10
Halston Street und 1703 West
W
ir liefen durch das Foyer des Hospitals, und ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden – so wie früher, wenn ich aus dem Operationszelt gekommen war, um zu rauchen.
Tristan berührte mich an der Schulter. »Miles?«
»Der Mann mit der Zeitung.« Ich nahm jede Einzelheit seiner Erscheinung wahr, angefangen von dem neuen Hut, dem ordentlich gewachsten Schnurrbart, bis hinab zu den umgeschlagenen Hosenbeinen. Jede Naht und jede Falte zeugte von Geld. Zu viel Geld, um in einem Veteranenhospital herumzulungern.
»Was ist mit ihm?«
»Nichts«, sagte ich. »Gehen wir.«
Der Fremde trat mit der Zeitung unter dem Arm aus dem Hospital, als ich mein Fahrrad aufschloss. Er ging um eine Ecke und verschwand in dem Moment, als ich die Fahrradkette löste.
»Das war der Mann?«
»Ja«, sagte ich. »Es ist nichts.«
»Vielleicht.« Tristan ging am Zaun entlang und öffnete die Kette eines Fahrrads, das all die kleinen Annehmlichkeiten aufwies, die es als ein Fahrrad eines reichen Mannes auszeichnete – die Schläuche und Schutzbleche waren handbemalt, die Kette war vollständig gekapselt, der ansehnliche Ledersattel war doppelt gefedert und es verfügte über ein Radschloss. Er wartete, dass ich vorausfuhr.
Der Nachmittagsverkehr in Kingston ist haarsträubend für jeden, der nicht daran gewöhnt ist. Man gesellt sich zu einem Schwarm Radfahrer und rückt dann in der Reihe auf, bis man ganz vorn in Führung ist. Es gibt ausgeklügelte Signale, Verhaltensweisen und Gepflogenheiten, wie man sich einem solchen Schwarm anschließt, und man denkt gar nicht mehr über sie nach, bis sie jemand durcheinanderbringt. Tristan fuhr hinter mir her und rief: »Halston und 17. West.«
Eine vornehme Gegend, die gesäumt war von hohen, schmalen Stadthäusern mit winzigen Gärten, in deren Mitte je ein Apfelbaum stand. Ich klingelte zweimal und rief dem Schwarm »Neuer Fisch« zu, und einige der Fahrer vorne winkten, um den neuesten Zweiradkonvertiten zu begrüßen.
Wir waren in einen Schwarm mit lauter Männern in Straßenanzügen und glänzend polierten Schuhen geraten, vermutlich Büroangestellte oder sogar Direktoren. Tristan radelte neben mir her und grinste. »Wirklich erfrischend«, sagte er. »Was für ein Gewinn, das Fahrrad.«
»Sie werden Michael deshalb entlassen, nicht wahr?«
»Es sind nur noch ein paar Tage.« Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, dann sah er erneut zurück. »Nicht umdrehen.«
Ich kämpfte den Drang nieder, seine Geste nachzuahmen. »Was ist?«
»Der Mann aus dem Hospital ist hinter uns.«
Ich warf einen Blick in meinen Rückspiegel am Lenker, direkt hinter uns fuhren einige Frauen. »Er könnte ein eigenes Ziel haben. Lassen Sie uns die nächste rechts abbiegen.«
Wir brachen aus dem Schwarm aus und wandten uns nach Süden, und dieses Mal fing mein Spiegel ihn ein – in einiger Entfernung, er bog ebenfalls ab.
»Links in diese Gasse«, sagte ich und wir machten einen scharfen Schlenker. Die Pflastersteine rüttelten meine Knochen durch, als wir durch den Gestank von Restaurantunrat und Fettfässern radelten, und dabei parkenden Kutschen und Pferdeäpfeln auswichen.
Tristan fuhr mit voller Kraft voraus, und führte uns zurück auf die glatte Asphaltpiste. Der Mann mit dem Schnauzer trat kräftiger in die Pedale und verfolgte uns.
Durch meine Glieder pulste das Adrenalin. Ich beschleunigte. »Links«, rief ich, und als Tristan durch eine Lücke raste und zurück auf die Wakefield Street einbog, schwenkte ich nach rechts ab und schnitt dabei beinahe einem langsameren Schwarm den Weg ab.
Sie schrien mir hinterher. »Verbrecher! Chaot!« Einer bezeichnete mich sogar als Organ, das zur Ausscheidung bestimmt war, doch ich behielt meinen Spiegel im Blick und fuhr weiter. Links oder rechts? Wen von uns beiden wollte er?
