du niemals einer Meinung mit Vater warst, aber du hast jetzt ein Druckmittel.«
Ich zwang mich, wieder eine ruhige Miene aufzusetzen. »Ich bin Abteilungsarzt in einem Veteranenhospital mit bescheidenem Lohn. Kein Druckmittel, dass der Erwähnung überhaupt wert wäre.«
»Du hast gestern mindestens fünftausend als Spenden an Land gezogen«, wandte sie ein.
Ich kniff die Augen zusammen. Sie versuchte es mit einem Ablenkungsmanöver, damit ich weiter darüber stritt, ob ich nun über ein Druckmittel verfügte oder nicht. »Grace. Was verbirgst du vor mir?«
Sie nippte an ihrem Wein. »Ich wollte warten, bevor ich es dir erzähle.«
»Nachdem ich die Neugestaltung meines Lebens durch dich angenommen hätte? Nachdem du mir ausreichend Honig ums Maul geschmiert hättest? Nachdem ich das gute Leben erneut gekostet hätte, das ich hinter mir ließ? Druckmittel, Grace. Gegen unseren Vater. Das bedeutet Macht.«
Grace hatte ihr Gesicht dem Fenster zugewandt.
Niemand hatte Macht über meinen Vater. Er war der Oberste Magier der Unsichtbaren der Königin. Er war der königliche Kanzler. Er unterstand Königin Constantina und Kronprinz Severin, und selbst das war umstritten.
»Ich habe keine Macht über meinen Vater, es sei denn, ich habe etwas, das er braucht.« Ich sah auf meine Hände. »Er ist krank, nicht wahr?«
Sie sah weg. »Es tut mir leid. Vielleicht hätte ich dir es direkt sagen sollen.«
In meiner Brust breitete sich Schmerz aus. Wie dumm. Ich hatte es besser gewusst. »Also braucht er nicht mich, er braucht meine Gabe. Und du wolltest sie für ihn erkaufen.«
»Er braucht dich, Miles. Er vermisst dich. Als er das Telegramm erhielt, in dem stand, dass du vermisst wirst, brach es aus ihm heraus.«
»Er ist immer noch im Sicherheitsrat, nicht wahr? Oder hat die Krankheit dafür gesorgt, dass er zurücksteckt?« Wut brannte in meiner Brust, und auch Schmerz. Das war der Preis dafür, dass ich meine Schwester wiederbekam: Ich sollte den Käfig ignorieren, den sie in der Hand hielt.
»An manchen Tagen muss er vom Bett aus arbeiten«, sagte Grace. »An anderen Tagen kann er eine Kutschfahrt unternehmen. Er kann nicht Rufen, und wir haben eine wichtige Aufgabe in der Frostnacht.«
»Wie lange ist er schon krank?«
»Ein Jahr.« Sie ließ die Schultern hängen. »Vor drei Wochen wurde es schlimmer.«
»Du musst den Winter einsingen?«, fragte ich.
»Es ist ein Sturmjahr, Miles. Wir müssen es sorgsam führen. Ich habe den Winter nie eingesungen, und es ist ein Sturmjahr, und Vater ist so krank.«
Ein Sturmjahr. Mein Magen krampfte sich zusammen.
Aelands Wetter war ruhig. Nicht zu warm im Sommer. Kalt, aber erträglich im Winter. Es fiel Regen, aber sanft, und der Schnee blieb lange genug, um hübsch auszusehen, bis er bei milderem Wetter wieder schmolz. Doch der gewöhnliche Aeländer wusste nicht, dass dieses ideale Klima das Ergebnis ständig wirkender Magie war.
Wirbelstürme würden alle Gebäude bis auf die standhaftesten zerstören. Heftige Regenfälle und Blitze würden Aelands dicht bevölkerte Küsten und die fruchtbaren Flusstäler heimsuchen, wenn nicht die Unsichtbaren wären, um das Wetter zu befrieden. Jedes Jahr war harte Arbeit. Sturmjahre waren jedoch besonders schlimm, und sie verlangten den Geheimen Magiern der Königin alles ab.
»Er hat es letztes Jahr gemacht?«
»Ja.«
»Wie sind die Symptome?« Ich wünschte mir, ich hätte die Frage zurücknehmen können.
»Brustschmerzen, Schwäche, Atembeschwerden«, sagte Grace. »Manchmal hilft Ruhe. An schlechten Tagen hilft nichts.«
Das konnte alles sein, aber bestimmt nichts Gutes. »Und du bist nicht verheiratet, und hast dich noch nicht gebunden.«
Grace schloss die Augen. Ich wusste, was sie da sah.
