11
Die Quartalsabschlüsse
F ast hätte ich vor Begeisterung ein Liedchen gepfiffen, als ich den Umschlag hervorzog, der für Nicks Brieffach beinahe zu groß war. Darauf war das Siegel der Unionsbank von Ost Kingston, und er war so dick wie mein Zeigefinger. Und darin war dreimal so viel Papier, wie man für meinen Bankauszug brauchte. Was für ein Glück! Nick musste zu den Menschen gehört haben, die Schecks ausstellten, statt bar zu bezahlen, sodass seine Kontobewegungen eine sehr ausführliche Geschichte erzählen würden. Ich konnte es kaum erwarten, das Tristan zu zeigen.
Ich steckte den Umschlag in meine Arzttasche. Er lag auf meinem Instrumentenetui, und ich bekam die Tasche nur zu, indem ich die Schließe in die letzten Löcher des Gurts hakte. Dann trat ich hinaus auf die Straße und summte dabei eine kleine Tanzmelodie.
Mein Schal wurde vom Wind erfasst und mir vors Gesicht geweht. Ich zog ihn gerade rechtzeitig herunter, um nicht mit dem braunem Wollköper und den Messingknöpfen zusammenzustoßen, die plötzlich vor meiner Nase waren.
Ich war gegen einen Polizisten gelaufen.
Fisher , stand auf dem Namensschild.
»Entschuldigung!« Ich wich ihm aus und schwankte kurz, die Tasche ein Bleigewicht an meiner Seite. »Ich sollte besser aufpassen, wo ich hinlaufe.«
»Ist ja nichts passiert.« Der Polizist streckte die Hand aus, um mich zu stützen. »Alles in Ordnung?«
»Ja, danke.« In Konstabler Fishers Schläfe pochten heraufziehende Kopfschmerzen. Ich ließ die Tasche in den Korb am Lenker meines Fahrrads fallen. Der Anblick verblasste nicht. Ich wusste nicht, wie ich es abschalten konnte.
Fisher deutete auf die schwarz bemalte Tür mit der Nummer ​1455. »Wohnen Sie hier?«
Ich gab mir Mühe, ruhig zu atmen und eine unschuldige Miene aufzusetzen. »Nein, tut mir leid.«
»Haben Sie jemanden besucht?«
»Nein …« Lüge, Miles. Lüge, was das Zeug hält. »Ich suche eine Wohnung. Wollte einen Blick hineinwerfen, um zu sehen, wie das Haus gepflegt ist. Das hätte ich nicht tun sollen.«
Er nickte. »Wie lange suchen Sie schon?«
»Ich fange gerade erst an.«
»Da liegt eine schwere Aufgabe vor Ihnen«, sagte Fisher. »Ich wünsche Ihnen Glück.«
Das Blut in meinen Adern taute wieder auf. »Danke.«
Ich schloss mein Fahrrad mit zitternden Fingern auf und wartete, bis ein Schwarm Fahrräder vorbei war, dann ließ ich mich vom Wind bis zum Ende des Häuserblocks schieben. Ich wartete am Ende des Schwarms, dass der kreuzende Verkehr vorbei war, dann folgte ich dem Geruch frisch gerösteten Kaffees. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ einen Schauder über meinen Rücken laufen, und ich brach aus dem Schwarm aus und bog nach rechts ab, nutzte einen ähnlichen Trick wie am Vortag.
Zwei Frauen folgten mir, aber sonst niemand. Ich atmete die Seeluft ein, und den ganzen Weg bis zum Hospital sah ich mich immer wieder um.
