21
Suspendiert
D
as Beauregard hätte genauso gut Kilometer weit weg sein können, auch wenn es direkt auf der anderen Straßenseite lag. Ich sprang aus der Kutsche und schickte den Mann zurück, dann schloss ich mich der kleinen Menge an, die sich um einen Wachmann mit weißen Handschuhen drängte, der uns den Durchgang verbot.
»Sehen Sie, ich bin Arzt im Beauregard. Gleich dort drüben.« Ich deutete über die Schulter des Polizisten. Sein Hals kratzte wegen einer Infektion, und ich hielt ein wenig Abstand.
»Das verstehe ich, aber Sie werden warten müssen, bis der Festzug vorbei ist.« Das hatte er auch schon zu anderen gesagt, die glaubten, eine Ausnahme bilden zu können, Menschen, die mit angespanntem Kiefer warteten oder davongingen, um eine andere Route zu suchen.
Was, wenn ich einfach weiter ging? Es gab keine Absperrung. Ich könnte einfach hinüberlaufen, das würde doch nichts ausmachen …
»Jeder, der versucht, die Straße zu überqueren, wird angeklagt, weil er einen Diplomaten behindert hat«, sagte der Polizist.
Ich trat zurück. »Das ist ein diplomatischer Festzug?«
»Sie sind aus Laneer«, sagte der Polizist. »Sie sind hier, um die Kapitulation zu unterzeichnen und der Königin ihre Gefolgschaft zu schwören. Wir sind jetzt ein Imperium.«
Bei diesen letzten Worten hob er das Kinn.
Flöten und Trommeln hallten die Straße hinauf. Ich drehte wie die anderen auch den Kopf, und atmete den Duft von brennendem Süßholz ein, der vom Wind herangetragen wurde. Blaue Punkte bewegten sich über den Kings Way hinab, und der Marsch, den die Menschen an der Spitze des Zugs schlugen, war so langsam wie die Melodie bei einer Beerdigung.
Nun, das war es wohl auch. Ich sah zu und versuchte, die Punkte vor meinen Augen wegzublinzeln, als die in unterschiedliche Blautöne gekleideten Menschen näherkamen. Dann begriff ich, dass ich keine Punkte sah, sondern die Hexenmale, die um die Köpfe der Musiker herumschwebten.
Die vorne trugen Roben in blassestem Blau, die Säume schwangen um ihre Knöchel, während sie langsam dahinmarschierten. Die Flötisten spielten eine Melodie, die anmutete wie unterdrückte Tränen. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken. Die Farben der Roben wurden dunkler, wechselten vom Blau des Morgenhimmels zum Mittagslicht zur Dämmerung und zur Nacht, und die Sterne um ihre Köpfe drängten sich dichter. Das waren Himmelspriester, gemäß dem vorherrschenden spirituellen Glauben der Laneeri, und jeder von ihnen war eine Hexe.
Sie warfen mir einen Blick zu, dann konzentrierten sie sich wieder auf die Straße. Sie konnten meine Hexenmale auch sehen. Ich beobachtete die Prozession und hielt meine Überraschung zurück, als ich erkannte, dass keiner der Priester unter der Infektion litt.
Mussten nicht auch unter ihnen welche infiziert sein? Die Delegierten liefen in der Mitte zwischen den Priestern. Sie trugen weiße Roben, die rot gesäumt waren. Auf ihren Gesichtern lag keine Schminke, die die Laneeri der höheren Klassen sonst trugen, und ihre sonst so kunstvoll geflochtenen Haare flatterten jetzt lose. Auch sie zeigten kein Anzeichen der Infektion.
Warum litt keiner von ihnen an der Infektion, wo sie sich doch bei so vielen der heimgekehrten Soldaten ausgebreitet hatte?
Es konnte hundert Gründe dafür geben. Könnte ich einen Laneeri untersuchen … aber das würde nicht geschehen. Ich beobachtete die Priester mit ihren Hexenmalen, die die Köpfe niedergeschlagen gesenkt hatten, deren Geist aber frei von der Infektion war.