Er wählte rechts. Mich also. Trotz allem grinste ich. Wenn er mich haben wollte, musste er mich erst einmal kriegen.
Ich fuhr zwischen Fahrradschwärmen hindurch und auf die Kreuzung, dann machte ich eine enge Kehre und strampelte einen kurzen, steilen Hügel hinauf. Na, du Lump. Lass mal sehen, ob du mithalten kannst. Ich stemmte mich in die Pedale, doch er hatte eine bessere Kondition, als ich angenommen hatte, und bald raste ich durch eine Straße, auf der viele Fußgänger unterwegs waren, die für ihre Besorgungen die Straße von einem Laden zum anderen überquerten. Ich betätigte meine Klingel und rief »Obacht«, dabei wich ich aufgeschreckten Kunden aus, die mir mit den Fäusten drohten, um gleich darauf wieder empört aufzukreischen, als mein Verfolger hinter mir herankam.
Mit einer allgemein bekannten beleidigenden Geste schreckte ich ein Kutschpferd auf, als ich in eine gepflasterte Gasse abbog. Er würde schon noch schlapp machen. So wie er hinter mir herjagte, musste er eine enorme Wut haben. Ein kühlerer Kopf hätte mich davonkommen lassen.
Ich sah die Hindernisse scharf und klar vor mir. Hosenbeine strichen mir über den Rücken, als ich unter Kleidern hindurchfuhr, die auf einer zwischen den Häusern einer Gasse aufgespannten Leine trockneten. Eine Katze brachte sich in Sicherheit. Ich trat kräftig in die Pedale und bog auf eine andere Straße ab, während mein Verfolger weiter hinter mir herraste, sein Schnauzer kringelte sich dunkel in seinem von der Anstrengung geröteten Gesicht.
Ich bog um eine Ecke und Tristan fuhr auf mich zu, an mir vorbei, hielt fest entschlossen auf meinen Verfolger zu. Mein Blut sang, als ich einen weiten Bogen fuhr und mich Tristan bei seiner Verfolgung anschloss. Wir waren zwei gegen einen, und nun waren wir die Jäger, während er vor Tristans grimmiger Miene floh und über die schwarze, glatte Straße raste, um uns zu entkommen.
Doch er war es nicht gewohnt, fuhr nicht jeden Tag acht Kilometer bergauf auf seinem Weg zur Arbeit oder stieg jeden Tag Treppen hinauf und hinunter. Wir holten auf. Er versuchte, uns mit plötzlichen und heiklen Manövern abzuhängen, bis wir den Kings Way erreichten, und sich die Bahnschranken senkten.
Ein Zug kam. Wir hatten ihn, und ich wollte ihm mehr als ein paar Fragen stellen.
Doch er trat noch fester in die Pedale und hielt direkt auf die Gleise zu. Wir waren nah genug, dass mir das Sirren des Kupferkabels in den Ohren klang, das über den Schienen gespannt war, und dann ertönte das Heulen des Signalhorns, als der Fahrer über die Gleise und direkt vor den Zug raste.
Die Schienen kreischten, als der Maschinist zu bremsen versuchte, doch ein Passagierzug braucht viermal so lange für einen Nothalt wie ein normales Fahrzeug. Radler, die an der gesenkten Schranke standen, schrien, und manche sahen weg …
Und unsere Beute schlidderte über die Schienen wie ein Seifenstück, das einem aus der nassen Hand flutscht.
Der Zug kam langsam zum Stehen, und der Mann mit dem Schnauzer war uns entwischt.
Tristan beugte sich über seinen Lenker und atmete schwer, aber er sah mich an und grinste. »Das hat Spaß gemacht.«
Tristan war verrückt. Doch das war ich auch, denn in meiner Brust stieg ein freudiges Lachen auf. Unser Verfolger war entkommen, aber wir hatten den Spieß umgedreht, und das hatte ziemlich gut geklappt.
»Haben Sie ihn sehen können?« Ich senkte die Stimme zu einem Raunen. »War er eine Hexe?«
»Ja, und ja. Er ist eine Hexe.« Tristan musterte mich. »Komm mit zu mir nach Hause. Und iss etwas. Wir werden hart arbeiten müssen.«
Tristans Stadthaus war voller Spiegel. Statt Gemälden und Fotografien hingen Spiegel an den Wänden. Sie steckten in Rahmen, die vergoldet waren oder aus Rosenholz oder blassem, von Hand geschmirgeltem Birkenholz bestanden. Der Spiegel neben Tristans Schirmständer reichte noch ein paar Zentimeter über meine eigenen gut ein Meter achtzig hinaus, und der Rahmen war mit geschnitzten Girlanden aus Bändern und Geschöpfen des Waldes verziert, die hinter überlappenden Eichenblättern hervorblickten. Identische, in Silber gerahmte Spiegel flankierten einen schmalen Gang, der in die Küche führte, wo Tristan selbst das Essen für uns zubereitete.