»Du wirst die Stimme der Unsichtbaren, wenn er zu früh stirbt?«
Sie atmete hörbar aus. Dann sank sie auf meinem Besucherklappstuhl zusammen. »Ich werde nicht genug Unterstützung haben.«
»Wer hat sie?«
»Sir Percy Stanley.«
Die Suppe, die eben noch gut geschmeckt hatte, verwandelte sich in meinem Magen in einen Klumpen. Die Antikriegs-Polemiker hatten den Krieg in Laneer Sir Percys Krieg genannt, und als Verteidigungsminister war dieser Vorwurf naheliegend. Hätte Stanley den Krieg nicht gewollt, wäre er nicht ausgebrochen.
Grace konnte ich mir nicht mit einer Giftphiole vorstellen, sehr wohl aber, wie Sir Percy den Befehl, jemanden zu vergiften, erteilte.
Ich streckte die Hand über den Schreibtisch. Grace packte sie, verflocht ihre Finger mit meinen und wir saßen so über den Schüsseln mit der Suppe, die langsam kalt wurde. Ich dachte an die Scherben der Teetasse. Hätte ich es verhindern können, wenn ich es gewusst hätte? Bedeuteten die Zeichen in den Teeblättern, dass sie ihren Platz verlor?
Wurde Sir Percy die Stimme, würde keine der Reformen umgesetzt, an die meine Schwester glaubte. Stanley hatte seinen erstgeborenen Sohn als Sklaven benutzt, als Batterie, um seine Sturmsängermacht zu verstärken. Ich hatte keinen Zweifel, dass die Ehe, die er für seinen Sohn arrangierte, ein Versuch war, die passenden Gaben wieder in die Linie der Stanleys hineinzuzüchten.
Ich mochte Darcy. Freunde, die ich zurückgelassen hatte, waren auf Graces Herrschaft angewiesen. Ich würde mich selbst nicht für ihre Sache verpflichten, selbst wenn es eine edle Sache war. Aber sobald Vater starb, hatte sie keine Zeit mehr.
Ich konnte ihr Zeit verschaffen.
»Ich werde Vater untersuchen, aber ich habe Bedingungen«, sagte ich.
»Sag mir, was du brauchst, und ich arrangiere es.«
»Es ist eher eine Liste von Forderungen.«
»Ich erfülle sie«, sagte Grace.
Als sie meine Forderungen hörte, stritten wir darüber, aber am Ende bekam ich meinen Willen.
»Behalt die andere Flasche.« Grace schloss den Deckel des Picknickkorbs über unserem schmutzigen Geschirr. »Ich besorge alles, was du brauchst.«
Ich half ihr in ihren Mantel und brachte sie die Stufen hinab in die Eingangshalle, gemäß der Höflichkeit, die man einer Lady erwies. Die Patienten blickten sie an, aber ihr silberner Fuchspelz und ihr modischer Aufzug hielten sie davon ab, sie anzusprechen oder ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Alle, außer Bill Pike, der sein Bett verlassen hatte, um sich von seiner Frau und seinem Kind zu verabschieden. Er starrte Grace mit lodernder Wut im Blick und geballten Fäusten an, und seine Lippen bewegten sich, als er unhörbar etwas vor sich hinmurmelte.
Als wir uns dem Ausgang näherten, öffneten sich die Türen. Mr. Hunter trat ein und lächelte, als er mich erblickte. »Miles«, sagte er.
Er hielt die Tür für Mrs. Pike und ihre Tochter auf und grüßte sie lächelnd. Bill starrte Tristan mit angstvoll aufgerissenen Augen an, ihm stand der Mund offen und er stolperte, als er eilig davonhastete.
»Was …?« Ich sollte zu ihm gehen. Mit ihm reden. Aber Bill floh so schnell er konnte, und Grace würde es falsch auffassen, wenn ich sie einfach stehen ließ. Ich stand zwischen meiner Schwester und Tristan, die sich gegenseitig mit schmalen Augen und voller Abneigung musterten.
»Miles, wer ist das?«
Ich zuckte zusammen. »Grace, das ist mein … Freund, Mr. Tristan Hunter.« Ihre Hand verkrampfte sich in meiner Armbeuge, und ich stammelte weiter. »Mr. Hunter, Dame Grace Hensley, Ritterin Ihrer Majestät.«
Tristan nahm schwungvoll den Hut ab und verbeugte sich. »Wie geht es Ihnen?« Die Geste war vollkommen korrekt, aber es war keine Geste der Höflichkeit.
