14
Tag der Parade
S
echzehn Betten würden nicht ausreichen.
Die Menschen winkten mit scharlachroten Taschentüchern und jubelten so laut, dass sie die Musik auf den Straßen übertönten, die einem in die Füße fuhr, sodass man sich im Takt mitbewegen, tanzen und stampfen wollte. Leute rannten auf die Straße, um einem Soldaten einen Apfel zu geben und manchmal einen Kuss, dann flitzten sie zurück und holten eine weitere Frucht aus den Körben, die die erhöhten Bürgersteige säumten. Sie jubelten, sie lachten und tanzten mit erhobenen Armen.
Ich stand reglos in meiner Uniform da und zählte die Männer, die nicht infiziert waren. In jedem Feld marschierten vierundsechzig Soldaten, die winkten, Mädchen küssten und Äpfel aßen. In diesem Feld waren es fünfzehn. Im nächsten zwölf. In diesem dort achtzehn. In den Köpfen der anderen wogte die Wolke von der Farbe getrockneten Bluts, und ich glaubte, dass sie angestrengter lächelten und ihre heiteren Mienen Masken glichen, weil sie wussten, dass man dies von ihnen erwartete.
Nur die Selbstdisziplin hielt mich aufrecht, auch wenn mein Magen rebellierte. Es war eine Katastrophe. Ich musste etwas tun, musste das Personal in die Sache einweihen – doch was konnten sie schon ausrichten? Warum sollten sie etwas unternehmen? Ich konnte keinen Beweis vorlegen, und mit meinen Behandlungserfolgen durfte sich niemand näher befassen.
Mit denen, die vorbeizogen, waren es nun neun. Die Aufgabe türmte sich immer höher vor mir auf. Ich musste die Ursache für diese Fälle finden. Ich musste ein Heilmittel finden. Ich würde meine Maske ablegen und es von den Dächern schreien müssen.
Ich wandte das Gesicht ab und meine Aufmerksamkeit der Menge zu – denen, die darauf gewartet hatten, dass ihre Familie und Angehörigen wiederkehrten. Nur Soldaten hatten diese grausige Wolke in ihrem Kopf. Die Zivilisten hatten Schnupfen, Magenverstimmungen, Leiden, die ich mit einer Berührung lindern könnte. Die Menge blickte missbilligend zu einer jungen Frau mit einem schreienden Säugling. Das Baby litt an einer Ohrenentzündung, sein Gesicht war von Tränen und Rotz verschmiert und es schrie wegen der schrecklichen Schmerzen.
Ich schob mich näher heran und sah der Mutter des Kindes in die Augen. Sie schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln. Ich strich dem Mädchen über die Locken, legte eine Hand über ihr Ohr, und sie beruhigte sich.
»Was haben Sie getan?«, fragte die Mutter.
»Sie ist übermüdet. Der Lärm«, rief ich. »Halten Sie ihre Ohren bedeckt, oder besser noch, bringen Sie sie nach Hause und lassen Sie sie schlafen.«
»Wir suchen ihren Onkel. Er ist in der Parade.« Sie nahm die Hand des Babys hoch und winkte damit den marschierenden Soldaten zu. Das Baby ertrug es mit einem großäugigen Blick.
»Ich hoffe, Sie sehen ihn bald. Ich gehe besser wieder hinein.«
»Sag Tschüss, Mary.« Sie schüttelte die Hand ihrer Tochter in meine Richtung.
Ein hübsches Mädchen umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange und einen Apfel.
»Sie sehen ein wenig blass aus, Hauptmann.« Sie grinste mich an, dann lief sie auf die Straße. Voller Dankbarkeit biss ich in den Apfel. Die Heilung hatte mich kaum angestrengt, aber die Frucht war saftig und süß, mit einem Hauch Säure. Der Apfel knackte, er war fest und perfekt, um mein Zittern zu unterdrücken.
Eine Gänsehaut strich mir über den Nacken und meine Haare stellten sich auf. Ich registrierte die Blicke. Viele waren in den Bäumen. Während die Menge den heimkehrenden Soldaten zujubelte, wandte sich ein blasses Gesicht zu mir um.