Auf der Schwesternstation herrschte ein Konzert aus Schniefen und Husten. Dr. Cosby reichte mir mit trübem Blick die Übergabeprotokolle der Nacht, die er gerade fertig hatte. »Sind Sie mit Ihren Entlassungen fertig, Dr. Singer?«
»Ich prüfe sie noch. Sie?«
»Gab nichts, über das ich mir groß den Kopf hätte zerbrechen müssen. Ab heute werden sie entlassen.« Er sah mich mit einem selbstgefälligen Blick an. »Möchten Sie meine Hilfe?«
Im Feldlazarett hätte ich ihm sagen können, wo er sich sein Hilfsangebot hinstecken sollte. Hier begnügte ich mich mit einem frostigen Lächeln. »Danke. Ich habe es im Griff.«
All die Nasen waren von gelbgrünem Schleim verstopft, der sich auch in den Rachen festsetzte. Niemand nahm es mir übel, dass ich mich in das winzige Büro zurückzog, das sich vier Ärzte während der Schicht teilten.
Die ganze untere Hälfte des Titelblatts vom Star wurde von einer Schlagzeile eingenommen. Minister Stanley sagt Nein zur Genesungsverordnung .
Meine Stimmung sank. Die Verordnung schloss auch zusätzliche Betriebsmittel für den Veteranendienst ein, wie das Arbeitskorps und dieses Hospital. Wir brauchten diese Verordnung, und mal ehrlich, konnten sie wirklich nichts für die Männer tun, die den Krieg geschlagen, die getötet und sich dem Grauen gestellt hatten, damit wir Laneer nun um sein Holz und Gold erleichtern konnten?
Wegen irgendeiner anderen wichtigen Nachricht war dieser Artikel auf die untere Hälfte der Seite gesetzt worden. Ich fürchtete mich vor dem, was ich gleich sehen würde, doch ich drehte die Zeitung um. Der Bericht über einen Mord nahm die obere Hälfte ein. Gefreiter Jack Bunting, Frau, Kind. Die Nachbarn gaben an, dass er in sich gekehrt gewesen wäre, nachdem er heimgekehrt war. Ich schob die Zeitung beiseite und versuchte, mir nicht die Frage zu stellen, von was Jack Bunting geträumt hatte, während ich meine Runde machte.
Bis morgen musste ich meine Patienten entlassen haben, und die Untersuchung von Nicks Fall hatte mich dabei auch nicht weitergebracht. Die Quartalsabschlüsse konnten mir auch nicht bei meiner Entscheidung helfen, wen ich gefahrlos nach Hause schicken konnte. Ich entließ Patienten, deren Geist nicht von der Wolke vernebelt war, aber wie viele waren das? Wie viele Frauen fürchteten sich vor der Rückkehr ihrer Männer? Wie viele Männer außerhalb dieser Mauern fürchteten, dass in ihnen etwas Gefährliches lauerte? Die Fragen bedrängten mich.
Und ich musste zwei weitere Männer entlassen. Vielleicht würde ein weiterer Blick auf meine Patienten mir helfen, mich zu entscheiden.
Gerald Grimes und Gerald Martin packten gerade ihre Habseligkeiten. Mir fielen die Blicke der Männer auf, die ihnen neidvoll zusahen. Cooper. Wilson. Beider Geist war nicht von der Wolke benebelt, was sie ausgeschlossen hätte. Meine Liste war also vollständig.
Ich wich den Reinigungskräften aus, die Betten abzogen und Laken in Wäschewagen stopften, und setzte mich dann zu Billy ans Bett. Er hatte wieder einen Albtraum gehabt, wie der Mörder sich in ihm erhob und jeden tötete, wie er ihn wie eine Puppe zu dem grauenhaften Wiedersehen mit seiner Familie zerrte. Die Wolke in Billys Kopf war gewachsen, und die Düsternis kroch über sein Rückgrat hinab.
Bill sah zu, wie die anderen aufstanden. James Austen ging mit einem Armvoll Kleider von dem schmalen Regalfach zu seinem Bett und begann in aller Sorgfalt, seine Tasche zu packen. Bill zupfte an der Flickendecke, die über seinen Beinen lag, und seufzte.
