17
Das Wohl der Allgemeinheit
D
er süße Geschmack einer Orange benetzte meine Zunge, und ich biss zu. Saft troff hervor und Zuckerkörnchen schmolzen in meinem Mund. Unter meiner Haut spürte ich Hirschleder, warm und glatt.
Ich öffnete die Augen.
Tristan saß auf der Kante der Chaiselongue und hielt ein weiteres, mit Zucker bestreutes Stück Orange zwischen den Fingern. Er schob es mir in den Mund, und ich biss erneut zu.
Geduldig fütterte er mich mit Orangenstückchen, bis der Geruch nach frischem Kaffee und warmen Haferflocken in den Salon wehte. Ich versuchte, mich aufzusetzen, aber er drückte mich zurück.
»Entspann dich. Du bist mir buchstäblich ohnmächtig in die Arme gesunken. Du wirst noch eine Weile nicht aufstehen können.«
»Ich sinke nicht ohnmächtig um.«
»Du hast das Bewusstsein verloren, warst restlos erschöpft. Ich bin erstaunt, dass du es allein bis hierher geschafft hast.«
»Das musste ich.«
»Ich nehme an, deine Familie lebt in Western Point?«
»Sie haben einen Blick auf die Ayers Bucht, neben dem Park.«
»Ich habe einmal versucht, den Point zu erforschen. Man eskortierte mich höflich aus der Nachbarschaft. Deine Familie ist also mächtig.«
»Ja. Wir sind alle Magier. Jeder einzelne ein Ritter der Königin.«
»Und man hat dich gebunden. An …«
»Meine Schwester.«
»Ah.« Mit einer Hand sammelte Tristan die Orangenschalen ein. »Sie wird nach dir suchen. Ich bin in einer Minute zurück.«
Er verließ das Zimmer, und ich ließ den Kopf gegen die Kissen sinken. Ich fühlte mich ein wenig besser. Ich war am Verhungern gewesen, und ich konnte nicht einen Berg Essen verschlingen und sofort wieder kampfbereit sein. Ich würde mich langsam wieder erholen müssen. Und das bedeutete, dass ich hier saß, bis Grace mich finden würde. Denn sie würde mich finden, bevor ich mich erholt hatte.
Die Luft wurde schwer vor Macht. Sie pulsierte, strich über meine Haut, drang in die Wände ein. Als Tristan wiederkam, hörte ich schon den Lärm der Straße nicht mehr.
»Was hast du gemacht?«
»Ich habe das Haus mit einem Schleier belegt. Sie kann dich nicht aufspüren.«
Ich war in Sicherheit. »Perfekt.«
»Das kommt darauf an.« Tristan kehrte mit einem Tablett und zwei Schalen zurück – eine ordentliche Portion Haferbrei für ihn, und eine kleinere Portion für mich. Er reichte mir die Schüssel. »Ich brauche dir zwar nicht zu sagen, dass du langsam essen sollst, aber: Iss langsam.«
»Das werde ich. Auf was kommt es an?«
»Wie klug ist deine Schwester?«
»Klug. Geduldig. Sie wird mich irgendwann finden.« Ich sah zu ihm auf. »Du kannst nicht … gibt es eine Möglichkeit, sie aufzulösen? Die Bindung?«
»Ich kann es nicht«, sagte Tristan. »Du könntest es, wenn du dich erholt hast. Du bist stärker als deine Schwester.«
Ich versuchte, den warmen Haferbrei zu schlucken und erstickte beinahe daran. »Woher weißt du das?«
»Du hast zwei Seelensterne. Sie müsste über ein gewaltiges Talent verfügen, um dir ebenbürtig zu sein.«
Ich stärker als sie. Die ganze Zeit, die ganzen Jahre. Ich war immer nach Grace gekommen, war weniger wichtig gewesen, weniger wertvoll … Und die ganze Zeit hatte ich über die Macht verfügt, mich ihr zu widersetzen. Ich wusste nicht, ob ich wütend war oder mich dumm fühlte.