Dr. Crosby, er blitzte mich so wütend an, dass er damit meine Mütze hätte in Brand setzen können, und seine nach unten gezogenen Mundwinkel verrieten Abscheu. Er legte sich die behandschuhte Hand an den Hals. Dann drehte er sich zum Hospital um und ging, der Menge ausweichend, hinein.
Er hatte mich entdeckt. Was hatte er gesehen?
Ich hatte mich einer Frau mit einem schreienden Baby genähert. Ich hatte das Baby berührt, und das Geschrei war verstummt.
Doch was glaubte er, gesehen zu haben?
Zauberei. Einen Bann. Was immer Gläubige dachten, was Hexen taten. Mein Wort stand gegen seines. Aber wenn jemand ihm glaubte, wenn ich jemanden vor der Soldatenlawine warnte, die zu viele Betten in Beschlag nehmen würden …
Verdammt sei es, ich würde weiterhin still sein müssen.
Ich folgte Dr. Crosby in Richtung des Eingangs.
In der Halle wimmelte es nur so von entlassenen Patienten, die schwere Umhängetaschen trugen – die gleichen grauen Leinwandtaschen, in die jeder Soldat sein Leben gepackt hatte, bevor er nach Laneer segelte. Manche trugen ihre Uniformen, und auch wenn die Krücken und Stöcke nicht der Vorschrift entsprachen, so kümmerte es niemanden. Meine scharlachrot-goldene Tresse stach hervor, und mit respektvollem Nicken machte man mir in meiner Offiziersuniform den Weg zu den Stufen frei.
»Da bist du ja.« Robin eilte zu mir und stellte sich vor mich, die Hände in den Taschen ihres Rocks. »Ich habe dich vor der Parade verpasst. Die Schwestern machen eine Abschiedsfeier am Ersten des Frostmonats, und ich weiß doch, wie gerne du Kuchen magst.«
Hoffnungsvoll verzog ich das Gesicht. »Schokoladenkuchen?«
»Wenn du Glück hast«, sagte sie. »Ich muss los. Wir schneiden einen Mann auf und suchen das Schrapnell, das seine Innereien zerfetzt hat.«
»Ein schönes Gesprächsthema, nachdem du mich mit Kuchen gelockt hast.«
»Du kommst zu der Feier?«
Sie würde mich am gleichen Tag verlassen wie Tristan. »Die würde ich nicht verpassen wollen. Nicht, wenn es Kuchen gibt.«
Sie ging davon, und ihr Lachen wehte hinter ihr her, als sie zum Operationsflügel eilte.
»Dr. Singer!« Der junge Gerald kam zu mir, seine Krücke pochte auf dem Boden, und seine Tasche war auf seinen Rücken geschnürt. Sein Lächeln hätte ein Zimmer heller erleuchtet, als Aether es vermochte. »Der alte Gerald wollte nicht gehen, ohne sich zu verabschieden. Er ist auf der Station.«
»Ich habe kurz Zeit.« Die Menge teilte sich wieder für uns, als wir den Flur zu Station 12 hinabgingen. Der alte Gerald stand neben seinem abgezogenen Bett, und er schob die letzten Kleider in seine Tasche. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht drehte er sich um, und mein Herz schlug heftiger.
Die Infektion vernebelte seinen Geist, und ein Tentakel wanderte langsam seinen Nacken hinab.
»Wir sind auf dem Heimweg«, sagte der alte Gerald. »Danke, Doktor.«
Ich musste etwas unternehmen. »Ich würde deine Genesung gerne weiterverfolgen, Gerald. Komm zu mir, wenn du etwas brauchst, oder wenn du Probleme beim Schlafen hast.«
Er zuckte zusammen, lächelte jedoch breiter. »Ich habe ein Rezept für Ihr Medikament. Ich erwarte nicht, Probleme beim Schlafen zu haben.«
Würde er es nehmen? Würde Gerald dem Medikament mehr vertrauen als der Angst, dass Er
sich erneut regte?
