19
Das Massaker
A uf der Chaiselongue schlief es sich gar nicht schlecht, und nach einem späten Frühstück ging es Grace gut genug, um in ihrem Automobil gen Westen zu fahren, während Tristan und ich nach Osten wanderten, ungeduldig unsere Spur zu verfolgen. Vor Swansons Lebensmittelladen war eine strahlend gelbe Markise aufgespannt, die den Ständen mit den Früchten und Gemüse Schatten spendete, die man auf dem halben Gehweg präsentierte. Daneben gab es Äpfel, bei denen man sich umsonst bedienen durfte. Tristan nahm einen und biss hinein.
»Ich habe noch nie Lebensmittel eingekauft«, sagte er. »Mrs. ​Sparrow erledigt das.«
Auch ich war nur ein paar Mal einkaufen gewesen, doch ich kannte mich gut genug aus. Die Angestellten trugen gelbe Schürzen über der Kleidung, und ich sah einen Jungen, der Dosen mit Konfitüre stapelte.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
»Ich suche nach einem Lieferjungen namens Cedric. Ist er hier?«
»Wenn ja, dann ist er hinten.« Er unterbrach seine Arbeit kurz, und zeigte auf eine Tür neben den Säcken mit Haferflocken und getrocknetem Gemüse.
Im hinteren Teil des Ladens lagerten weitere Lebensmittel auf übereinander gestapelten Holzpaletten. Ein Mann mit fuchsrotem Haar stellte eine Holzkiste voll Gemüse auf ein Regal, das aus horizontalen Zylindern bestand, und dann schickte er die Kiste mit einem Schubs auf den Weg bis ans Ende der Reihe, wo Jungen die Bestellzettel lasen und die Kisten auf dreirädrige Lastenräder packten, um sie dann auszuliefern.
Der Mann warf mir und Tristan einen Blick zu. »Kann ich Ihnen helfen, Gentlemen?«
»Ich suche Cedric.«
Er stemmte die Fäuste in die Hüften und sah mich aus schmalen Augen an. »Was hat er angestellt?«
»Nichts schlimmes«, sagte ich. »Ich möchte ihn nur etwas fragen wegen einer Lieferung, die er letzte Woche gefahren hat.«
»Stimmt damit etwas nicht? Das können Sie ihm nicht anlasten, er liefert die Sachen nur aus.« Der Mann blickte finster drein.
»Es gab keinen Ärger«, sagte ich beschwichtigend. »Ich möchte nur gerne mit Cedric reden.«
»Er ist ein wertvolles Mitglied für Ihre Dienste.« Tristan reichte ihm eine Banknote. Der Mann blinzelte. Es war ein großzügiges, ungeheuerliches Trinkgeld, aber es verschwand dennoch in der Tasche des Mannes.
»Cedric!«, bellte er dann, und ein Junge zuckte zusammen, als erwartete er Schläge. »Diese Männer wollen mit dir reden.«
Der Junge kam herübergetrottet, er hatte die Augenbrauen sorgenvoll zusammengezogen. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Überhaupt nicht. Wir wollten dir eine Frage zu deiner Lieferroute stellen. Teilst du dir dein Gebiet mit irgendjemandem?«
»Mit Janey Cooper. Sie fährt meine Route, wenn ich nicht arbeite.«
»Aber du hast am Nachmittag des letzten Erstentags gearbeitet?«
Er nickte. »Arbeitsreicher Tag. Ich hatte drei Bestellungen gleichzeitig geladen.«
»Erinnerst du dich daran, etwas an Nick Elliot in der 301 in der 1455 Wellston Street West geliefert zu haben?«
Er nickte. »Sicher. Das war leicht, da der Mann unten auf mich wartete.«
»Nick wartete unten auf dich?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Es war sein Freund. Sagte, er würde es für mich raufbringen, da er Mr. Elliot besuchen wollte. Er gab mir drei Groschen Trinkgeld.«
Mit drei Groschen bekam man so viel Süßigkeiten, dass man eine Woche lang der Beste unter den eigenen Freunden war. »Erinnerst du dich daran, wie der Mann aussah?«
»Reich. Nicht ganz so wie er …« Er zeigte auf Tristans Kaschmirmantel und die Ziegenlederhandschuhe. »Aber fast. Er hatte einen Schnurrbart wie beim Militär, aber er trug noch so einen Mantel wie Sie.«
»War er groß?«
»Nicht wie Sie«, sagte Cedric. »Was ist denn? Hat er das Essen doch gestohlen?«
Tristan und ich sahen einander an. »Was meinst du?«
»Er ging in den Flur unten«, sagte Cedric. »Mr. Elliot wohnt auf drei, und das Gebäude hat keinen Aufzug.«
Dort waren die Hauswirtschaftsräume. Er konnte sich dort unten versteckt haben, um Nicks Essen zu manipulieren und es dann abzuliefern. Ich erinnerte mich an das, was Nick gesagt hatte: »Im Tee.« Er hatte die Mahlzeit gemeint, die bis zum Abendessen reichte, und nicht das Getränk.