Was schützte sie?
Sie marschierten zu dem Klang der jammernden Flöten und klagenden Trommeln, und der Süßholzrauch wallte von den Räucherfässern auf und weihte die Luft. Sie würden zum Palast gehen. Dort würden sie vor dem Thron stehen bleiben und sich niederknien. Eine weitere Demütigung, als ob die vielen Verluste, die sie erlitten hatten, nicht schon ausreichten. Nach einer zeremoniellen Gefangennahme würden sie die Kapitulation unterzeichnen und Aelands Vasallen werden, endgültig geschlagen.
Ich könnte Mitleid mit ihnen haben, selbst nach dem, was sie mir angetan hatten. Es war ein schrecklicher Krieg gewesen, aber sie waren von Anfang an waffenmäßig unterlegen gewesen, auch wenn die Magier ihre Anstrengungen unterstützt hatten. Der Kampf war nie fair gewesen. Verzweifelte Menschen begingen schreckliche Taten.
Mehr würde ich ihnen nicht vergeben können.
Eine Priesterin wandte den Kopf und blickte über die murmelnde Menge hinweg. Ein gehässiges kleines Lächeln lag auf ihren Lippen, als ihr Blick den meinen traf.
Sie ließ ihn noch einen Moment verweilen, dann wandte sie sich ab, tat mich als unwichtig ab. Es war nicht gerade die Geste eines Menschen, der völlig gedemütigt worden war.
Der Blick war hinterhältig gewesen. Er war selbstgefällig gewesen. Er besagte, dass sie etwas wusste, das ich nicht wusste. Die anderen Priester blickten hierhin und dorthin, während sie auf ihren Flöten spielten und ihre Räuchergefäße schwangen. Ich versuchte, ihren Blicken zu folgen, versuchte zu erkennen, wen sie ansahen.
Soldaten. Ohne Uniform, manche hatten ihren Schnauzer abrasiert, und allen vernebelte die Infektion den Geist.
Hieß das, sie konnten es auch sehen?
Die Polizei gestattete den Leuten am anderen Ende der Häuserzeile, die Straße zu überqueren, als die Prozession vorbei war. Ich drehte mich um und blickte den Polizisten neben mir an. Er nickte und winkte und gab uns ebenfalls die Erlaubnis, zu gehen. Die Menschen, die gewartet hatten, überquerten die Straße oder stiegen auf ihre Fahrräder oder gingen wieder ihren Geschäften nach.
Ich rannte ins Hospital. Die Stufen zu meinem Büro nahm ich immer zwei auf einmal.
Menschen kamen auf der Treppe an mir vorbei, aber niemand sagte Guten Morgen. Eine Schwester blieb, als sie mich erblickte, auf einem Treppenabsatz stehen, zog sich dann aber rasch in den zweiten Stock zurück, obwohl sie zu den Angestellten der Abteilung für Psychische Leiden gehörte.
War sie mir gerade aus dem Weg gegangen?
Der Gedanke war lächerlich.
Ich kam auf die Höhe des dritten Stocks und sah Robin, die von ihrem Platz auf der Treppe aufstand, die Augen groß.
»Miles.« Sie öffnete die Hand, und die Stufen schwankten unter meinen Füßen.
Sie bot mir eine vollendet gedrehte Zigarette an.
Mir stockte der Atem.
Schritte kamen eilig die Treppe hinauf, und ein Laufbursche holte keuchend Luft. »Schwester Robin? Sie brauchen Sie. Ich habe Sie überall gesucht.« Dann sah er mich und seine Augen wurden kugelrund. Er trat zurück, ganz offensichtlich hatte er Angst. Vor mir.
Sie stand auf. »Ich komme in einer Minute, Gallbladder«, sagte sie. »Eine schnelle Operation. Ich hoffe, ich werde rechtzeitig draußen sein, um dich zu sehen.«
Der Junge warf mir verängstigte Blicke zu. »Es tut mir leid, bitte seien Sie nicht böse, aber man braucht Schwester Robin.«
Ich nahm die Zigarette von ihr und schob sie in meine Brusttasche. »Was ist passiert? Warum sind alle so ängstlich?«
In dem Moment, in dem ich es sagte, begriff ich.