Der alte Gerald rückte seine Tasche zurecht. »Vielleicht könnte ich für einen Mesmerismus zurückkommen.«
»Das lässt dich aber einschlafen«, widersprach der junge Gerald.
»Ich könnte einen Hausbesuch machen. Sagen wir in vier Tagen?«
»Ich bitte Marie, Tee zu machen, Doc.«
Außerhalb des Hospitals konnte ich ihn weiterbehandeln, ohne dass ein Verdacht auf mich fiel. »Dann erwarte mich.«
»Marie wird erfreut sein, Sie zu sehen. Wir machen uns besser mal auf, Doc. Danke für alles.«
Sie verließen hintereinander die Station.
Als die Patienten fort waren, unterzog ich Bill der Qual, ihm mit meiner großen Nadel Flüssigkeit aus dem Rückenmark zu ziehen. Ich hatte erwartet, dass sie trüb oder rostig wie die Farbe getrockneten Bluts wäre, aber sie war klar, obwohl ich die Einstichstelle innerhalb des wütend wirbelnden Infektionsherds gewählt hatte.
Eine Stunde im Labor brachte nichts zutage. Ich würde keine vollständigen Resultate für all meine Tests bekommen, aber ich ordnete sie dennoch an. Diesen formalen Schritt brauchte ich für meine Untersuchung, auch wenn ich wusste, dass nichts zu finden sein würde.
Nichts von der Wolke hatte sich mit der Nadel einfangen lassen, das hätte eigentlich der Fall sein sollen. Bakterien, Viren, Parasiten – irgendetwas hätte da sein müssen, denn dort war etwas. Ich musste es mit alltäglichen Mitteln finden. Nur, wie konnte ich einen Test entwickeln, um die Existenz von etwas zu beweisen, das ich nur mithilfe meiner Gabe wahrnahm?
Ich versuchte, die Angelegenheit mit alltäglichen Aufgaben zu verdrängen. Vorausschauende Mitarbeiter hatten neue Patientenakten zusammengestellt, und die leeren Rubriken waren bereit, von unzähligen Händen ausgefüllt zu werden. Ich hatte eigene Formulare, die ich hinzufügen musste, aber auch das Sortieren der Papiere half nicht gegen meinen Frust. Nichts im Blut. Nichts im Urin. Nichts in der Rückenmarksflüssigkeit.
Vielleicht musste ich eine Biopsie des Rückgrats vornehmen, doch dafür würde ich niemals die Erlaubnis erteilt bekommen. Wenn ich einen Infizierten, der gestorben war, untersuchen könnte, dann vielleicht. Jack Buntings Leiche befand sich jedoch in der Leichenhalle der Polizei, und damit außer Reichweite.
Die Bedeutung der Aufgabe lastete auf mir. Ärzte glauben, dass Wahnvorstellungen ein Produkt der Einbildung sind, ein Selbstverteidigungsmechanismus des Geistes gegen das Grauen und die Gewalt des Krieges. Das Unterdrücken der niederen, bestialischen Natur. Wer würde vor solchen Erinnerungen nicht fliehen?
Doch ich wusste es. Ich hatte es gesehen. Die Wahnvorstellungen, die in Begleitung der Wolke in den Köpfen Hunderter – nein, Tausender – Soldaten auftauchten, die in Laneer gewesen waren.
Ich schob die neuen Patientenakten beiseite. Dann legte ich Bills Kurve links neben meine Schreibunterlage und schloss meine Schublade auf, um mein Behandlungsbuch hervorzuholen.