»Danke, Cedric. Wenn du den Mann wiedersehen würdest, würdest du ihn erkennen?«
Cedric zog die Brauen zusammen. »Er war irgendwie gewöhnlich. Es war nichts Besonderes an ihm.«
»Bis auf den Schnauzer.«
»Richtig.« Cedric berührte seine eigene Oberlippe und strich mit dem Finger über den Flaum. »Möchten Sie noch etwas wissen? Ich muss arbeiten.«
»Hier, für deine Zeit«, sagte Tristan und ließ Silbermünzen in Cedrics geöffnete Hand fallen. »Du hast scharfe Augen, Bursche.«
»Danke, Sir.« Die Münzen verschwanden in einer Tasche, und Cedric trottete davon.
Ich ging voran in den Teil des Ladens, der für die Kunden vorgesehen war, und blieb bei einem Kasten mit Apfellimonade stehen, die auf Eis lagerte. Tristan wanderte durch den Gang und wartete, bis ich bezahlt hatte.
Er strich über die Titelblätter der Magazine mit den Fotos von Kinostars. Ich schob den Herald zur Seite, unter dem der Star lag, und schmeckte bittere Galle in meiner Kehle.
Massaker! , verkündete die Schlagzeile über dem Bild eines Polizisten in Uniform, der vor dem Weg zu einem Reihenhaus aus Backstein stand.
»Die Zeitung auch, Sir?«, fragte das Mädchen an der Kasse.
Ich bezahlte und schob die Zeitungen unter meinen Arm, sodass die Titelseite nicht zu sehen war.
»Du nimmst die Wochenendzeitung? Ich hätte nicht gedacht, dass du den Freizeitteil gerne liest«, sagte Tristan.
»Es gab einen weiteren Mord.«
»Einen weiteren? Was meinst du?«
Wir standen wieder draußen auf der Straße, Schulter an Schulter und den Wind im Rücken. »Du erinnerst dich an die erste Nacht, als die Polizei nicht kam, weil sie bei einem anderen Mord war?«
Tristan schenkte mir einen reumütigen Blick. »Vage.«
»Veteranen ermorden ihre Familien. Die Frauen, die Kinder und dann sich selbst«, sagte ich. »Und es ist wieder geschehen.«
Als wir wieder in Tristans Salon saßen, teilten wir die Zeitung zwischen uns auf. Ich las den Teil über Korporal Terrence Pigeon, einen Militärangehörigen, der kürzlich aus Laneer wiedergekehrt war, und der allen in seinem Haus die Kehle durchgeschnitten hatte, um danach Menschen auf der Straße anzugreifen, bis die Polizei ihn überwältigen konnte. Tristan lehnte sich gegen mich und las über meine Schulter mit.