Ich war immer noch aufgewühlt von unserem Abenteuer, doch die Aufregung verwandelte sich in Anspannung und Nervosität. Der Mann hatte auf mich gewartet. Er war uns gefolgt, und obwohl wir den Jäger zur Beute gemacht hatten, begriff ich nun langsam die Bedeutung dessen, und ich erschauderte: Nicks Mörder wusste, dass ich involviert war.
Ich drehte das Sherryglas nervös zwischen den Fingern und sah Tristan zu, der in Hemdsärmeln arbeitete. Er konnte kochen, und er ging gewandt und anmutig mit Messer und Topf um.
»Du wirkst überrascht.«
»Ich dachte nicht, dass Amaranthine …«
Er lachte. »Essen?«
»Kochen.«
»Was denn, du dachtest, wir beschwören einfach Ambrosia mithilfe unserer Magie herauf?«
Ich zuckte verlegen mit den Schultern.
Er schnitt, sautierte und servierte uns dann Rindersteak und eine bunte Gemüsemischung, die aus dem Gewächshaus stammte, zusammen mit gebratenen Pilzen.
»Es gibt noch mehr«, drängte er mich. »Das gibt Kraft, du wirst sie brauchen.«
Also aß ich, bis mir schwarze Punkte vor den Augen tanzten, dann führte er mich in den Salon. Ich blieb in der Tür stehen und sah mich um. Die Möbelstücke passten nicht zusammen, doch alle waren gesteppt, gepolstert und mit Kissen in bunten Farben und kräftigen Stickmustern überladen. Es war eine Mischung aus Ramschladen, dem Boudoir einer Lady und einem Herrenzimmer. Es fehlte nur noch eine Katze.
»Du sagst nichts.«
»Ich bin sprachlos.«
»Oh, versuche es.« Tristan streckte sich auf einer mit Hirschleder bezogenen Liege aus.
»Es sieht gemütlich aus.« Das tat es wirklich. Dieses Zimmer war dazu bestimmt, sich darin zu entspannen, zu rauchen und Gespräche bis tief in die Nacht zu führen. Es war ein Zimmer, in das man enge Freunde und Vertraute mitnahm, keine Gäste. Gemütlich.
»Mein Heim ist nicht das, was du erwartet hast.«
»Sie sind nicht das, was ich erwartet habe. Ich meine. Die Amaranthine sind furchtbare und schreckliche Wesen, und Sie sind …«
»Hast du eine Ahnung, wieviel Arbeit es ist, sich so erhaben zu geben? Sich am Obersten Hof aufzuhalten, ist ermüdend. Ich entfliehe ihm, wann immer ich kann.«
»Wie ist es am Obersten Hof?«
Er bedeckte die Augen. »Höflich. Manierlich. Gefährlich und wunderschön. Jeder hat eine Leiter auf dem Rücken.«
»Klingt wie Lucus’ Hof, bevor die Hundert Familien sich gegen ihn stellten und Königin Agnes ausriefen.« Ich ging mit zwei Schritten zu einem weichen Sessel und ließ mich hineinsinken. Mein Ellbogen stieß gegen eine mundgeblasene Wasserpfeife, und ich beugte mich hinab, um daran zu riechen.
»Haschisch«, sagte Tristan.