Der Junge rannte voller Panik die Stufen hinunter.
Robin wandte sich mit besorgtem Blick zu mir um. »Es wird sich alles klären«, sagte sie, und dann ließ sie mich stehen, und ich sah ihr nach.
Das war nicht wirklich geschehen. Nicht jetzt. Ich stieg den Rest der Stufen hinauf. Mein Büroschlüssel lag in meiner Tasche neben Tristans, Eisen und Bronze klimmperten, als ich nach ihnen griff. Die Rillen aus leuchtender Bronze glänzten in dem Nest winziger Kratzer um das Schlüsselloch zu meinem Büro. Der Türgriff wackelte und ließ sich tiefer hinabdrücken als sonst.
Mir war bereits klar, was ich vorfinden würde, bevor ich die Tür geöffnet hatte.
Mein Büro war durchsucht worden. Ich zählte die Bände von Richardsons Enzyklopädie der Abdominalchirurgie
. Alle acht Bände waren da. Genauso wie das Whiskeyset aus Kristallglas, es stand leer, staubig und unberührt da. Meinen Aktenschrank hatte man dagegen auseinandergenommen. Die Papiere lagen verstreut auf dem Boden, all die Akten und Notizen, jemand mit lederbesohlten Schuhen war darauf herumgetrampelt. Beim Anblick meines verwüsteten Schreibtischs wurde mir übel, man hatte jede einzelne Schublade aufgebrochen.
Meine Habseligkeiten waren einfach in die Schubladen zurückgeworfen worden. Mein Schildpattfüller lag noch darin, genau wie die Armbanduhr, die ich zur Reparatur hatte bringen wollen. Langsam zog ich die Schublade auf, die ich immer abschloss.
Das Notizbuch, in dem ich aufgelistet hatte, was ich über die Infektion herausgefunden hatte – war verschwunden.
Ich hob die herumliegenden Papiere auf, suchte nach dem Buch, aber ohne Erfolg. Dünne Transferpapiere, die grüne Tinte an den Schreibtisch geklebt hatte, knisterten unter meinen Fingern, und ich bemerkte, dass es das Formular vom Fundbüro war, auf dem der Inhalt meiner Arzttasche aufgelistet war.
Ich schob die Papiere von meiner Schreibtischunterlage.
Das Messer mit dem weißen Griff war verschwunden.
Genau wie das Pendel, das man aus der Schublade genommen hatte. Die Bolline, das Pendel und das Notizbuch, in dem detailliert Gerald Grimes und Bill Pikes Krankheit beschrieben war …
Crosby. Das musste er gewesen sein.
Dr. Matheson stand im Türrahmen. Sie musterte meine feine Kleidung mit einem raschen Blick.
»Dr. Singer.«
Dr. Singer. Nicht Miles. »Dr. Matheson.«
»Ich wünsche, Sie in meinem Büro zu sprechen.«
Die Werkzeuge einer Hexe konnte ich wegerklären, aber das Notizbuch? Was sollte ich dazu sagen? Was konnte ich tun?
Kopf hoch und alles so nehmen, wie es kam, etwas anderes blieb mir nicht übrig.
»Gute Idee. Mein Büro ist gerade ein wenig unordentlich, fürchte ich.«
Dr. Matheson verzog keine Miene. Sie drehte sich um, damit ich ihr folgte. Weder sah sie zurück noch sprach sie mit mir auf dem Weg die Treppe hinab. Dann durchmaß sie ihr Büro mit langen Schritten.
»Schließen Sie die Tür und setzen Sie sich.«
Pendel, Bolline und Buch waren die einzigen Gegenstände auf Dr. Mathesons Schreibtischunterlage.