»Das ist grauenhaft. Und das ist letzte Woche geschehen?«
»Ja. Alles ehemalige Soldaten, die erst kürzlich aus dem Krieg nach Hause zurückgekehrt sind.«
Tristan legte den Kopf schief. »Du behandelst Soldaten.«
Ich nickte. »Diesen konnten sie festnehmen. Die anderen beiden brachten sich selbst um.«
»Und du fragst dich, warum.«
»Die Soldaten, mit denen ich arbeite, sind … Der Krieg ist furchtbar. Ich kann dir nicht einmal beschreiben, wie es dort drüben war. Was uns zustieß, was wir ihnen antaten … Das alles verletzt die Psyche eines Menschen, verändert sie.«
»Ist das der Grund, warum sie ihre Familien töten?«
Es war reine Spekulation. Ich hatte keine Beweise. Und ich wollte es nicht glauben – nicht bei der Zahl der Männer, die ich bei der Parade mit der gleichen Infektion gesehen hatte, mit der gleichen Wolke im Gehirn wie beim alten Gerald und Bill und den einundzwanzig anderen Patienten, die ich nicht entlassen hatte. Doch ich erzählte Tristan die Wahrheit.
»Ich fürchte, dass es daher kommt.«
Tristan rieb mir die Schulter, während ich den Polizeimann auf dem Star anstarrte. »Sprich weiter.«
Draußen rief jemand fröhlich eine Einladung auf einen Drink. Sonnenschein traf schräg auf die Spiegel, das helle Licht des Nachmittags. Ich schmiegte mich gegen Tristans Hand und fuhr fort. »Manche der Männer haben Wahnvorstellungen. Sie glauben, dass in ihrem Körper ein Mörder lauert, der jeden um sie herum töten will. Ich glaube, es gibt dafür eine körperliche Ursache, aber ich kann sie nicht finden.«
»Kannst du es mit deiner Gabe wahrnehmen?«
Ich seufzte. »Ja. Ich habe es bisher verschwiegen und versuche, die Ursache mit einem einfachen Test zu finden.«
»Weil du sonst deine Gabe verraten würdest«, sagte Tristan. »In Laneer hast du als Chirurg gearbeitet. Mir ist bekannt, dass die Menschen Chirurgen bewundern und denken, dass ein Psychiater nicht einmal als Arzt bezeichnet werden sollte. Wieso hast du dein Fachgebiet gewechselt?«
Ich schloss die Augen. »Die Laneeri überfielen ein Feldlazarett, um mich zu kriegen. Hätten sie nur einen guten Arzt haben wollen, der ihnen das Leben rettet, wäre das nicht so schlimm gewesen.«
Tristan strich mir über die Schultern, und der Stoff meines Hemdes glitt unter seinen Händen hin und her, während er mir beruhigend den Rücken streichelte. Auf diese Art berührte ich auch meine Patienten, wenn sie mir ihre düstersten Geschichten erzählten.
»Sie zwangen mich, sie zu retten«, sagte ich. »Meine eigenen Männer. Man folterte sie. Verstümmelte sie. Die Laneeri wussten, dass ich Wunder bewirken konnte. Sie hielten mir eine Waffe an den Kopf, bis ich vom Heilen ohnmächtig wurde. Darauf gaben sie mir etwas zu essen, damit ich mich erholte, und dann zwangen sie mich, weiterzumachen. Einen Mann heilte ich vier Mal, damit sie ihn immer weiter befragen konnten. Er wusste nicht, was sie wollten. Doch das hielt sie nicht auf.«
»Man zwang dich dazu.«
»Ich hätte zulassen sollen, dass sie mich töten.«
»Niemand will sterben, Miles.«
»Sie wollten es«, sagte ich. »Meine Männer flehten mich an. Ich hätte …«
Tristan legte einen Finger auf meine Lippen. »Du wurdest gerettet. Du denkst zwar, dass du es nicht verdient hast. Aber du wurdest entführt, man nahm dich gefangen. Es ist nicht deine Schuld.«
Wie oft hatte ich das zu meinen Patienten gesagt?