»Wäre es Opium, hätte ich Ihnen einen Vortrag gehalten.«
»Ich bin ein braver Junge, Doktor. Vergnügen, kein Verderben.« Er setzte sich auf und klopfte auf den Platz neben sich. »Komm, setz dich her. Ich möchte dich etwas fragen.«
Ich setzte mich neben ihn und ließ ein wenig Abstand zwischen unseren Oberschenkeln. »Was möchten Sie wissen?«
»Warum verfolgt man die armen Hexen? Warum sagst du, dass sie verrückt werden?«
Ich blinzelte. »Das werden sie. Sie alle.«
»Aber deine Leute, die Adeligen – sie nicht?«
»Nein. Naja. Sie neigen genauso zu Melancholie oder Überspannungen wie alle anderen auch, aber Hexen sind anders.«
»Das sind sie nicht«, sagte Tristan. »Der Unterschied besteht in Wohlstand und Macht. Ihr verfügt darüber, sie nicht.«
Ich schüttelte den Kopf. »Hexen sind nicht wie Magier.«
»Das ist dünkelhaft, Miles. Was hast du für Beweise?«
»Aber sie werden verrückt. Es gibt Fälle. Jede Menge.«
»Hast du jemals eine Hexe getroffen?«
»Einmal sah ich eine. Sie wurde der Prüfung unterzogen und überführt. Es war im Sanatorium von Kingston, und sie wartete dort auf den Transport.« Man hatte sie gefesselt, damit sie sich nichts antun konnte, doch sie war weit von jeglichem Widerstand entfernt, hatte in sich selbst versunken dagesessen, um dem zu entfliehen, was mit ihr geschah.
Als sie mich sah, schrie sie, das Gesicht vor Zorn zu einer Fratze verzogen. Sie hatte es gewusst. Sie hatte es in mir erkannt. Sie hasste mich, dafür, dass ich frei war, und sie gefesselt.
Das konnte ich ihr nicht vorwerfen.
»Nur eine«, sagte Tristan und holte mich aus meinen Gedanken zurück. »Und eine verrückte Hexe ist schon ein Beweis?«
Diese Frage traf mich. »Doch warum würden wir sie einweisen, wenn sie gar nicht verrückt wären?«
»Eben, warum?«
Was er damit andeutete, konnte nicht wahr sein. Es musste einen Unterschied geben. Warum sonst brachte man sie weg? »Wollen Sie damit sagen, dass es eine Lüge ist? Dass sie … aus dem Weg geräumt werden?«
»Hast du dich schon mal mit den Verhören beschäftigt?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe Artikel in den Zeitungen gelesen.«
»Ich wohnte Verhören bei, und ich las die Verhandlungsprotokolle. Weißt du, was üblicherweise als Beweis für den Wahnsinn einer Hexe dient?«
»Wahnvorstellungen.«
»Besonders die Wahnvorstellung, die sie dazu bringen, andere der Hexerei zu bezichtigen. Sie denunzieren für gewöhnlich Menschen aus den höchsten Rängen der Gesellschaft: Die Ritter der Königin.«
Mein Abendessen lag mir plötzlich wie ein Stein im Magen. »Aber das ist …«
»Wahr«, vollendete Tristan den Satz. »Es tut mir leid, Miles. Ich dachte, du wüsstest das, als Psychiater.«
»Wir haben Spezialgebiete.« Wie viele Hexen waren in einem Sanatorium gelandet? Wie viele waren an den Galgen gekommen, bevor die Aufklärung die Menschen davon überzeugte, dass Hexen nicht böse waren, sondern einfach nur wahnsinnig? Wie viele waren festgenommen worden, nur damit wir von den Hundert Familien frei herumlaufen konnten, frei und reich und mächtig? In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Galle stieg mir in die Kehle und ließ einen widerlichen Geschmack an meinem Gaumen zurück. Und ich wurde von Hass geschüttelt. Ich hasste sie, ich hasste mich selbst.
»Miles. Deine Leute, die Magier. Warum machen sie sich gegenseitig zu Sklaven?«
»Es gibt nur eine Art Magier, die von Bedeutung ist, die Sturmsänger.«
»Und du bist kein Sturmsänger, und deshalb bist du nicht von Bedeutung?«
»Die, die das Wetter nicht kontrollieren können, werden an die Sturmsänger gebunden, damit diese die Macht ihrer Sekundäre nutzen können, so als wären sie lebende Batterien.«
»Warum?«
»Macht«, erwiderte ich. »Die Gruppenrituale fordern jeden letzten Rest der Macht von den Magiern, die teilnehmen. Würde jemand herausfinden, wie man zwei Sekundäre gleichzeitig binden und von beiden Energie gewinnen könnte, ohne dass man den einen zuerst töten müsste, würden sie es tun. So wichtig sind Sturmsänger.«
»Also glauben deine Leute, dass du ihnen deine Macht vorenthältst, die sie für ihre Sache brauchen?«
»Ja. Man würde mich unter strengste Beobachtung stellen, weil ich geflohen bin.«
Tristan streckte die Hand aus, zog sie jedoch zurück, bevor er meine berührte. »Möchtest du nach Hause gehen?«
»Nein.« Ich wollte damit nicht allein sein. Ich wollte nicht in meinem ungemütlichen Bett liegen und mich vor Wut krank fühlen. Doch jetzt musste ich es vergessen und später darüber nachdenken. »Lehren Sie mich.«
»Zuerst musst du lernen, ohne Berührungen zu sehen. Das ist eine Blockade im Geist, die nicht schwer zu lösen ist.«
Eine Welle der Dankbarkeit durchrieselte mich. »Was soll ich tun?«
»Such dir einen Spiegel aus«, sagte er. »Einen, in dem du dich selbst und mich sehen kannst. Beobachte die Spiegelung, dann lass deinen Geist auf Wanderschaft gehen. Du brauchst einen gewissen Bewusstseinszustand, damit es klappt.«
»Welchen?«
»Sieh in den Spiegel«, sagte Tristan erneut.