Nein. Ich würde mein Selbstwertgefühl nicht auch auf diese raffinierte Art verstümmeln. Außerdem war es jetzt egal. Ich war stärker als Grace. Darauf hatte ich Tristans Wort. Ich verfügte über die Macht, die meine Mutter nicht gehabt hatte. Sie hatte dafür gesorgt, dass ich stark genug war, um das hier zu tun, also würde ich es tun.
»Wie befreie ich mich?«
»Wenn sie dich nicht gehen lässt? Sauge sie aus, bis sie die Bindung nicht mehr aufrechterhalten kann.«
Ich legte meinen Löffel nieder. »Was geschieht, wenn ich es versuche und doch nicht stark genug bin?«
»Du könntest sterben, so wie deine Mutter.« Tristan sagte das direkt heraus, ohne es zu verklausulieren oder auch nur zu flüstern. »Ich kann es nicht beeinflussen, aber mir wäre es lieber, du würdest nicht sterben.«
»Aber du glaubst, dass ich mächtiger bin als sie.«
»Mit den zwei Seelen, die an dich gebunden sind? Ja. Aber du wirst ihr wehtun, bevor sie aufgibt und loslässt.«
»Sie wird mich dafür hassen.«
»Möchtest du lieber ihr Leibeigener bleiben, damit sie dich weiterhin mag?«
»Ich hasse sie dafür.« Ich aß den Haferbrei. Er war köstlich, mit aromatischen Gewürzen und Stücken gebackener Äpfel darin. »Dann bleibe ich hier, bis ich bereit bin, mich ihr zu stellen.«
Tristan trank einen Schluck Kaffee. »Du kannst hier bleiben so lange du willst. Ich werde den Schleier erneuern. Wen hast du geheilt?«
»Ich habe ihn nicht geheilt«, sagte ich. »Ich habe ihm etwas Zeit verschafft, aber er wird sterben.«
»Wer?«
»Mein Vater.«
»Kanzler Hensley?«
»Er ist nicht nur das. Er ist die Stimme der Unsichtbaren«, sagte ich. »Er ist … Mein Vater ist eine Spinne in einem gigantischen Netz, und er stirbt. Meine Schwester sollte an seine Stelle treten, aber es gab einen Machtwechsel.«
Ich kratzte über den Boden der Schüssel, als ich mit der Erklärung fertig war, und der letzte Bissen war pappig und kalt. Tristan hatte zugehört und aufmerksam genickt.
»Deine Rückkehr würde die Chancen deiner Schwester, an seine Stelle zu treten, verbessern. Scheitert sie, würde sich das … Leben für die Sekundäre nicht verbessern. Aber deine Schwester möchte eine Reform. Sehe ich das richtig?«
»Ja«, sagte ich. »Sie möchte, dass ich als Beispiel dafür diene, was ein Sekundär erreichen kann, der geschätzt wird. Sie möchte, dass die Sekundäre wertvoller werden.«
Tristan neigte den Kopf. »Warum stellt ihr die Sturmsänger über alle anderen?«
Ich blinzelte. »Die Unsichtbaren kontrollieren Aelands Wetter.«
Tristan starrte mich an. »Sie kontrollieren das Wetter des Landes? Wie das?«
»Sie vernetzen sich miteinander«, sagte ich. »Hunderte von ihnen arbeiten zusammen. Das normale Klima über diesem Gebiet besteht aus schrecklichen Stürmen, die ohne sie alles verwüsten würden. Es hängt mit den Strömungen zusammen, und der kalten Luft, die aus dem Norden herabkommt … Die Sturmsänger kamen nach Aeland und kehrten die schlimmsten Verheerungen wieder um, dann zähmten sie das Wetter und beruhigten die jahreszeitlichen Veränderungen, um eine ideale Anbauperiode zu schaffen. Aeland versorgt Millionen mit seinen Erzeugnissen.«
Tristan sah verblüfft aus. »Sie vernetzen sich. Mehr als zwei arbeiten zusammen.«