Er zog mich an sich, und ich lehnte mich gegen ihn, ohne mich zu schämen, weil ich die Nähe brauchte. Er zog meinen Kopf an seine Schulter und fuhr fort. »Als sie dich retteten, schickten sie dich nach Hause. Aber du konntest nicht mehr diese Art von Heiler sein, also hast du einen anderen Weg gefunden.«
»Die Psychiatrie.«
»Weil du sie immer noch heilen willst«, sagte Tristan. »Du gibst niemals auf, Miles. Du bist so mutig wie jeder andere Heiler, den ich kenne. Sogar mutiger. Mein Freund Cormac – ich wünschte, ich könnte dich zu ihm bringen.«
»Amaranthine brauchen Heiler?«
»Wir können verletzt werden, Miles. Oder getötet.«
»Ich dachte, ihr seid unsterblich.«
»Nur, wenn wir ein langweiliges Leben führen. Er könnte dich das lehren, was ich nicht kann. Vermutlich würdest du ihm auch das eine oder andere beibringen. In jedem Fall würde er nichts als Bewunderung für dich empfinden, für dich und für das, was du getan hast.«
»Ich wünschte …«
»Pst. Schon gut, du musst nichts sagen«, sagte Tristan. »Wo ich herkomme, hättest du einen Gefährten.«
»Wie einen Assistenten?«
»In gewisser Weise. Jemanden, der dich davon abhält, dich selbst umzubringen, während du versuchst, jemand anderen zu retten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du das alleine geschafft hast.«
»Man kann es nicht anders tun.«
»Wenn ich … Wenn du einen Gefährten hättest, würde er dir sagen, dass das, was geschehen ist, nicht deine Schuld war. Du hast getan, was du tun musstest, um zu überleben. Und er wäre froh, dass du zurück bist.«
Ich hob den Kopf. »Du kanntest mich vorher nicht.«
»Dann bin ich froh, dass du hier bist, damit ich dich finden konnte.«
Er war mir so nah. Bereits früher hatte er mich beruhigt, hatte mich mit seiner Nähe getröstet. Jetzt spürte ich, wie sich mehr in mir regte.
Er legte zwei Finger unter mein Kinn und zog mich so nah an sich, dass unser Atem sich vermischte, so nah, dass seine Wärme über meinen Mund strich, kurz bevor er mich küsste.
Sein Mund schmeckte nach süßer Apfellimonade und meine Lippen prickelten, während gleichzeitig Kälte und Hitze über meine Haut jagten, da, wo er mich berührte. Mir war schwindelig, aber ich öffnete den Mund, und er zog mich fest an sich.
Die ganze Zeit über waren wir auf diesen Moment zugesteuert, ganz gleich wie sehr ich versucht hatte, es zu ignorieren und den Teil von mir zu leugnen, dem es egal war, dass er herzlos war, dem es egal war, dass Amaranthine niemals liebten. Und jetzt, als seine Hand auf meinem Rücken lag, war es mir auch egal. Ich wollte nur mehr.
Wir schoben die bunten Kissen zur Seite, und ich legte den Kopf auf eine Nackenrolle. Ein Kissen drückte unbequem gegen meine Rippen, aber es war mir egal. Tristans Zopf fiel über seine Schulter und strich über meine Kehle, als er sich über mich beugte. Ich zog an seiner Krawatte und löste sie, dann knöpfte ich seinen Kragen auf. Sein Herz schlug heftig in seiner Brust, und er erschauderte. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Er mochte ein Amaranthine sein, aber ich verzauberte ihn.
»Miles«, keuchte er. »Wir sollten ins Bett gehen.«
»Nein.« Ich wollte nicht, dass er aufhörte, nicht einmal, um nach oben zu gehen. Ich zog ihn zurück, um einen weiteren Knopf zu öffnen, um seine Haut auf meiner zu spüren.