Ich setzte mich ein wenig zurück und wählte den Spiegel mit dem einfachsten Rahmen. »Und jetzt?«
»Sieh hinein, bis du vor Langeweile heulen könntest.«
»Und dann?«
»Sieh weiter hinein.«
Ich sah stundenlang in den Spiegel. Tristan las ein Buch. Ich rutschte unruhig herum, kämpfte darum, still zu bleiben, zerrte meinen immer wieder wandernden Geist zurück, und endlich seufzte ich. »Das funktioniert nicht.«
»Denkst du zu viel?«
»Vermutlich.«
»Über was denkst du nach?«
Ich hatte die letzte Minute damit verbracht, mich nach seiner ebenmäßigen Nase zu sehnen und der gelehrten Haltung, in der er las. Es wäre schön, in diesem Zimmer über Büchern und bei Brandy zu verweilen, zu reden oder zu lesen, oder …
Ich konnte nichts davon aussprechen. »Ich muss lernen, wie es geht. Es wird meinen Patienten helfen, und es bedeutet Sicherheit für mich. So viel hängt davon ab.«
»Zu viele Gedanken.« Tristan streckte die Hand aus. »Berühre meine Hand.«
Ich sah weiter auf sein Spiegelbild. Es schimmerte, und ich setzte mich aufrechter. Als Tristan meine Hand los ließ, verschwand die Verzerrung. Ich sank zurück in die Kissen. »Ich werde das nie lernen.«
Tristan nahm erneut meine Hand. Raue Stellen an seiner Handfläche rieben über meine Haut.
Ich starrte auf das Schimmern seiner sterblichen Verkleidung und wollte es zwingen, zu bleiben, auch wenn er seine Hand wieder wegnahm.
Es verschwand.
»Lassen Sie uns etwas anderes probieren«, sagte ich. »Lenken Sie mich mit ein wenig Unterhaltung ab.«
»Worüber sollen wir reden?«
»Erzählen Sie mir, warum Sie hier sind. Seit wann sind Sie schon hier?«
»Beinahe ein Jahr. Ich bin hier, um ein Rätsel zu lösen«, sagte Tristan.
»Sie meinen nicht Nick Elliot.«
»Nein. Man schickte mich, um herauszufinden, warum ihr alle gestorben seid.«
Ich sah ihn an. »Was meinen Sie?«
Tristan malte kleine Kreise auf meinen Handrücken. »Schau weiter in den Spiegel. Was siehst du?«
»Ich sehe Sie, aber das Bild kräuselt sich. Was meinen Sie? Wir leben doch.«
»Das tut ihr. Es gibt Millionen von euch Aeländern. Aber eure Seelen kommen nicht in den Ewigen Hort. Seit Jahren nicht.«
»Warum? Wo gehen sie hin?«
Tristan zuckte mit den Schultern. »Wenn ich das wüsste, wäre ich auf dem Weg nach Hause. Was siehst du, wenn du heilst?«
»Ich sehe Anatomie«, sagte ich. »Ich sehe das Herz schlagen, die Lungen, die anschwellen, das Pulsieren des Bluts. Wenn jemand eine Kugel in der Brust hat, kann ich die Kugel sehen, und das zerrissene Fleisch auf dem Weg, den die Kugel genommen hat.«
»Ich wusste nicht, wie es geht.« Tristans Spiegelbild flackerte, als ob ich ihn durch Wasser anblickte, das über eine Fensterscheibe lief.