»Die Amaranthine vernetzen sich nicht?«
»Nicht in einer solchen Größenordnung. Wir vernetzen uns mit bis zu dreien, aber alles darüber hinaus ist schwer zu kontrollieren. Und Hunderte?«
»Sie versammeln sich hier, um die Jahreszeiten einzusingen, und bleiben den Winter über in Kingston, um die Stürme zurückzuhalten, bis sie den Frühling einsingen. Die Zirkel auf dem Land befolgen dies ebenfalls.«
Etwas machte Klick in Tristans Kopf. Ich sah ihm an, wie er darüber nachdachte. »Brillant. Fiele diese Organisation aber auseinander …«
»Leidet ganz Aeland darunter. Kingston wäre innerhalb eines Jahres zerstört. Das Landesinnere würde überschwemmt oder unter einer Dürre leiden, wieder und wieder. Die Ernten würden ausfallen. Die Menschen verhungern.« Ich sah weg. »Ich weiß, dass es eigensüchtig war, einfach fortzulaufen.«
Tristan nahm meine Hand. »Sie machen euch zu Sklaven um ihres Wohlstands willen.«
»Für das Wohl des Landes. Wir brauchen die Sturmsänger. Die Tatsache, dass sie ihre Macht einsetzen, um das Leben für alle zu verbessern … Würdest du nicht auch das Beste für deine Familie wollen? Für deine Gemeinschaft?«
Tristan tat das mit einer Geste ab. »Es ist nicht richtig. Es ist eine Sache, anderen zu dienen. Aber es ist eine ganz andere, dazu gezwungen zu werden, egal wie edel die Sache auch sein mag. Wärst du gegangen, wenn sie dich nicht gebunden hätten?«
»Nein«, sagte ich. »Mir machte es nichts aus, nicht so wichtig zu sein. Ich kann die Winde nicht bezwingen. Ich wollte Kranke heilen. Ich wollte Leben retten, und keine Batterie und kein Brüter sein.«
Tristans Augenbrauen hoben sich und ich sah weg.
»Sekundäre werden … mit jemandem zusammengebracht.«
»Ich bin froh, dass du weggelaufen bist«, sagte Tristan. »Ich hoffe, du hast andere dazu inspiriert, das gleiche zu tun.«
»Ich glaube, das habe ich wohl«, sagte ich. »Mein Verschwinden allein hätte kaum ausgereicht, um meine Familie so zu demütigen.«
»Bleib hier, bis du bereit bist, dich deiner Schwester zu stellen«, sagte Tristan. »Hoffentlich hast du genug Zeit, um deine Kraft wiederzuerlangen.«
»Ich fühle mich bereits besser.«
»Gut. Ich muss mich anziehen. Ich erwarte einen Besucher.«
»Wen?« Ich stellte meine Schale auf Tristans Tablett und setzte mich auf.
»Alice. Zumindest glaube ich, dass sie heute kommt.«
»Vermutlich sollte ich mich verborgen halten, wenn sie kommt. Ich bin nicht anständig gekleidet.«
»Darüber wollte ich nichts sagen.«
Meine Wangen wurden warm, aber ich lachte. »Ich wollte wie ein Diener aussehen, der gerade keine Livree hat.«
Seine Lippen zuckten. »Herzlichen Glückwunsch zu diesem Erfolg.«
»Man könnte wohl sagen, dass ich verkleidet war.«
»Du hast Kleider hiergelassen«, sagte Tristan. »Mrs. Sparrow hat den Wein aus dem Hemd gewaschen, das du dir am Tag des Unfalls geliehen hattest, und sie hat den Riss in deiner Hose geflickt.«
Ich belastete vorsichtig meinen Knöchel. Gar nicht übel. »Mrs. Sparrow, gesegnet sei sie. Und meine Jacke?«
»Ist noch nicht fertig. Du wirst dich mit Hemdsärmeln zufriedengeben müssen.«
»Besser als das hier.« Ich folgte Tristan nach oben.