Es fühlte sich so gut an wie Magie. Es war Magie. Ich ließ sie aus meinen Fingerspitzen strömen, als ich ihn berührte, und Tristan packte mich fester und erschauderte. Ich tat es wieder, und wieder. Ich hatte nie einen Liebhaber mit Magie berührt. Ich war nie ich selbst gewesen, nicht einmal in diesen geheimsten Momenten. Ich hatte mich immer versteckt, war niemals frei gewesen.
Nun zog ich ihn befreit zu einem weiteren Kuss hinab.
Da erklang der Klopfer an der Tür, und er hob den Kopf.
»Das könnte Alice sein.« Tristans Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst. Sein Hemdkragen stand offen und seine Krawatte hing lose um seinen Hals.
Ich sah vermutlich genauso derangiert aus, aber ich setzte mich auf. »Ich koche Wasser.«
Wir ließen die Kissen der Chaiselongue auf dem Boden liegen, und liefen in unterschiedliche Richtungen davon.
Miss Farmer saß auf der Kante eines Sessels mit ovaler Lehne, die Hände im Schoß gefaltet. Sie trug ihre besten Ruhetagskleider, und ein Stück Spitze lugte aus der Tasche zu ihren Füßen. Ihre Augen blickten groß und verängstigt, weil sie sich in einem Haus ohne Frauen aufhielt.
»Tee, Miss Farmer?« Ich schenkte mir mit übertriebener Geste eine Tasse ein und goss sowohl Sahne als auch Zucker hinein, obwohl ich ihn selbst schwarz und süß bevorzugte. »Tristan wird in Kürze bei uns sein. Seine Haushälterin hat zwei freie Tage. Daran hätten wir denken sollen …«
Ihr Blick huschte von meinem zerrauften Haar zu der hastig gerichteten Krawatte, dann schenkte sie mir ein scheues Lächeln. »Ich habe Sie unterbrochen.«
Das war mal ein kluges Mädchen. Blieb Tristan hier, würde ich ihm vorschlagen, dass er und Miss Farmer sich als Detektive zusammentaten. Sie war besser dafür geeignet als ich.
»Miss Farmer«, sagte Tristan da. Sie nickte und ihre Tasse klirrte kurz, als ihre borkenbraunen Locken wippten. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht warten lassen?«
Er legte ein Notizbuch und einen Stift neben die Teetasse und setzte sich wieder neben mich. Alice unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung, als er seine Hand auf mein Knie legte.
»Ich will nicht, dass jemand in der Redaktion das mitbekommt, deshalb kam ich hierher. Man würde mir sonst … Fragen stellen.«
Nachdem ich erfahren hatte, wie es war, wenn sich neugierige Reporter auf einen stürzen, konnte ich es der scheuen Alice nicht übelnehmen, dass sie einer solchen Befragung entgehen wollte. »Wir werden auch Fragen haben. Geht es um Nicks Buch?«
»Ja. Nick Elliot schrieb ein Buch über Hexen und die Sanatorien.«
Alle meine Hypothesen fielen in sich zusammen. Er hatte nicht über den Krieg geschrieben? Sondern über Hexen? Was hatte Nick dann gemeint, als er sagte, dass die Soldaten die Wahrheit verdienten?