»Warum sind Sie jetzt hergekommen?«
»Mh?« Tristan legte den Kopf schief. »Nach Kingston?«
»Sie sagten, Sie dachten, dass wir alle seit Jahren tot wären. Warum jetzt?«
»Die Magie begann, an anderen Stellen im Reich zu erlöschen. Wir sandten jemanden dorthin, um nachzusehen. Der Einfall, mich in ein Land zu schicken, das tot war, kam … später hinzu.«
»Also wurden Sie auf eine sinnlose Mission geschickt?«
Tristans Spiegelbild sah weg. »Jede Suche war gut, solange es bedeutete, dass ich nicht am Hof bin. Was machst du mit der Kugel?«
Ich blinzelte. »Was?«
»Ich fragte dich über deine Technik. Entfernst du die Kugel durch eine Operation?«
Er hatte das Thema gewechselt. »Ja.«
»Ich dachte, du bewegst den Körper dazu, sich zu heilen. Mir war nicht klar, dass dafür so viele Einzelheiten nötig sind.«
»Vielleicht macht ihr Amaranthine es so. Sobald die Kugel draußen ist, kann ich das Fleisch dazu bringen, sich wieder zu schließen. Besser gesagt, ich versetze ihm einen Schubs. Dann ist mir schwindlig, und mir wird beinahe schwarz vor Augen.«
»Weil du die Grenze deiner Macht erreichst«, sagte Tristan. »Hast du Kugeln entfernt?«
»Schusswunden waren noch das Geringste. Granaten, Minen – die waren das Schlimmste für mich.«
»Die konntest du nicht heilen?«
Mein Lachen klang bitter. »Oh doch, das konnte ich. Ich fing die ab, die am übelsten verletzt waren. Die, die beinahe tot waren, die aussichtslosen Fälle. Ich rettete sie. Viele von ihnen.«
Ich hatte Wunder gewirkt.
»Du bist mächtig. Und du fandest eine Möglichkeit, dich selbst zu lehren«, sagte Tristan. »Kannst du alte Wunden an mir erkennen?«
Ich richtete mich wieder auf.
»Da. Sie hatten eine Verletzung. Rechts auf der Brust. Es durchbohrte ihre Lunge, traf das Schulterblatt – was ist passiert?«
»Ich kam einem Pfeil in die Quere.«
Die Narbe nahm einen direkten Weg. Eine Kugel hätte innen mehr Fleisch zerrissen, da sie vom Schulterblatt abgeprallt wäre. »Erstaunlich. Wie ist das passiert?«
»Ein Mordanschlag.«
Ich blinzelte. »Jemand versuchte, Sie zu töten?«
Tristan lachte. »Nicht mich. Ich bin … ich war eine Leibwache der Thronfolgerin. Ich warf mich zwischen sie und den Pfeil, als sie noch ein Kind war.«
»Das ist mutig.«
Er zuckte mit den Schultern. »Es war nur meine Pflicht.«
»Wenn Sie der Leibwächter der Thronfolgerin sind, was tun Sie dann hier?«
»Hast du bemerkt, dass wir uns nicht mehr berühren?«
Das taten wir nicht. Er saß da und hatte die Hände auf den Oberschenkeln liegen. Ich blickte auf sein Spiegelbild, auf sein schlagendes Herz und die Geschichte seines Lebens, die seine Haut und seine Knochen erzählten.
»Das Handgelenk war gebrochen.«
»Ich bin einmal schlimm gestürzt, als ich den Schwertkampf lernte.«
»Ich kann es sehen.«
Tristan nahm wieder meine Hand. »Du hast es geschafft.«
Er war jetzt sein wahres Selbst, und mir stockte der Atem. Er strahlte Macht aus, stärker als ich es jemals bei einer einzelnen Person gespürt hatte, ob Sturmsänger oder Sekundär. Sie strich über meine Haut, und ich wurde von ihr angezogen wie Eisen von einem Magnet.
Er legte seine Hand zwischen uns. »Warte.«
Ich ließ seine Hand los und bedeckte meine Augen.
»Du kannst hinsehen.« Er war wieder ein Mensch, mit menschlichen Makeln und Bedauern im Blick. »Es tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht.«
»Es ist in Ordnung.« Ich stand auf. »Ich sollte nach Hause gehen. Es ist vermutlich schon beinahe … verdammt.«
Meine Uhr schlug viertel vor zehn.