Das Frühstück reichte nicht aus. Mir war immer noch so schwindlig, dass Tristan sich um mich sorgte, und so führte er mich zu der Liege, wo ich unter seinem wachsamen Blick vor mich hindöste. Ich träumte lebhaft von einem Haus, dessen Zimmer sich veränderten, wenn man eine Tür schloss und dann erneut öffnete, und ich suchte darin nach einem großen schwarzen Pferd, das ich in der Bibliothek zurückgelassen hatte. Ich erwachte voller Angst, denn Träume von schwarzen Pferden stellten ein Todesomen dar.
Es klopfte an der Tür. Tristan legte sein Buch weg, und ich musste mich bewegen und die letzten Reste des Schlafs aus meinem Geist scheuchen.
»Ich gehe.« Ich schob das gestohlene Fahrrad weiter den Flur entlang, bevor ich Miss Farmer die Tür öffnete.
Die Gestalt, die auf der Stufe stand, war größer, eleganter und ein weitaus weniger willkommener Anblick. Das schwarze Auto parkte am Straßenrand, und Grace selbst seufzte erleichtert auf.
»Ich bin nicht hier, um dich zurückzuholen«, sagte sie. »Ich möchte mit dir reden.«
Ich wollte die Tür wieder schließen, aber Grace drückte dagegen. »Miles, bitte.«
Ich riss die Tür wieder auf. »Wirst du mich freilassen?«
Grace kreuzte die Arme. »Sollen wir uns auf der Straße streiten?«
»Geh wieder, Grace.«
Sie senkte die Stimme. »Miles, das kann für uns beide von Vorteil sein.«
»Wie?«
»Wirst du mich reinlassen?«
»Das ist nicht mein Haus.«
»Es ist in Ordnung, Miles.« Tristan stand hinter mir, seine Hand warm auf meinem Rücken. »Sie will kein Spektakel, aber sie wird eines aufführen, wenn du ihr keine Wahl lässt.«
Ich seufzte und öffnete die Tür ganz.
»Gut«, sagte Tristan. »Ich mache Tee.«
Er ging, und Grace trat ein und legte den Mantel ab. Sie starrte die mit Spiegel bedeckten Wände an und die Tapete. Dann stieß sie heftig die Luft aus. »Du solltest nicht hier sein, Miles. Er ist ein Hexer.«
»So wie wir.« Ich öffnete die Tür zum Salon.
»Wir sind ein wenig mehr als gewöhnliche …«
Grace blinzelte, als sie das bunte Durcheinander sah, die Fülle an Pflanzen und die Spiegel an den Wänden. Sie musterte den Sitz des Lehnsessels, bevor sie sich setzte, und riss dann die Augen auf, als sie die kniehohe Wasserpfeife neben dem Sessel erblickte.
»Miles, das kann nicht dein Ernst sein.«
»Ich finde es gemütlich.«
»Es ist vulgär.«
»Vermutlich, weil es gemütlich ist.«
»Wir sollten woanders hingehen zum Reden. Wo wir ungestört sind.«
Ich legte meine Füße auf den Tisch. »Ich gehe nicht. Wie hast du mich gefunden?«
»Wir sind jetzt miteinander verbunden.«
»Ich war abgeschirmt.«
»Ich folgte dir bereits, als du verschwunden bist. Ich wusste ungefähr, wo du warst, also hielt ich nach einem Schleier Ausschau.«
Tristan kehrte mit einem Teetablett zurück. »Schade. Ich hatte gehofft, Sie sind nicht so klug.«
Er setzte sich neben mich und goss ein, dann rührte er einen Zuckerwürfel in den Tee, bevor er mir eine Tasse gab. Er legte die Hand auf meinen Oberschenkel, während er an seiner Tasse nippte. Graces Nasenflügel bebten, als sie sah, wie Tristan sich an mich schmiegte, als wären wir ein Paar.
Ich ließ ihn gewähren.
Tristan unterbrach die Stille. »Was Sie getan haben, ist grausam.«
»Das geht Sie nichts an.«
»Warum reden wir nicht über das Wetter?« Tristan nippte erneut an seiner Tasse. »Wie wollen Sie den Winter bewältigen? Lassen Sie einen Schneesturm durch, oder schieben Sie die einfach von der Grenze weg?«
Grace wandte sich mit einem schockierten Blick an mich. »Miles! Was hast du getan?«
»Er hat gar nichts getan. Wissen Sie, was Sie getan haben?«, fragte Tristan.