»Ich gehe nicht nach Hause, nicht wahr?«
»Mir wäre es lieber, du bleibst hier, Bill.« Ich saß neben ihm, nahm seinen Puls und beobachtete, wie die Wolke in der Farbe getrockneten Bluts an seinem Rückgrat hinabwanderte. »Ich habe dich gestern in der Eingangshalle gesehen. Ist etwas passiert?«
»Der Mesmerismus hat nicht gewirkt«, sagte er. »Ich dachte, ich würde mich besser fühlen, und dann sah ich die Lady, und Er wollte, dass …«
Er presste rasch die Lippen aufeinander. Ich fischte ein Stethoskop aus meiner Tasche und drückte das Bruststück an seine Rippen. »Tief einatmen.«
Ich brauchte seine Lungen nicht abzuhören. Er musste sich beruhigen, doch es wirkte etwas herablassend, wenn man einem Patienten, der in Panik war, sagte, er solle einfach ruhig durchatmen. Langsam wurde er ruhiger, als ich jetzt das Bruststück an verschiedenen Stellen seines Oberkörpers auflegte, seinem Atem lauschte und dann fragte: »Was ist mit Ihm passiert?«
Bills Herz schlug heftiger. »Er wurde richtig böse, Doc. Er wollte sie töten. Er hasste sie, und ich klammerte mich an den Stuhl, damit Er sie nicht … erwürgen konnte. Er wollte es aber. Und dann kam der andere, Doc, der mit dem Zylinder, und Er hatte Angst vor ihm, Todesangst.«
Ich legte das Stethoskop beiseite und nutzte den Moment, um kurz nachzudenken. Er hasste Grace und fürchtete sich vor Tristan. War das ein Zufall? »Was ist mit mir?«
»Was?«
»Hasst Er mich auch?«
Bill nickte. »Aber Er hat Angst vor Ihnen. Warum klappt der Mesmerismus nicht, Doc?« Er rang die Hände. »Ich schlafe, aber wenn ich aufwache, ist Er wieder da. Er ist immer da. Warum hat es beim alten Gerald geklappt und nicht bei mir?«
»Ich bin nicht sicher.« Das stimmte, fast. »Aber wenn du es mir erlaubst, möchte ich gerne ein paar Tests machen.«
»Sie wollen mir die Bilder zeigen, und ich soll Ihnen wieder die Geschichten dazu erzählen?«
Gute Idee. »Das, und ein paar weitere Tests. Ich möchte mir dein Blut ansehen, und vielleicht noch ein paar andere Sachen.«
»In Ordnung. Heute?«
»Könnte sein«, sagte ich. »Was hältst du davon, raus in den Garten zu gehen?«
Bill sah zur Seite. »Es ist kalt.«
»Brauchst du ein neues Buch?«
»Haben Sie Die Tugend der Beharrlichkeit? «
»Ich bringe es dir zu Mittag. Möchtest du eine Rasur vor der Parade morgen?«
»Sollte ich wohl«, sagte Bill, aber er starrte zur Decke, teilnahmslos. Ich ließ ihn in Ruhe.
Mein Mittagessen bestand aus Krabbensalat in einem Brötchen. Ich aß über meinen Schreibtisch gebeugt, während ich durch die Kontoauszüge von Nicks Bank blätterte, und so die Geschichte seiner Zugreisen durch Aeland verfolgte. Mir war nicht klar, warum er in diese kleinen, völlig uninteressanten Städte gereist war. Zu Anfang des Berichts stand eine Lastschrift für ein Zugticket nach Norton. Dort wurden Pfirsiche gezüchtet. Vielleicht hatte er an einem Fest teilgenommen?
Ich fand eine Reise nach Mary’s Wish, eine Stadt, von der ich noch nie gehört hatte. In der Mitte der Quartalsabschlüsse war eine weitere Reise in den Norden aufgeführt. Red Hawk lag am Rande der Schafgebiete, bekannt als Zentrum für Fleisch und Wolle, aber nicht fürs Gärtnern. Was hatte Nick Elliot dort gemacht?
Ein Schatten fiel über meine Tür, klein und von Zöpfen bekränzt.