»Zu spät?«
»Ist schon gut. Ich gehe zurück ins Hospital und schlafe dort. Das habe ich schon getan.«
»Oder du könntest hier bleiben«, sagte er. »Es gibt ein zweites Schlafzimmer.«
»Ich könnte ein Feldbett aus einem der Aufwachräume nehmen.«
»Es ist weicher als ein Feldbett. Viele Decken, flauschige Kissen, ein warmes Frühstück am Morgen. Wir sind beinahe gleich groß. Du kannst eines meiner Hemden haben, und ein Gästebad gibt es auch.«
»Ich muss sehr früh raus.« Fünf Uhr dreißig am Morgen war keine Uhrzeit für einen Gentleman. Er stand vermutlich nicht vor neun auf.
»Ich werde es überleben.« Er führte mich die Stufen hinauf.
Der dicke Lammfellteppich in Tristans Gästezimmer war neu. Der Geruch nach Tapetenkleister hing noch in dem langgezogenen Zimmer. Auch hier passten die Möbel nicht zusammen, wie unten, der Stil einer Elster: die Schränke, die neben dem breiten Bett standen, passten nicht zusammen; die Polstersessel, die um einen winzigen Teetisch herumstanden, waren zwar wie Geschwister, aber keine Zwillinge. Durch eine offen stehende Tür sah ich ein Bad, in dem dicke Baumwollmatten auf den kalten Steinfließen lagen.
»Wird das passen?«
Tristan stand in der Tür und hielt ein ordentlich gefaltetes Hemd in den Händen. Ich blinzelte, als seine Züge sich kurz kräuselten. Ich konnte es jetzt sehen, ob ich ihn nun berührte oder nicht.
»Es gefällt mir.« Das tat es wirklich. Es war zwar nicht elegant, aber schien bequem zu sein. Dieses Zimmer lud einen dazu ein, sich in die daunengefüllten Decken zu vergraben und vor dem Schlafen noch ein paar Seiten lesen.
»Niemand hat es je benutzt«, sagte Tristan. »Du bist mein erster Gast.«
»Danke, dass ich bleiben darf.«
Er hielt mir das Hemd hin. »Du könntest hier bleiben, weißt du? Bis ich gehen muss.«
»Als Ihr Gast?«
»Ich kann dich nicht bitten, deine Arbeit aufzugeben, um Magie zu erlernen und den Mörder zu jagen. Du bist ein Heiler. Du würdest niemals zustimmen.«
»Da haben Sie Recht.«
Er trat näher. »Wir brauchen jede Minute, die du erübrigen kannst, Miles.«
Ich nahm ihm das zusammengelegte Hemd aus den Händen. »Es ist vernünftig.«
»Praktisch.«
Er wohnte näher am Hospital. Das Zimmer war gemütlich. An den Abenden würden wir einander Gesellschaft leisten, unter uns sein. Des Lernens wegen, und wegen der Nachforschungen.
Tristan trat noch näher an mich heran. »Sag, dass du bleibst.«
»Ich gehe früh zu Bett, tatsächlich sollte ich bereits im Bett sein.« Ich schnitt eine Grimasse. »Und schlafen.«
Er verkniff sich sein amüsiertes Lächeln nicht. »Sehr gut, Miles. Mrs. Sparrow wird dich wecken. Wir sehen uns dann morgen früh.«
»Um halb sieben muss ich im Hospital sein.«
»Ich hinterlasse Mrs. Sparrow eine Nachricht«, sagte Tristan. »Schlaf über mein Angebot. Und hab angenehme Träume.«
Die Matratze wiegte mich in den Schlaf, und die Decken waren warm und schwer. Das Schlagen der Haustür weckte mich, kurz bevor die Tür zu meinem Zimmer geöffnet wurde, und eine mollige Frau eintrat. Sie neigte den Kopf, als sie sah, dass ich bereits wach war.
»Guten Morgen. Mrs. Sparrow, nehme ich an.« Ich rieb mir über die Augen, doch ich konnte die Entzündung ihrer Knöchel immer noch gut sehen – mein Blick blieb, ob ich wollte oder nicht.
»Und Sie sind Mr. Hunters Gast. Trinken Sie Kaffee, Tee oder Schokolade?«
Schokolade? Die hatte ich nicht mehr gehabt, seit ich ein Junge gewesen war. Grace trank Schokolade, wenn man sie aufheitern wollte oder um eine ihrer akademischen Leistungen zu feiern. »Kaffee, bitte. Ich bin Miles Singer.«
»Ich stelle die Kaffeemaschine an, Dr. Singer.«
»Woher wussten Sie, dass ich Arzt bin?«
Sie deutete zu dem winzigen Schreibtisch hinüber. »Eine Arzttasche, nicht wahr? Mit den geprägten Melissenblättern?«
»Das stimmt. Wirklich sehr aufmerksam.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich möchte mich nicht in Ihre Angelegenheiten einmischen, Doktor. Ich bemerke einfach manche Dinge. Und nun mache ich das Frühstück.«
Sie schloss die Tür. Ich ging ins Badezimmer und wickelte einen neuen Rasierer aus dem Papier. Gelenkschmerzen. Sie litt an Gelenkschmerzen, und ich konnte es sehen, ob ich wollte oder nicht. Vielleicht würde es abklingen, so wie das Gefühl vergangen war, Nicks Macht in mir zu tragen. Das würde ein interessanter Tag werden.