Grace beachtete ihn nicht. »Miles. Ich verstehe ja, dass du einsam warst und er dir bot, was du wolltest, aber ein Gewöhnlicher darf unsere Geheimnisse nicht erfahren.«
Tristan wurde neben mir ganz still. »Was wollen Sie also tun? Mich der Hexerei bezichtigen, mich einem dieser Schauprozesse unterziehen? Mich in ein Sanatorium sperren lassen wegen Geisteskrankheit?«
»Sie werden
verrückt«, sagte Grace. »Das werden sie alle.«
»Aber Sie und Ihresgleichen nicht.« Tristan neigte den Kopf ein wenig. »Finden Sie das nicht seltsam?«
»Sie sind nicht darauf vorbereitet, mit der Macht umzugehen.«
»Grace«, unterbrach ich sie. »Es gibt allem Anschein nach keinen Unterschied zwischen Hexen und Magiern.«
Tristan schnaubte. »Der einzige Unterschied zwischen ihnen und euch ist, dass sie arm geboren wurden, und Sie nicht. Sie wollen sie nur nicht da haben.«
Grace kniff die Augen zusammen. »Sie? Nicht wir? Denken Sie, dass Sie sich irgendwie von den anderen Hexen unterscheiden?«
»Ich bin keine Hexe.« Tristan stand auf, er war größer, imposanter, und er zerriss den Schleier, der seine wahre Erscheinung verhüllte. Grace keuchte auf und machte ein Schutzzeichen, das Tristan mit einer verärgerten Geste beiseite wischte. »Miles ist mein Freund. Wenn er das Wort ausspricht, so werde ich meinen Unmut über Sie entfesseln, Dame Grace Hensley. Sie dürfen sich meiner Rache sicher sein, wenn Sie ihn verletzen.«
Grace kniff die Augen fest zusammen. »Halten Sie sich von meinem Bruder fern. Lassen Sie ihn gehen.«
»Ich halte ihn nicht fest. Sie halten ihn.«
Grace war auf die Knie gesunken und kämpfte gegen Tristans Macht an. »Lassen Sie ihn gehen. Bitte. Er bedeutet Ihnen nichts. Er ist mein Bruder, mein einziger Bruder. Bitte, lassen Sie ihn gehen.«
Meine Schwester bettelte um mich, weil sie glaubte, ich würde unter Tristans Bann stehen. Weil sie mich liebte, oder weil sie mich brauchte?
»Tristan, nicht.« Ich berührte seinen Arm, und er hörte auf. »Grace. Ich weiß, dass du nicht wolltest, dass es sich so zuträgt. Also lass mich frei.«
»Ich kann nicht.« Grace rappelte sich vom Boden auf. »Miles. Du solltest mich hassen. Das solltest du. Ich kann dich nicht gehen lassen. Es hängt zu viel von dir ab. Zehn Sekundäre sind geflohen, nachdem du gegangen bist.«
Das hatte ich mir bereits gedacht. »Sind sie davongekommen?«
»Nur zwei hat man nicht mehr gefunden. Die anderen stehen unter strengster Bewachung. Einer hat sich umgebracht. Wir können die Dinge zum Besseren wenden, aber wenn ich nicht Vaters Nachfolger werde, wird Sir Percy übernehmen.«
Tristan schniefte. »Und warum sollte Miles das interessieren?«
»Sie können das nicht verstehen, Amaranthine. Aber Miles versteht es.«
Es war abscheulich. Es machte mir Sorgen. Ich konnte nicht anders. Sir Percy an der Macht wäre schrecklich für die Sekundäre. Er wäre der Kanzler und würde über noch mehr Macht verfügen, als er bereits als Verteidigungsminister besaß. Wenn er seinen Kabinettsposten behielt, wie Vater das getan hatte …
Ich musste ihn für seine Rolle in dem Krieg zur Verantwortung ziehen, und wenn sich herausstellte, dass er auch für den Zustand der Soldaten verantwortlich war – ich wünschte, mein Gewissen würde mir erlauben, Tristan auf ihn loszulassen, um zu sehen, welch ungeahnte und schreckliche Vergeltung er auf Sir Percy herabbeschwören würde. Doch das konnte ich nicht. Die Rache eines Amaranthine könnte Konsequenzen nach sich ziehen, die unabsehbar waren.