»Komm rein.«
Robin huschte herein und schob sich an meinem Schreibtisch vorbei, um sich neben die Regale zu stellen. Sie sah mit gerunzelter Stirn auf die Auszüge herab, legte den Kopf schief und las dann ganz offensichtlich mit. »Das sind nicht deine.«
»Robin.« Robin war nicht krank, doch ihre Aura rauschte seltsam, statisch. Normalerweise schimmerte und flackerte sie, wie die grünen Lichter, die man manchmal in einer klaren Winternacht am Himmel sehen konnte.
Sie hob rasch den Kopf. »Richtig. Crosby hat deine Patientenakten genommen und ist zur Phlebotomie gestapft, um eine Erklärung für die Tests zu verlangen, die du angeordnet hast.«
»Er hat was? Warum?«
Robin senkte die Schultern und sah mich mit Verzweiflung im Blick an. »Miles, er spioniert dich aus. Wusstest du das nicht? Er will dich unbedingt wegen etwas drankriegen, damit du Ärger bekommst.«
»Woher weißt du das?«
»Er hasst auch mich, deshalb behalte ich ihn im Blick. Außerdem habe ich mehr als einen Freund im Hospital, anders als manche Ärzte, die ich da nennen könnte …«
Schuhe mit Ledersohlen trampelten die Stufen hinauf. Robin sah auf, als ein weiterer Schatten meine Tür verdunkelte, und ihre Augen wurden groß, als die Tür aufschwang, ohne dass höflich auf meine Erlaubnis gewartet worden wäre, von Anklopfen ganz zu schweigen. Dr. Crosby stand im Flur und blickte finster drein, als er Robin sah. Kopfschmerz flammte auf seiner Stirn. Magensäure kroch seine Speiseröhre hinauf. Sein Herz schlug hart und schnell. Fast hätte ich gefragt, ob es ihm gut gehe.
»Singer«, sagte er. »Darf ich Sie kurz sprechen.«
Sein Tonfall machte deutlich, dass es keine Frage war. Er starrte Robin streng an, und seine zusammengezogenen Augenbrauen schrieben praktisch Raus hier auf seine Stirn.
Robin trat um den Tisch herum und wartete.
Crosby starrte sie einen Augenblick lang an, dann begriff er, dass er einen Schritt zurückweichen musste, damit sie an ihm vorbeikam. Mit düsterem Blick verfolgte er ihren Abgang. Sagte er nur ein falsches Wort …
Er wandte mir wieder seinen graumelierten Kopf zu und starrte mich an, mit dunklen Augen und unzufrieden verzogenem Mund. »Glauben sie, dass Ihre Patienten Syphilis haben?«
Was zum Teufel sollte das? »Nein.«
Er stützte die Hand gegen den Türrahmen und lehnte sich nach vorn in mein Zimmer. »Warum ordnen Sie dann Tests auf Syphilis an?«
»Dr. Crosby, ich verhöre Sie nicht, wenn Sie die Gesundheit Ihrer Patienten checken, oder?«
Er hob sein Kinn noch ein Stückchen höher. »Ich glaube, Sie bekommen nicht einmal mit, was die anderen Ärzte in der Abteilung für Psychische Leiden tun, Dr. Singer. Doch ich tue es. Und ich weiß, dass Gerald Grimes vollständig von seinem Leiden genesen ist. Eine Heilung, die er Ihnen zuschreibt.«
Das musste ich sofort unterbinden. »Falls Sie eine bestimmte Frage über irgendetwas in Mr. Grimes Akte haben«, sagte ich, »zögern Sie bitte nicht, es bei mir anzusprechen.«
Er lächelte, und ein zufriedenes Leuchten stand in seinem Blick. »Die habe ich tatsächlich.«
Fantastisch.