Tristan stellte seine Teetasse ab. »Wissen Sie, warum?«
»Er war davon besessen«, sagte Alice. »Er las alles über die Verhöre und die Prozesse, bis zu den Fällen von vor fünfzig Jahren. Er hielt es geheim – Cully Miller weiß, dass in ihrem Ressort lauter Reporter sitzen, die davon träumen, für die Lokalredaktion oder das Zeitgeschehen oder die investigative Berichterstattung zu schreiben, obwohl man mit den Kolumnen sein Geld verlässlicher bekommt.«
»Aber es bedeutet nicht annähernd so viel Ruhm, als wenn man eine große Story herausbringt«, sagte Tristan nachdenklich. »Wissen Sie, warum er so an Hexen interessiert war?«
Weil er selbst eine gewesen war natürlich. Aber Alice wusste das nicht, und ich würde es ihr nicht sagen. Sie blickte auf ihre Knie hinab, die sie sittsam aneinanderdrückte und die von nüchterner grauer Gabardine verdeckt waren. »Ich denke, es hatte etwas mit seiner Mutter zu tun.«
»Warum mit seiner Mutter?«
»Sie wurde als Hexe verurteilt. Vor Jahren gab es dazu im Star einen Bericht. Zwölfter der Apfelblüte im vierzehnten Jahr von Königin Constantinas Herrschaft.«
Das Jahr, in dem ich weggelaufen war, um im Tausch gegen sieben Jahre Dienst für die Königin Medizin zu studieren. Ich überschlug es im Kopf. »Nick konnte nicht älter gewesen sein als …«
»Dreizehn«, sagte Alice. »Er kam her, um bei einem Vormund zu wohnen. Er hatte in Bywell gelebt, bevor seine Mutter eingewiesen wurde.«
Tristan warf mir einen Blick zu. »Miss Farmer, wissen Sie, ob es in den anderen Städten, die Nick besuchte, Sanatorien gibt?«
»In allen. Das Goldenwood Sanatorium in Norton, gegründet im dreizehnten Jahr von König Nicholas Herrschaft …«
Sie sah, dass ich die Augenbrauen zusammenzog, und hatte Mitleid mit mir. »Vor einundvierzig Jahren. Das Clarity House in Bywell, dessen Bau etwa zur gleichen Zeit fertiggestellt wurde. Sie wurden alle vor etwa vierzig Jahren erbaut. Darf ich Ihr Notizbuch benutzen?«
Sie hatte eine schöne geschwungene Schrift und sie listete jede Stadt auf, die Nick besucht hatte, sowie den Namen des Sanatoriums und das Jahr, in dem es eröffnet wurde.
»Haben Sie jemals sein Manuskript gesehen?«
»Es tut mir leid, Mr. Hunter.« Sie rieb über einen Tintenfleck auf ihrem Finger. »Er ließ es mich nie sehen. Ich sah nur seine Notizen über den Bau der sechs Sanatorien, und die gewaltige Summe Geldes, die genehmigt worden war, um die Gleise zu diesen Städten zu verlegen, obwohl sie abgelegen sind und der Ausbau der Nebenlinien warten musste, während Aeland die Schienen ins nirgendwo verlegte«.
Ich schloss den Mund. Jeder Schuljunge lernte, dass dies die schrullige Idee eines alternden Königs gewesen war, der rein gar nichts vom Verkehrswesen verstanden hatte. Doch die Sanatorien, die zu eben der Zeit am Ende dieser Strecken erbaut worden waren?
Über die Sanatorien hatte man uns in der Schule nie etwas beigebracht.
Mein nächster Gedanke ließ mich frösteln. Was, wenn es keine schrullige Idee gewesen war?
Tristan drückte mein Knie. »Miss Farmer. Ich denke, es war sehr klug, dass Sie uns das erzählten, und auch, dass Sie es geheim hielten.«
Sie blickte hoffnungsvoll auf. »Wissen Sie, was das alles zu bedeuten hat?«
Tristan schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber ich finde es heraus.«
Er begleitete Alice hinaus, dann kehrte er zurück und stürmte an mir vorbei in das Zimmer, das er als Bibliothek nutzte. Ich stand auf der Schwelle, während er seine Sammlung durchsuchte.
»Wo ist er nur, wo ist er nur, wie konnte er verschwinden, der verdammte … – ah! Miles. Komm und sieh dir das an.«
Es war ein Atlas, den er aufschlug, um mir eine Karte von Aeland zu zeigen. Er deutete auf die teuren Tafeldrucke. »Wo befinden sich diese Städte?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie sind hier nirgends eingezeichnet. Es sind winzig kleine Orte, die nicht einmal wegen dem Eisenbahnanschluss gewachsen sind.«
»Wer ließ sie erbauen?«
»Der König«, erwiderte ich reflexhaft. »Nein. Er hatte Berater. Den Minister der …«
Ich stockte und mein Mund wurde trocken.