Das Wasser aus den Hähnen war heiß, das Stück Rasierseife unberührt, und ich war innerhalb von ein paar Minuten unten, gekleidet in Tristans feines Baumwollhemd und die Krawatte vom Vortag. Mrs. Sparrow stand an der Spüle und wusch eine Kanne mit Schokolade aus.
»Guten Morgen, Mrs. Sparrow.«
Sie wischte sich die Hände ab. »Mr. Hunter schrieb mir auf, dass ich herausfinden soll, was sie gerne essen, da sie für ein paar Tage als Gast hier sein werden.« Sie brachte mir eine Tasse Kaffee und einen Teller mit gebutterten Toastscheiben. »Es macht keine Umstände. Ich erledige heute sowieso die Einkäufe.«
»Alles ist gut, ich bin nicht wählerisch.«
»Nichts da. Was ist ihr Lieblingsessen?«
»Orangen.«
»Es ist Saisonende«, sagte Mrs. Sparrow. »Aber ich bekomme das hin. Oh! Mr. Hunters Schokolade. Er bat mich, ihn zu wecken, damit er Ihnen Aufwiedersehen sagen kann.«
»Ich bin hier, Mrs. Sparrow.« Tristan zog sich einen der Stühle heran und setzte sich neben mich. »Guten Morgen, Miles. Hast du gut geschlafen?«
Sein Haar breitete sich über die Schultern des gesteppten Morgenmantels aus, da es noch nicht zu dem üblichen Zopf geflochten war. Selbst so, noch verschlafen und trotz der Verzerrung seiner Züge, die ich nun erkannte, ohne ihn anzufassen, rührte er an mein Herz. Er legte einen Ellbogen auf den Tisch und stützte seinen Kopf auf, bedeckte dabei den Mund, als er gähnte. »Entschuldige. Es ist früher, als ich es sonst gewöhnt bin.«
»Ich habe gut geschlafen, danke«, sagte ich. »Das Gästezimmer ist sehr bequem.«
»Und wirst du mein Gast sein? Am Wochenende werden wir für uns selbst sorgen müssen, sollte ich dich jedoch vorwarnen. Mrs. Sparrow hat frei.«
Das Wochenende, allein mit Tristan. Ich nahm einen Schluck Kaffee, um mir Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Ich sollte nicht. Aber ich wollte.
»Er mag Orangen, doch er besteht darauf, dass er nicht wählerisch ist«, sagte Mrs. Sparrow.
»Also bleibst du.«
Ich stellte meine Tasse ab. »Es ist nur praktisch.«
Tristan leerte seine Tasse Schokolade. »Hat deine Chefin das Untersuchungsformular unterschrieben?«
»Hat sie nicht.«
»Hat sie dir einen Grund genannt?«
Ich nahm einen Bissen Toast, kaute und schluckte. »Sie sagte, dass ich Hirngespinsten hinterherjage. Sie sagte, ich solle den Todesfall als verdächtig registrieren, mich aber nicht weiter von meinen Pflichten ablenken lassen.«
Tristan verengte die Augen und beugte sich vor. »Das könnte auch gar nichts bedeuten, aber …«
»Wie sollte sie etwas mit Nicks Tod zu tun haben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Tristan. »Aber es ist eine Möglichkeit, die wir nicht außer Acht lassen sollten.«
»Richtig. Ich muss etwas früher gehen. Die Quartalsabschlüsse kommen rein. Wenn wir Nicks in die Finger bekommen können, könnte uns das vielleicht helfen.«
»Quartalsabschlüsse?«
»Bankauszüge. Jede einzelne Transaktion, die Nick Elliot im letzten Vierteljahr tätigte. Jeder Scheck, den er schrieb, jede Einzahlung, jede Abhebung.« Ich leerte meine Tasse und erhob mich vom Tisch. »Hoffe auf einen vollen Briefkasten.«