»Sie schrieben, dass Sie Mr. Grimes am Morgen des Zweiten mesmerisierten. Ich hatte die Nachtschicht, und er war äußerst verzweifelt. Erwarten Sie, dass ich glaube, dass Sie Ihre Uhr vor ihm hin und her baumeln ließen, und er erholte sich?«
Das war alles, was ich zugeben würde. »Es ist möglich, dass Mr. Grimes dafür empfänglich war …«
»Versuchen Sie erst gar nicht, zu behaupten, dass Sie seine Wahnvorstellungen wegmesmerisiert haben, Doktor!«
»Ich behaupte gar nichts. Ich weiß nicht, was ich tat, oder ob ich überhaupt etwas tat.«
»Sie haben mir über die Schulter geschaut.«
»Was?«
»Sie lügen, Dr. Singer. Ich weiß es, und Sie wissen das auch.«
Es war egal. Mein Wort stand gegen seins. »Was genau deuten Sie da an, Dr. Crosby? Was sollte ich wohl getan haben? Wie hätte ich Mr. Grimes Wahnsinn heilen sollen?«
»Sie entlassen ihn«, sagte Dr. Crosby. »Sie behalten all Ihre Patienten mit Wahnvorstellungen, nur ihn nicht. Jetzt ordnen Sie teure Bluttests bei Patienten mit der gleichen Wahnvorstellung an, die Mr. Grimes hatte. Sie führen etwas im Schilde.«
»Dr. Crosby …«
»Nein.« Dr. Crosby hob die Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Dr. Matheson mag sich von Ihnen für dumm verkaufen lassen, aber ich nicht. Glauben Sie, ich habe nicht bemerkt, wie Sie die Patienten verzaubern? Dass die Schwestern sich praktisch überschlagen, um alles für Sie zu tun? Ich weiß Bescheid, Dr. Singer. Und ich werde es beweisen. Allen.«
Ich schluckte bittere Gallenflüssigkeit herunter. Die wundersame Heilung war doch nicht unbemerkt geblieben.
»Hören Sie sich selbst reden, Crosby? Ich denke, Sie sollten nach Hause gehen. Ruhen Sie sich ein wenig aus. Lesen Sie ein schönes Buch, vielleicht in einem warmen Bad.«
Das Blut stieg Crosby ins Gesicht. »Sagen Sie das noch einmal, draußen.«
Nun wurde ich selbst wütend, und es war mir egal. Ich hatte genug von dieser Schmeißfliege, die ständig um mich und meine Fälle herumschwirrte. »Mit Freuden.«
»Was geht hier vor sich?« Dr. Mathesons Stimme war wie kaltes Wasser auf meiner kämpferischen Stimmung.
Ich stand auf und fühlte mich sofort wie ein Junge, den man bei einer Missetat ertappt. Dr. Crosby trat von der Tür weg und zupfte an seiner Krawatte.
Dr. Matheson stand da, die Hände auf die Hüften gestützt, und starrte uns beide an. »Dr. Crosby, Dr. Singer, gibt es etwas, wobei ich Ihnen behilflich sein kann?«
»Nein, Dr. Matheson«, sagte Dr. Crosby. »Ich wollte gerade gehen.«
Er marschierte mit hoch erhobenem Kopf davon. Dr. Matheson kam ins Zimmer, die Brauen zusammengezogen.
»Miles?«
»Er kann mich nicht leiden«, sagte ich. »Tut mir leid. Ich wollte nicht respektlos sein. Dr. Crosby bemerkte, dass ich ein paar Tests bei einigen meiner Patienten angeordnet habe, und er wollte wissen, warum.«
»Und da kam er hier herauf, um Sie … was sollen Sie verbrochen haben?«
»Ich weiß es nicht.« Jemand hatte einen neuen Zettel an der Pinnwand im Flur befestigt, auf dem für einen Spieleclub geworben wurde, und ich musterte ihn. Hastig sah ich wieder zu Dr. Matheson.
»Warum haben Sie diese Tests angeordnet?«, fragte sie.