Grace sah mich an. »Miles. Ich schwöre es. Du weißt, dass ich dich niemals schlecht behandeln würde. Ich brauche dich, um ihnen
zu helfen. Und wenn ich die Stimme
bin, wirst du genau das tun können, was du willst.«
»Aber du lässt mich dennoch nicht frei.«
»Es geht nur um die Tage, an denen wir die Jahreszeiten und die Halbjahre einsingen. Acht Nächte im Jahr, Miles. Das ist alles.«
»Das ist keine Freiheit«, sagte Tristan.
»Das ist es nicht«, erwiderte Grace. »Aber es ist das, was ich anbieten kann.«
»Es tut mir leid, Grace. Das kann ich nicht annehmen.«
»Es tut mir auch leid, Miles. Aber du hast keine Wahl.«
»Die habe ich.«
Das Band zwischen meiner Schwester und mir war fast wie eine gespannte Saite, und ich sah die Verbindung in einem von Tristans Spiegeln. Durch diese konnte sie mir meine Macht nehmen und sie selbst benutzen, als wäre es ihre eigene, als wäre …
Als wäre meine Seele an sie gebunden, so wie Mutter und Nick die ihre an mich gebunden hatten. Doch es gab einen Unterschied: Seelen waren bloße Macht. Aber ich besaß einen eigenen Willen.
Ich packte ihr Handgelenk.
Sie zuckte zurück. »Miles, was machst du – Miles!«
Ihre Aura war golden und stark. Ich musste stärker sein. Ich versuchte, an dem Band zwischen uns zu ziehen, aber es war so stark wie die Kabel, die die Brücke über dem Ayers hielten.
Sie versuchte, ihre Hand zurückzuziehen. »Miles, halt.«
»Wirst du mich gehen lassen?«
»Das kann ich nicht!«
»Du willst nicht.« Ich zog und stellte das Band erneut auf die Probe. Ich konnte es. Ich würde frei sein.
»Bitte.«
»Er hat uns beide gezwungen, Grace.«
»Es ist der einzige Weg!«
»Finde einen anderen.«
Ihre Aura verblasste an den Rändern. Sie zog sich enger um ihre Haut zusammen, wurde durchscheinender. Das Band war auf eine Art elastisch, doch mehr wie Stahl elastisch war. Ich würde an ihm ziehen müssen, bis es nur noch ein Faden war, und mir war bereits schwindlig.
Grace schnellte zurück, und wir stürzten übereinander zu Boden. Sie boxte mir mit der Faust ins Auge, aber ich ließ sie nicht los – ihren Arm nicht und auch nicht ihre Macht.
»Du tust mir weh.«
»Du kannst dafür sorgen, dass ich aufhöre. Lass mich gehen.«
Sie holte aus und schlug mich erneut, ein heftiger Hieb in die Weichteile.
»Miles!« Tristan beugte sich zu mir, als ich die Knie anzog und aufkeuchte.
Das Band war jetzt nur noch ein Hanfseil. Ich gewann. Blut tropfte aus Graces Nase. Ich hatte sie nicht geschlagen, aber das Blut rann hellrot an ihrem Kinn herab und tropfte auf die austernfarbene Seidenbluse und die grauviolette Krawatte.