Grace stand hochaufgerichtet und sah ihn an. Sie bebte vor Feindseligkeit. Was in aller Welt?
Natürlich. Sie konnte Tristans Schleier erkennen.
»Grace«, sagte ich sanft. »Mr. Hunter ist mein Freund.«
Sie starrte ihn weiter an. »Wirklich.«
»Grace.« Ich spannte meinen Bizeps unter ihrer Hand an. »Die Leute schauen her.«
Sie drehte den Kopf zur Seite und fasste sich wieder. »Entschuldige. Ich sollte gehen.«
Sie küsste meine Wange und hinterließ Spuren von ihrem blutlachenroten Lippenstift. Mit einem fragenden, feindlichen Blick sah sie ein weiteres Mal Tristan an, dann marschierte sie aus dem Hospital.
Tristan blickte ihr nach und beobachtete, wie die Türen sich hinter ihr schlossen.
Ich räusperte mich. »Was machen Sie hier? Ich habe Sie erst später erwartet.«
Er sah mich an, und seine Aufmerksamkeit blieb einen Augenblick auf dem Lippenstiftabdruck haften. »Ich habe dich unterbrochen mit deiner …«
Ich trat dicht an ihn heran und sagte mit leiser Stimme. »Meine Schwester. Es ist ein Geheimnis.«
»Deine … oh.« Tristan betastete seine Hutkrempe. »Ich wollte dir sagen, dass mein Kutscher Michael einen Notfall hatte, deshalb werde ich keine Kutsche zur Verfügung haben.«
»Haben Sie ein Fahrrad?«
Er nickte. »Ich habe es auf dem Weg hierher gekauft. Aber ich habe eine Verabredung, deshalb werde ich spät dran sein.«
»Praktischerweise werde ich auch spät dran sein. Bitte holen Sie mich ab, wenn Sie soweit sind.«
»Das werde ich.« Er nahm seine aufrechte und lockere Haltung wieder an, die er verloren hatte, als Grace mich geküsst hatte. Eine kleine Flamme regte sich in meiner Brust, als ich merkte, weshalb Tristan zusammengezuckt war. Ich war ein Idiot. »Haben Sie eine Spur im Hinblick auf Nick?«
»Ich habe eine Frau gefunden, die behauptet, ein Medium zu sein. Sie empfängt keine Klienten vor drei.«
Ich legte den Kopf schief. »Hat das etwas mit Ihrer Queste zu tun?«
Er lächelte über das altmodische Wort. »Ja.«
»Ich hoffe, Sie haben Erfolg.«
»Danke.« Er zögerte einen Augenblick, suchte nach Worten. »Ich freue mich auf das Abendessen.«
Er neigte den Kopf, die blauen Augen auf mich gerichtet, dann wandte er sich um und verließ das Hospital.
Mit einer Stunde Verspätung machte ich meine Visite und am Ende meiner Schicht hatte ich die qualvolle Aufgabe, sechzehn Männer auszuwählen, die nach Hause geschickt werden sollten. Der junge und der alte Gerald würden gehen müssen, also schrieb ich ihre Namen auf eine Liste, über der Entlassung
stand. Bill kam auf die Liste, die mit Bleiben
überschrieben war. Die Liste der Namen auf diesem Blatt war schneller voll als die mit den Entlassungen.
Ich fügte der Entlassungsliste einen fünften Namen hinzu, und spritzte dabei die Tinte auf meine Knöchel. Ich würde sie heute nicht fertigbekommen. Und Grace würde meinen Ausflug, um Vater zu heilen, ohne dass er es mitbekam, auch nicht an einem Tag organisieren können. Der Brief, den ich aus Nick Elliots Briefkasten genommen hatte, lag ungeöffnet auf meinem Schreibtisch und wartete darauf, dass Tristan eintraf. Ich war wegen seiner Ankunft nervöser, als ich sein sollte. Aber ich wusste, was er war, und er war nicht ungefährlich.
Es klopfte an meiner Tür, und Robins Umriss zeichnete sich vor dem Milchglas der Tür ab.