Mein Ohr juckte. Doch ich hob die Hand nicht. »Ehrlich? Vermutlich jage ich Hirngespinsten hinterher.«
»Miles.«
»Es gibt Krankheiten, durch die Menschen Anzeichen des Wahnsinns erkennen lassen, ähnlich der Syphilis«, sagte ich. »Was, wenn unsere Patienten deshalb diese Wahnvorstellung haben? Was, wenn es eine physische Ursache dafür gibt?«
Dr. Matheson kreuzte die Arme. »Miles …«
»Sie alle denken das Gleiche, Mathy. Haben Sie mal einen Fall gehabt, bei dem diese Wahnvorstellung von einem im Inneren verborgenen Mörder jemand anderen als einen Soldaten betraf? Der nicht in Übersee war, um zu kämpfen? Was, wenn es physische Ursachen hat?«
»Sie jagen wirklich Hirngespinsten hinterher.«
»Fünfzigtausend Männer kommen nach Hause.« Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar. »Wie viele haben Kriegsneurosen? Wie viele von ihnen haben diesen verborgenen Mörder in sich? Diesem Hirngespinst hätte ich schon vor einem Monat hinterherjagen sollen. Besser vor zweien.«
Sie musterte mich einen Augenblick und biss sich dabei auf die Lippe. »Haben Sie irgendetwas dazu aufgezeichnet?«
»Notizen«, sagte ich. »Möchten Sie einen Bericht?«
»Am besten gestern. Sie hätten zu mir kommen sollen, bevor Sie sich auf diese Jagd machten.«
»Ich bringen Ihnen einen Bericht«, versprach ich. »Und einen Vorschlag für die Testpersonen. Eine sollte Gerald Grimes sein.«
»Dem stimme ich zu«, sagte Dr. Matheson. »Beenden Sie Ihre Abrechnung, Miles, und versuchen Sie, die Unstimmigkeiten mit Dr. Crosby auszubügeln, ja?«
Ich sah sie reumütig an. »Wir sind beinahe handgreiflich geworden. Ich glaube nicht, dass er sich versöhnen möchte.«
»Ich werde vermitteln, falls Sie keine Möglichkeit finden, sich zu vertragen. Er hat über das Ende der Woche die Mittagsschicht, aber er versucht, in Ihren Dienst zu kommen.«
»Mein Dienstplan? Was ist mit Dr. Finch?«
»Sie ist schwanger. Lösen Sie diesen Konflikt mit Dr. Crosby.«
»Friedlich?«
»Ja.« Dr. Matheson ging zur Treppe, und ich wandte mich wieder meinem Sandwich und dem Quartalsabschluss von Nicks Konto zu. Ich hatte mich gerade wieder darauf konzentriert, als das Telefon klingelte.
Ich starrte das verdammte Ding an, dann seufzte ich und nahm ab. »Ahoi.«
»Miles«, sagte Grace. »Alles ist bereit. Der Morgen nach der Parade.«
»So bald?«
»Er hat nicht viel Zeit.«
»Du hast Recht.« Danach würde ich den größten Teil des Tages opfern müssen, um mir Ruhe zu gönnen. Nach einem langen Tag im Operationssaal schlief ich einmal rund um die Uhr und aß genug, dass ein Regiment hätte satt werden können. »Ich werde um sechs da sein.«
»Ich schicke eine Kutsche. Du wirst nicht in der Lage sein, zurückzufahren.«
»Du hast Recht.« Einer knapp zwanzig Kilometer langen Fahrradfahrt würde ich danach nicht gewachsen sein, und es war ja nicht so, dass Grace nicht wusste, wo ich wohnte.
»Ich danke dir so sehr dafür, Miles. Vater wird dir nicht danken können, aber ich tue es. Wenn es irgendetwas gibt, das du möchtest – soll ich noch einmal für das Beauregard spenden?«
»Du hast bereits fünftausend gegeben«, sagte ich.
»Dann etwas, das du möchtest. Alles.«
»Ich möchte nur frei sein, Grace. Das ist das Beste, was du mir geben kannst.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann: »Ich verstehe. Wir sehen uns am Sechstentag, Miles.«
Als ich am Ende des Tages meine Sachen zusammenräumte, packte ich die Weinflasche von dem Mittagessen mit Grace ein. Tristan und ich könnten ihn zum Abendessen trinken, und dann würden wir daran arbeiten, wie ich meinen Blick abstellen konnte. In Dr. Crosbys Nähe würde ich vorsichtig sein müssen. Er war bereits überzeugt, dass ich anders war, und wenn ich alles, was einen Patienten plagte, einfach so diagnostizieren konnte, würde das seinen Verdacht nicht zerstreuen.