»Miles?«
»Den Minister des Verkehrswesens und der Infrastruktur.«
»Und das ist … Oh.«
»Mein Vater. Großvater Miles war immer noch der Kanzler. Vater war Minister. Er hat den Posten immer noch inne.«
Ich hatte gedacht, es wäre Sir Percy. Ich konnte ihm die Schuld am Krieg geben, aber war etwa ein ganz anderer Verdächtiger für Nicks Tod verantwortlich? Vater könnte ebenfalls daran beteiligt sein. Hätte er nicht gewollt, dass diese Züge ins Nirgendwo fuhren, wären die Strecken nicht erbaut worden. Würde mein Vater töten, um ein Geheimnis zu schützen?
Diese Frage stellte ich mir nicht ernsthaft. Denn die richtige Frage lautete: Würde Grace das tun? Vater war vor einer Woche zu krank gewesen, um das Bett zu verlassen. Er hatte sie langsam ins Geschäft eingeführt, damit sie seinen Platz einnahm. Der Mann mit dem Schnurrbart konnte Vaters Mann sein, oder Graces Handlanger.
Tristan gab mir den Atlas. »Finde diese Städte, Miles. Bitte.«
Ich überflog die Seiten, aber es waren Punkte so groß wie Fliegendreck. Die einzige Stadt, die eine gewisse Größe aufwies, war Bywell, das beinahe im Zentrum des Landes lag. Das Buch verfügte jedoch über ein Register, und so fand ich bald die Orte und setzte rote Punkte auf die Karte, die das Land einkreisten – sie lagen nicht direkt an den Grenzen, aber fast. Warum hatte Vater gewollt, dass dort Sanatorien gebaut wurden?
Tristan sah mit gerunzelter Stirn auf die Karte. »Warum sollte man sie dort erbauen?«
»Wegen der Entfernung zur Familie …«
»Ich erinnere mich, Miles. Du hast es mir erzählt. Aber warum so weit weg? Sind dort überall Hexen gefangen? Was ist sonst noch da draußen? Ich muss es wissen, und ich kann es selbst nicht herausfinden.«
Ich sagte, was ich die ganze Zeit vermieden hatte. »Du kannst nicht bleiben.«
»Genau. Die Großherzogin wird mich sonst zurückholen lassen. Ich rechne mit Suchtrupps, die auf der anderen Seite der Steine nach mir Ausschau halten, und wenn sie hierherkommen und herausfinden, dass ich nicht gefangen oder unschädlich gemacht wurde, sondern … Nun. Würdest du wollen, dass dein Kronprinz unzufrieden mit dir ist?«
Ich wollte nicht, dass er ging. »Einen Prinzen zu verärgern, ist keine gute Idee.«
»Es wird einiges brauchen, um die Großherzogin Aife zu besänftigen. Sie mag es nicht, wenn ihre Günstlinge zu lange weg sind.«
»Du bist ein Günstling?«
»Seit ich ihr Leben rettete.« Er blätterte um, und nun war da eine Karte von Kingston, die mindestens zehn Jahre alt war. »Wenn ich zurückkomme … werde ich dich hier finden?«
»Hier? In Kingston?«
»In diesem Haus«, sagte er. »Lebe hier. Ich habe es für zwei Jahre gemietet. In den Truhen ist Geld. Ich werde es nicht brauchen.«
Ich zögerte. Ich wohnte nicht bei Mrs. Bass, weil ich mir nichts anderes leisten konnte, sondern aus Bequemlichkeit. Eine Wohnung im Westend zu finden, nahm mehr Zeit in Anspruch, als ich hatte, da ich im Hospital arbeitete, und wenn ich nicht auszog, würde Grace meinen Umzug anordnen. Ich hatte eine Summe auf meinem Bankkonto, mit der ich die Kosten von Mrs. Sparrow bestreiten konnte, aber Michael? Ich brauchte keinen Fahrer. Aber ich fühlte mich an diesem Ort willkommen, willkommen und zuhause.