Ich hatte geschrieben: Die Ansammlung hält sich weiter in Bill Pikes Schädel und breitet sich über sein Rückgrat aus, wobei sie dem Gehirn und den Nerven zu folgen scheint …
, da klingelte mein Telefon. Ich nahm den Hörer ab. »Ahoi.«
»Miles.«
Ich rang einen Seufzer nieder. »Grace.«
»Ich bin froh, dass ich dich in deinem Büro erreiche. Wie geht es dir? Hast du dir die Parade angesehen?«
»Ich bin direkt ins Hospital gegangen. Was kann ich für dich tun?«
»Ich habe eine Wohnung gefunden«, sagte sie. »Halston Park. Acht Zimmer.«
»Zu groß. Zu weit im Westen.«
»Miles. Du kannst nicht in Birdland leben. Außerdem hatte ich eine Idee. Du könntest die Nacht in meiner Suite im Edenhill verbringen, bevor dich die Kutsche am Morgen abholt.«
»Ich habe heute Abend eine Verabredung.«
Das Schweigen am anderen Ende verkühlte mir das Ohr. Ich setzte die Kappe auf meinen Füller und wartete.
»Mit deinem … Freund?«
»Ja.«
»Du solltest mit ihm nicht verkehren. Das ist gefährlich.«
»Inwieweit?«
»Ich weiß, dass du nicht sehen kannst, was ich sah.« Ihre Stimme vermittelte auch durch die Leitung Mitgefühl. Es passte nicht zu dem Kribbeln, das mir der Aether über die Haut sandte. »Er ist eine Hexe, Miles.«
Ich biss die Zähne zusammen und erinnerte mich an meine Überlegungen über die wahren Unterschiede zwischen Hexen und Magiern, die ich in der letzten Nacht angestellt hatte. Ich schauderte, weil Tristan in Gefahr war. Grace bräuchte ihn nur zu denunzieren, dann würden sie ihn abholen. Ich wusste nicht, ob sie einen halbgöttlichen Hüter der Toten festhalten konnten, aber das wollte ich auch gar nicht erst erfahren.
»Du wusstest es nicht. Es tut mir leid.«
»Ich wusste es.«
»Was? Wie konntest du? Sie sind gefährlich! Du kannst ihm nicht vertrauen …«
»Darum geht es hier nicht.«
»Das ist mir egal. Hör auf, dich mit ihm zu treffen. Wie kannst du dich mit einem solchen Hexenemporkömmling zusammentun, der jederzeit durchdrehen kann – hast du den Verstand verloren?«
»Du hast mir nicht zu sagen, was ich tun soll, ich werde nicht mit dir zu Abend essen, nicht im Edenhill bleiben, und die Unterhaltung über meine Bekanntschaft mit Mr. Hunter ist hiermit beendet.« Ich schob mein geheimes Behandlungsbuch in die Schublade und schloss sie ein wenig zu laut. »Ich muss los, Grace.«
Dann legte ich auf. Zählte bis zehn, tiefe Atemzüge, jeder einzelne. Von klein auf war sie gewohnt, mich herumzukommandieren. Von dem Moment an, als klar gewesen war, dass ich kein Sturmsänger war, hatte sie die Führung übernommen. Sie musste lernen, dass ich nicht ihr Untergebener war – sondern mein eigener Herr, mit einer eigenen Karriere und eigenen Problemen.
Wie meine Patienten. Ich konzentrierte mich wieder darauf, mir die rätselhaften Ergebnisse anzusehen. Etwas war da. Ich musste herausfinden, wie man es durch einen Test finden konnte. Und dann? Die Diagnose war noch kein Heilmittel. Was, wenn ich keine Möglichkeit fand, es zu heilen?
Doch das musste ich. Tausende Soldaten waren infiziert.
Ein Schatten fiel durch das Fenster in der Tür zu meinem Büro.
»Komm herein.«
Tristan trug einen scharlachroten Seidenschal, der zu meiner Uniformjacke passte. Er griff nach meinem Mantel. »Michael steht ein paar Straßen weit weg.«
Er hielt meine Mütze in der Hand, als ich meinen Dienstmantel überstreifte. »Er konnte nicht näher heran?«
»Der Verkehr ist das reinste Chaos. Die Menschen tanzen auf den Straßen.«
»Ich wünschte, ich könnte mich umziehen.« Dann presste ich die Lippen fest aufeinander. Halt die Klappe, Miles.
»Die meisten Menschen werden die Uniform sehen und nichts weiter. Komm schon. Wir dürfen uns nicht verspäten.«