»Komm rein, Robin.«
»Miles, ich hörte, dass deine Jugendfreundin dem Hospital fünftausend Noten gespendet hat.« Sie schloss die Tür und lehnte sich dagegen. »Genug Geld, um die beiden Operationssäle zu erneuern und das nötige Personal einzustellen.«
»Witzig, ich habe gehört, es wäre genug Geld, um jedes Bett in der Allgemeinmedizin durch ein neues zu ersetzen, und fünf zusätzliche Schwestern für drei Jahre zu bezahlen.«
Die Lücke zwischen ihren Zähnen war zu sehen. »Deine Quellen sind befangen.«
Ich legte den Stift hin. »Ich möchte dich etwas fragen.«
Sie saß auf der Kante meines Schreibtischs und nahm den Beutel heraus, um sich einen Glimmstängel zu drehen. »Leg los.«
Sehnsüchtig sah ich auf den Tabak. »Hast du irgendetwas darüber gehört, dass die Leichenhalle desinfiziert werden musste oder von einem Notfall, wegen dem alle Leichen zum Krematorium gesandt werden mussten?«
Robin legte den Kopf schief. »Ich habe nichts von einem Notfall gehört.«
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und biss auf meinem Knöchel herum. »Erlaube mir eine.«
»Vergiss es«, sagte Robin. »Nur an schlechten Tagen.«
Robin war eine Tyrannin, aber ich würde ihre Mühe, die sie sich machte, um mir beim Aufhören zu helfen, auch nicht so einfach zunichte machen wollen. »Ich glaube, dass jemand mit Absicht Nick Elliots Leiche verbrennen ließ, damit ich ihn nicht untersuchen konnte. Schlimm genug?«
»Nein.« Sie leckte über den Klebestreifen am Blättchen und schloss den perfekt gedrehten Zylinder. Ich konnte es nicht besser, trotz meiner Chirurgenhände. »Warum sollte jemand das tun?«
»Um mich davon abzuhalten, die Todesursache festzustellen und einen Mord nachzuweisen.«
»Mord. Er wurde vergiftet?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe die Untersuchung nie durchgeführt.«
»Er sagte, er wurde ermordet.« Robin sah zur Decke. »Seine Aussage ist aber der einzige Grund dafür, dass du überhaupt einen Verdacht hast.«
Und das, was ich gesehen hatte, als ich ihn berührte, aber das konnte ich Robin nicht erzählen. »Und dann ist seine Leiche verschwunden, bevor ich herausfinden konnte, woran er starb.«
»Sollte man es der Polizei melden?«
»Keine Leiche, kein Mord.«
Robin verzog den Mund. »Miles. Lass es gut sein.«
»Warum sollte ich?«
»Wenn du recht hast, und es Mord war, und jemand die Leiche beseitigt hat … Warum sollten sie dich dann nicht auch beseitigen?«
Ein weiterer Schatten fiel durch meine Bürotür. Robin ließ ihren Tabak auf dem Schreibtisch liegen und öffnete die Tür.
»Mr. Hunter.« Sie verneigte sich.
»Miss Thorpe.« Tristan erwiderte die Verbeugung. »Wie geht es Ihnen?«
»Gut, danke. Sind Sie hier, um sich nach Nick Elliot zu erkundigen?«
»Ich bin neugierig, das gebe ich zu, aber ich bin wegen einer anderen Angelegenheit hier.«
Ich räusperte mich. »Mr. Hunter hat … er hat mich zum Abendessen eingeladen.«
Robin hob die Augenbrauen. »Wirklich.« Sie drehte sich zu Tristan um und starrte ihn an.
»Ich verspreche, dass ich ihn vor zehn nach Hause bringe.«
Sie grinste. »Tun Sie das, Mr. Hunter.«
Sie nahm ihren Tabakbeutel an sich und stand erwartungsvoll vor Tristan, der aus der Tür trat, um sie vorbeizulassen.