»Lebe hier, Miles. Lass mich darüber nachdenken, zu dir zurückzukommen.«
»Ich …«
»Bitte.«
Ich wollte es. Ich wollte hier sein. »Das werde ich«, sagte ich schließlich.
Tristans Lächeln wärmte mein Gesicht, das er jetzt zwischen seinen Händen hielt, um mich zu küssen. »Miles.«
Der Klopfer schlug vier Mal gegen die Tür, scharf und laut.
Ich zuckte zurück.
»Die Pocken, wer immer das auch ist«, verkündete Tristan, und schritt durchs Zimmer, um durch das Salonfenster zu blicken. »Verflixt und zugenäht. Es ist deine Schwester.«
»Grace? Was sollte … oh nein«, stöhnte ich. »Ich soll an dem Auftakt der gesellschaftlichen Saison teilnehmen.«
»Welch passender Zeitpunkt«, murmelte Tristan. »Ich schicke sie weg, wenn du es wünscht.«
Ich seufzte. »Lass sie herein. Ich denke, ich weiß, was sie vorhat.«
»Ich würde dich nicht darum bitten, Miles, aber es ist so wichtig, dass die Leute dich vor der Wahl sehen.«
Grace sah immer noch ein wenig blass aus, doch sie beherrschte den Auftritt, bei dem ich mich schrecklich fühlte, wenn ich ihr etwas abschlug, das ihr wichtig schien. »Um welche Wahl geht es?«
»Der Erste Ring stimmt darüber ab, wer das Ritual anführen soll. Sir Percy hat seine Fraktion davon überzeugt, dass diese Position nicht per Erbe weitergegeben werden sollte.« Grace biss die Zähne zusammen, und ihre Lippen waren schmal. »Es tut mir leid, Miles. Doch ich muss jeden Vorteil nutzen, der mir zur Verfügung steht. Und das bedeutet, dass ich dich dort vorführe.«
Es würde mich von Tristan entfernen. Die Wiederkehr war ein Fest, das die ganze Nacht andauerte, ohne Rücksicht auf den Schlaf, den ein arbeitender Mann brauchte. Die Mitglieder der Hundert Familien gingen weder einem Beruf nach noch trieben sie Handel, also konnte man doch auch die ganze Nacht lang wach bleiben, oder?
Tristan würde morgen Nacht gehen. Und ich würde nicht hier sein, um mich von ihm zu verabschieden. Ich würde bei Grace sein, wenn sie als Vaters Vertretung den Winter einsang, als die Nachfolgerin der Stimme. Sie würde in der Achtung der Unsichtbaren aufsteigen, wenn sie mit ihrem abtrünnigen und nun gefügig gemachten Bruder kam, und das würde ihr die Macht sichern, für die sie geboren worden war.
Die geheime Macht, die durch Nick Elliots Tod gesichert worden war.
»Ich habe nichts anzuziehen.«
Grace deutete in Richtung der Kutsche. »Wir werden deine Uniform holen müssen.«
Natürlich. Das war das perfekte Kostüm für dieses kleine Drama. Ich seufzte und streckte meine Hand aus. Sie würden mich sowieso alle anstarren, da konnte ich genauso gut als Kardinal unter Krähen auftreten.
»Ich kann nicht bis zum Morgen bleiben. Ich arbeite. Du wirst früh mit mir gehen müssen. Sag, dass du die Luft spürst. Das wird Sinn ergeben in einem Sturmjahr.«
»Ich vergesse immer, dass du die Luft kaum lesen kannst.«
»Genug, um einschätzen zu können, wann ich einen Schirm brauche.« Ich drehte mich zu Tristan um. »Es tut mir leid.«
»Jeder von uns hat seine Pflichten«, sagte Tristan. »Du hast den Schlüssel. Wecke mich, wenn du zurückkommst.«