An diesem Nachtmittag warteten keine gut gekleideten Fremden in der Eingangshalle des Hospitals. Ich schloss mein Fahrrad auf und rollte auf die Straße, wo ich mich fünf Frauen mit glockenförmigen Hüten anschloss. Sie schienen sich zu kennen, denn sie riefen einander zu und unterhielten sich und lachten. Ich tat mein bestes, nicht zuzuhören, als sie über Dots Aussichten mit einem Jungen namens Harry sprachen, und sie hatten ihren Spaß dabei, ihre Anführerin aufzuziehen. Eine Bewegung zu meiner Linken ließ mich meine Hand zum Gruß heben, und ich wollte gerade eine Bemerkung über den Regen der letzten Nacht machen, als ich merkte, dass der Fahrer zu schnell und zu plötzlich herankam.
»Achtung!«, schrie ich, aber da krachten wir schon zusammen. Ich kollidierte mit der Lady neben mir und stürzte dann heftig auf meine rechte Hand. Sie stieß ihre Kollegin mit einem schrillen Aufschrei um, und so krachten die Radler hinter uns in das ganze Durcheinander hinein.
Der Schmerz flammte grell und heiß durch mein Handgelenk, so heftig, dass sich mein Magen hob. Ich zog es dicht an meinen Körper und biss die Zähne gegen die neuen Wellen des Schmerzes zusammen, als ich es dabei bewegte.
Erschreckte Rufe erklangen hinter uns Unglücklichen. Die Menschen hielten vor uns und halfen anderen, sich aus dem Gedränge zu lösen. Die Lady, mit der ich zusammengestoßen war, hatte etwas am Knöchel abbekommen, doch sie lehnte meine Hilfe und meine Entschuldigungen entschieden ab.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte ein Mann. »Ich habe alles gesehen. Er fuhr voller Absicht in Sie hinein und stahl dann Ihre Tasche.«
Meine Tasche?
Rasch musterte ich die Menschenmenge, die sich aufrappelte und wieder in Ordnung brachte. Die Flasche lag zersplittert auf der Straße, und der Wein floss über die Fahrbahn und bildete ein rotes Oval. Die Leute räumten bereits die Scherben beiseite, damit es keine Reifenpannen gab. Der Metallkorb, der über meinem Vorderrad angebracht war, war leer, und meine Tasche lag auch nicht auf dem Pflaster.
»In welche Richtung ist er?«
Er zeigte die Straße hinab. »Ist abgebogen, glaube ich. Er ist längst weg. War Ihre Tasche wichtig?«
Mir sank das Herz. »Ich bin Arzt. Das war meine Arzttasche.«
Der Radler blickte finster drein, wobei sich sein gelockter Schnurrbart verärgert verzog. »Er hatte es auf Ihre Medikamente abgesehen, Doktor. Es ist eine Schande.« Er sah zu, wie ich versuchte, einarmig mein Fahrrad beiseite zu schieben. »Sind Sie verletzt?«
»Unglücklich gestürzt.« Ich gesellte mich zu den Leuten, die sich auf dem Bürgersteig sammelten. Meine Tasche war gestohlen worden. Meine Skalpelle, weg. Mein Stethoskop und meine über die Jahre angeschafften Instrumente, weg. Hatte man sie wegen der Medikamente gestohlen, die nur eine Handvoll Noten wert waren?
Hätte ich das geglaubt, wo doch Nick Elliots Kontoauszüge darin gewesen waren, wäre ich ein Dummkopf gewesen.
Ich schloss mein Fahrrad ab und hinkte die Straße hinauf. Es war nicht weit bis zu Tristans Haus. Auf dem Weg versuchte ich, mir die Namen der Städte in Erinnerung zu rufen, die Nick aufgesucht hatte. Norton, Mary’s Wish, Red Hawk. Im Rhythmus meiner Schritte wiederholte ich sie. Ich durfte sie nicht vergessen.