»Dr. Crosby brach gestern in ihr Büro ein, nachdem ein neuer Patient ihm von Gerüchten erzählt hatte«, sagte Dr. Matheson. »Kennen Sie einen Mann namens James Wolf?«
Sowohl sein Leben als auch sein Bein hatte ich an meinem letzten Tag im Feldlazarett gerettet. Ich war so müde gewesen, dass ich kaum noch die Füße hatte heben können. Und so hatte ich sie nicht kommen hören.
»Ich hatte einen Patienten mit diesem Namen.«
»Er behauptet, Sie heilten ihn mit Magie und stahlen seine Seele als Bezahlung.«
Wasserflecken zeichneten sich in einer Ecke von Dr. Mathesons Büro ab. Sie hatte eine Topfpflanze in die Ecke geschoben, anstatt den Schaden beheben zu lassen.
Dr. Matheson nickte. »Es ist wirklich lächerlich, da stimme ich Ihnen zu. Aber so fand Dr. Crosby diese Sachen hier.«
Ich wartete schweigend, was noch kam.
»Crosby wurde suspendiert, ihn erwartet eine Untersuchung durch den Ausschuss«, sagte sie. »Und Sie ebenfalls.«
»Dr. Matheson?«
»Ich muss Sie beide suspendieren. Aber ich möchte gerne wissen, was das hier ist.«
»Ein Brieföffner«, sagte ich.
»Eindeutig. Crosby behauptete, es wäre eine Silberklinge, mit der man Zutaten für einen Zauberspruch sammelt.«
»Das ist ein Brieföffner. Und der Stein an der Kette ist ein Pendel. Ich verwende es als visuellen Fokus für den Mesmerismus, den ich bei den Patienten anwende, um ihnen zu helfen, wenn sie Schmerzen haben oder nicht schlafen können.«
»Miles, ich habe das Notizbuch gelesen. Es ist ungewöhnlich formuliert.«
»Ich benutzte die Worte der Patienten, um es zu beschreiben, um zu erklären, was sie glauben, was in ihnen lauert.«
Dies war die Schwachstelle. Ich hatte aufgeschrieben, was ich sehen konnte, hatte meine magische Sicht mit meinem medizinischen Wissen vermischt. Es machte keinen Sinn, so etwas zu schreiben, nicht aus klinischer Sicht und nicht aus wissenschaftlicher.
»Alle Stationen haben bereits von der Anschuldigung der Hexerei gehört. Es war nicht zu verhindern. Mehrere Ärzte haben Dr. Wolfs Narbe von Ihrer Operation angesehen. Ich ebenfalls.«
»Ich nehme an, die Narben sind erheblich.«
»Sie sind erstaunlich«, sagte Dr. Matheson. »Er hätte sterben müssen, bevor Sie auch nur in der Lage gewesen sein sollten, die Hälfte der Operation durchzuführen. Doch er lebt, und er kann laufen. Er hat jedem, der es hören wollte, erzählt, dass Sie ein Hexer sind.«
»Und Sie glauben ihm.«
»Wir können das lösen.« Dr. Matheson beugte sich über den Schreibtisch.
»Wie?«
»Lassen Sie sich untersuchen, dann können wir die Anklage fallen lassen.«
Oh.
Sie meinte eine Untersuchung auf Hexerei. Man schickte einen Patienten, der der Hexerei bezichtigt wurde, in einen mit Kupfer ausgekleideten Raum, dann befragte man ihn und brachte ihn mit einem Kreuzverhör aus dem Konzept. Ich wusste, welche Antworten ich geben müsste.
Doch gegen das Kupfer hatte ich keine Chance. Die Aetherleitungen reichten bereits aus, um mich zu irritieren, sie machten die Geräusche einer Fliege, die einem um den Kopf sirrt. Irgendwann flehte jede Hexe, dass man sie endlich aus dem Untersuchungsraum holte. Als ich noch an der Medizinischen Fakultät gewesen war, hatte ich diesen Raum gehasst, er hatte mich von dem Moment an ausgelaugt, in dem ich ihn betreten hatte.