»Miles.« Tristan packte mich an der Schulter. »Sie stirbt.«
Grace hustete, und etwas Rotes kam ihr aus dem Mund. Sie blutete innerlich, ihr Herz und ihre Lungen wurden schwächer. Einen Augenblick lang sah ich Mutter, und ich erinnerte mich daran, wie sie versucht hatte, sich aus Vaters Griff um ihr Handgelenk zu befreien, während sie Blut gehustet und geröchelt hatte: »Lass los.«
Vater hatte sie festgehalten und gesagt: »Ich kann nicht.«
So
war Mutter gestorben – sie hatte ihre Macht gegen Vaters gesetzt, hatte versucht, das Band zwischen ihnen zu zertrennen, und Vater hatte sie lieber sterben lassen, als sie freizugeben. Ich war stärker als meine Schwester. Das musste sie erkennen.
»Lass los«, sagte ich. »Bitte, Grace.«
»Ich kann nicht.«
Grace versuchte, mir die Macht zu entziehen. Ihre Anstrengungen waren schwach wie die eines Kindes. Darauf erschlaffte sie, und Blut sprudelte ihr von den Lippen, aber sie ließ nicht los.
Ich würde frei sein, aber sie wäre tot.
Ich ließ die Macht los und riss an ihrer verdammten Krawatte, und meine Finger tasteten nach dem Puls an ihrem Hals.
»Grace. Es tut mir leid. Komm zurück.«
Sie hustete erneut, aber das Blut hörte auf aus ihrer Nase zu tropfen. Ich kämpfte darum, das Leben in sie zurückzubringen, ungeschehen zu machen, was ich ihr angetan hatte. Tristan legte seine Hände auf meine Schultern und sandte mir einen stetigen Strom von Macht zu, der gefärbt war von Trauer und Schuld, die sich mit meinen Gefühlen mischten.
»Grace!«
Ich würde sie nicht sterben lassen. Ihr Atem beruhigte sich, als ich die winzigen Risse in ihren Lungen heilte, ihr überanstrengtes Herz beruhigte und ihre Leber und Nieren massierte, damit sie ihre Funktionen wieder aufnahmen. Der Raum schwankte heftig um mich herum, aber ich wagte nicht, nachzulassen.
»Es tut mir leid, Grace. Ich wusste es nicht. Ich hätte niemals …«
Sie hob eine Hand zu meinem Gesicht. Mutter hatte das getan, bevor sie mir ihre Macht gab. »Miles.«
An dieses Bild hielt ich mich und sah Tristan an. »Ich kann nicht.«
»Du kannst es nicht«, sagte er. »Sie würde lieber sterben, als dich freizulassen.«
»Er hat Recht.« Graces Stimme war rau. »Ich bin ein Feigling.«
»Hör auf. Alles wird gut, Grace. Wir finden einen Weg.«
»Jetzt hasst du mich.«
»Niemals«, sagte ich. »Ich könnte dich niemals hassen.«
Ihr Lächeln ließ blutbefleckte Zähne sehen. »Vielleicht nicht heute. Aber das wirst du. Ich kann dich nicht gehen lassen, Miles. Ich muss die Unsichtbaren anführen. Das muss ich einfach.«
»Shhh. Tristan, hilf mir.«
Er kniete sich hin, hob meine Schwester auf und trug sie hinauf in das Zimmer, in dem ich schlief. Er brachte mir eine Schüssel mit warmem Wasser und einen Schwamm, dann weichte er ihre Bluse in einem Waschbecken mit kaltem Wasser ein, während ich das Blut von ihrer Haut wusch. Er nahm den Schwamm und die Schüssel und führte mich wieder nach unten, damit ich mich auf der Chaiselongue ausruhen konnte.
»Du siehst aus, als sollte ich dich neben sie legen«, sagte Tristan.
»Mir geht es gut.«
»Das stimmt nicht.« Seine Hand lag warm auf meiner Schulter. »Aber ich lasse es jetzt gut sein. Sie wird hungrig sein, wenn sie aufwacht.«
Mein eigener Magen knurrte. »Gibt es noch Würstchen?«
»Wenn Mrs. Sparrow kommt, wird die Vorratskammer leergefegt sein.«
Ich schauderte. Ich hatte beinahe meine Schwester getötet. »Was mache ich jetzt?«
Tristan nahm meine Hand und drückte sie. »Du findest einen Weg, damit zu leben.«