Er schloss die Tür hinter ihr. »Sie reißt mir die Eingeweide aus, falls ich dir wehtue«, sagte er mit einem Grinsen. »Sie musste es nicht einmal aussprechen. Du hast ihre Zuneigung geweckt, Miles.«
»Sie ist noch nie jemanden begegnet, der sagte, dass er mich besucht.«
»Ich stelle den Geschmack jedes Mannes und jeder Frau in dieser Stadt infrage.«
Mein Gesicht wurde heiß. »Wie laufen Ihre Nachforschungen?«
Tristan verzog das Gesicht. »Das Medium war ein Reinfall, muss ich leider sagen.«
»Das tut mir leid.«
Er lehnte sich an meinen Schreibtisch und seufzte. »In dem Tempo werde ich jeden Scharlatan in Kingston demaskieren, während ich herauszufinden versuche, warum ihr alle noch am Leben seid.«
Ich blinzelte. »Was?«
»Was ist das hier?« Er nahm den Brief an Nick Elliot in die Hand. »Du hast ihn nicht geöffnet.«
»Ich habe auf Sie gewartet. Was meinen Sie mit, warum wir alle noch am Leben sind?«
»Ich kann nicht glauben, dass du ihn nicht geöffnet hast. Du hast vermutlich auch nie nach Neujahrsgeschenken gesucht.«
Nicht, ohne dass Grace den Anfang machte. »Ich verfüge über Selbstbeherrschung.«
Er lachte leise. »Ich weiß.« Tristan drehte den Umschlag in den Händen. »Das Papier ist von guter Qualität. Bekannter Verlag?«
Ich deutete auf die Groschenromane auf meinem Regalbrett. »Das sind alles Ausgaben von Gold & Key.«
»Und das ist …« Er nahm meinen Brieföffner und schlitzte den Umschlag auf. »Oh. Teurer Umschlag, billiges Papier.«
Ich sog die Luft ein. »Matrizendruck.« Aber auch handgeschrieben. Die Tinte war bei kräftigen Strichen und Punkten durch das dünne Papier gedrückt.
»Merkwürdig.« Tristan faltete den Brief auf. Seine Augenbrauen hoben sich, als er ihn laut vorlas:
»Sehr geehrter Sir: Wir danken Ihnen für Ihre Einreichung bei Gold & Key, aber Ihr Manuskript erfüllt nicht die Anforderungen dieses Verlags. Viel Glück dabei, es anderweitig unterzubringen.«
»Autsch. Ein Formbrief.«
Er drehte das Papier um und lud mich ein, es mir anzusehen. Ich beugte mich über seine Schulter. Unter der violettschwarzen Tinte stand in sauberer blauer Schrift: Nick: wenn dein Redakteur das hier nicht will, will ich es auch nicht.
Die Notiz war mit L. R. unterzeichnet.
»Ein zu persönliches Postskriptum für einen Fremden«, bemerkte Tristan.
»Was will er nicht?«, fragte ich. »Es handelt sich um keinen Roman, wenn L. R. meint, dass Nicks Redakteur bei der Zeitung es nicht will.«
»Was immer es war, ich denke, wir sollten zu der Zeitung gehen und nachfragen.« Tristan steckte den Brief zurück in den Umschlag. »Bist du soweit?«
»Mr. Hunter.«
Er drehte sich zu mir um, obwohl kaum eine Handbreit zwischen uns Platz war. »Eines Tages nennst du mich noch Tristan.«
Ich schluckte. Er war so nah, dass ich seine Energie spürte und die Spannung, während er auf meine Antwort wartete. »Ich möchte, dass Sie mir beibringen, wie ich meine Macht verbergen kann.«
»Das werde ich. Was möchtest du sonst noch lernen?«
»Ich kann die Macht anderer nicht sehen, wenn ich keinen Hautkontakt habe.«
»Eine hervorragende erste Lektion. Halte still.« Er streckte die Hand nach meinem Gesicht aus. »Du hast da eine Wimper …«
Ich erstarrte. Glatte Finger strichen über meine Wange, dann lag ein kurzes, gebogenes Haar auf den Rillen seines Zeigefingers. »Hast du dir als Kind etwas dabei gewünscht?«
Auf meiner Haut spürte ich seine Berührung, und der sanfte Geist klang nach, berührte mich erneut. Ich fand meine Stimme, doch sie klang rau. »Das taten wir.«
Er hielt seine Hand näher an meinen Mund. »Sag mir nicht, was es ist.«
»Was, wenn ich nicht weiß, was ich mir wünschen soll?«
Er lächelte. »Ein Problem, das wir nie hatten als Kinder. Sei eigensüchtig mit dem Wunsch, Miles. Puste.«
Er war einmal ein Kind gewesen. Ich verdrängte den Gedanken und pustete. Mein Wunsch bestand nicht aus Worten, doch er roch nach Fenchel. Die Wimper flog davon und war nicht mehr zu sehen.
»Gut gemacht.« Tristan legte mir meinen Schal um den Hals. Ich hielt still, weil ich dumm war. Leichtsinnig.
Dann machte ich einen Schritt zurück und knöpfte den Mantel zu. »Dass ich mir etwas wünschte?«
»Selbstsüchtig.«
Hitze prickelte auf meiner Haut.
Er zog seine Handschuhe hervor und setzte seinen Hut auf. »Wir fangen nach dem Abendessen mit der Ausbildung an.«