Das Kupfer war der wahre Test. Manche Hexen behaupteten, so mächtig zu sein, dass sie den Wind herbeisingen oder den ganzen Tag mit den Toten reden konnten, doch auch sie knickten wegen des Kupfers früher oder später ein oder wurden schlicht wahnsinnig.
Dr. Matheson brach die Stille. »Man wird Dr. Crosby entlassen, sobald Sie die Untersuchung hinter sich gebracht haben. Es geht nur um einen einzigen Tag. Sie könnten heute ins Sanatorium von Kingston gehen, dann erledigen Sie Mitte der Woche bereits wieder Ihre Runden auf Station.«
Einen ganzen Tag würde ich niemals in dem Raum aushalten.
Es war vorbei. Ich war erledigt. Ich konnte diese Gerüchte nicht widerlegen, ohne dass ich mich dem Test unterzog, den Dr. Matheson vorschlug. Mein Ruf war dahin, gerade in dem Moment, in dem meine Patienten mich am dringendsten brauchten.
Es sei denn, ich setzte meine Macht und meinen Wohlstand dazu ein, um das Problem mittels Einschüchterung aus dem Weg zu schaffen.
Ich lehnte mich zurück und trommelte mit den Fingern auf meine Stuhllehne. »Ich finde, Sie sollten mich besser suspendieren. Dann engagiere ich einen Anwalt für meine Anhörung vor dem Ausschuss.«
Etwas wie Ratlosigkeit huschte über ihre Miene – und die Sehnen an ihrem Hals traten hervor. »Es ist doch viel leichter, Dr. Crosbys Anschuldigungen mit der Prüfung zu begegnen. Beweisen Sie, dass Sie kein Hexer sind, Miles, dann wird er so etwas niemals mehr versuchen können.«
»Das werde ich nicht tun. Das ist einfach lächerlich.« Ich runzelte die Stirn und schob den Kiefer vor, spielte Dr. Matheson die Wut vor, die sie von mir erwartete. »Ich suche mir einen Anwalt.«
»Warum wollen Sie den Test nicht machen, Miles?«
»Ich habe heute Abend eine gesellschaftliche Verpflichtung mit meiner Schwester.«
»Sie wollen die Untersuchung nicht vornehmen lassen, weil Sie mit Dame Gr…«
Sie schlug sich die Hand vor den Mund.
Jetzt war es an mir, mich vorzubeugen. »Sie wussten es bereits.«
»Sie sehen sich ähnlich. Sie haben die gleichen Augen.«
»Dann war es nur eine Vermutung?« Ich schüttelte den Kopf. »Weshalb wurde ich zu dem Lunch eingeladen? Ich stehe in der Hierarchie zu niedrig für so etwas, und doch bestanden Sie darauf. Warum?«
Dr. Matheson hielt meinem Blick stand. »Ihre Abhandlung über Kriegsneurosen in Psyche
wurde von einem renommierten Wohltäter sehr bewundert.«
Niemand las ein Ärzteblatt zur Unterhaltung. Ich zählte eins und eins zusammen: Matheson hatte meinen Vater über meine Erfolge auf dem Laufenden gehalten, und dann hatte mein Vater den Plan entwickelt, mich und Grace zusammenzubringen. »Sagen Sie mir, wer wollte, dass man mich einlädt. Und mich Dame Grace vorstellt.«
»Sir Christopher Hensley«, erwiderte sie. »Ihr Vater, wie ich jetzt begreife.«
Sie hatte mich ausspioniert für den Vater, der neugierig darauf war, was ich mit meiner Freiheit anfangen würde. »Und was hat er Ihnen angeboten? Eine Beförderung?«
Dr. Matheson riss kurz die Augen auf. »Er ist ein Mäzen.«
»War das alles, was er wollte? Dass Sie mich zu dem Lunch einladen?«
»Er wollte wissen, wie es Ihnen geht.«
»Und Sie glauben, er wird erfreut sein, wenn er hört, dass man mich der Hexerei bezichtigt? Dass Sie fordern, ich solle mich stellen und mich der Untersuchung unterziehen, statt dass Sie mir den Rücken stärken und meinen Ankläger feuern?«
»Es würde jeden Zweifel zerstreuen …«
»Sie haben nicht genug Macht im Ausschuss, um ihn zu zerstreuen.«
Sie seufzte laut auf, ließ die Schultern sinken und senkte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich bin noch nicht Medizinische Leiterin; diese Position übernehme ich erst zum Ersten.«
»Unterstützen Sie mich, Mathy. Legen Sie Dr. Crosbys Entlassung nahe und unterstützen Sie mich, wenn ich mit einem Anwalt dort hineingehe, und ich werde Ihnen helfen. Wenn …«
Sie hob den Kopf. »Wenn?«
»Haben Sie angeordnet, dass alle Leichen beseitigt werden, bevor Sie letzte Woche zu dem Lunch aufbrachen?«
Sie blickte zur Seite.
»Sie waren es«, sagte ich. »Wie konnten Sie das tun? Er wurde ermordet.«
»Er sagte, Sie könnten keine Ablenkung gebrauchen.«
»Aber dafür Nick Elliots Chance auf eine polizeiliche Ermittlung zu zerstören …«
»Er drohte, das Geld zurückzuziehen.« Dr. Matheson ballte die Fäuste so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Ich konnte nicht. Wissen Sie, wie dringend wir das Geld brauchen? Wie viel es kostet, alles zu aetherisieren, selbst mit den Zuschüssen?«
»Mord, Eleanor! Sie haben die Gerechtigkeit behindert!«
»Für meine Zukunft, und Ihre!«, sagte sie. »Für die Zukunft dieses Hospitals! Wissen Sie überhaupt, wie viel Spendengelder wir dieses Jahr haben?«
»Wenigstens fünftausend mehr«, sagte ich. »Und Nick Elliot bezahlte den Preis.«
»Sein Mörder wird vielleicht niemals gefunden. Ich weiß. Aber Sie haben keinen Verdächtigen. Sie haben nur seine Aussage, dass er vergiftet wurde.«
»Weil Sie die Leiche vernichten ließen. Und weggesehen haben. Für einen Mäzen!
«
»Ohne diesen Mäzen würde es immer schwerer, Tausende von Veteranen zu versorgen.« Sie strich sich eine lose Haarsträhne aus der Stirn. »Wir versuchen, arterielle Blutungen gleichsam mit Fingerpflastern zu stoppen.«
»Aber seinen Mörder frei laufen zu lassen? Nur weil ich derjenige war, der für eine Zigarette draußen war? Eleanor. Was geschieht beim nächsten Mal, wenn mein Vater möchte, dass Sie eine Ablenkung verhindern?«
Alles würde geschehen, alles, was mein Vater wollte, so sah es aus. Ich würde die Sache nicht ruhen lassen. Nick hatte etwas herausgefunden, das mein Vater zu verbergen suchte, und es hing mit den Sanatorien und den Hexen zusammen. Es war sein Pech gewesen, dass ich Nick gefunden hatte.
»Was glauben Sie, Miles?« Sie sah müde aus, und ihre Schultern waren unter der Last, die der Handel mit meinem Vater ihr auferlegte, herabgesunken. »Ich werde es tun.«
»Wenn ich das Hospital verlasse, oder man mich entlässt, verlieren Sie sein Geld.«
»Alles hängt davon ab, dass Sie an diesem Hospital bleiben.«
»Ich weiß. Es tut mir leid, dass Dr. Crosby das für Sie verdorben hat.«
»Wenn Ihr Anwalt den Ausschuss nicht überzeugt …«
Ich nickte. »Ich möchte nicht gehen.«
»Aber wenn der Ausschuss nicht …«
»Ich weiß.« Ich konnte nicht den ganzen Morgen hier herumsitzen. Und ich konnte mich nicht einfach zur Tür herausschleichen. Ich musste in die Abteilung für Psychische Leiden zurück. »Ich möchte das meinen Patienten gerne selbst erklären.«
»Das können Sie nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind suspendiert.«
»Sie haben das Recht auf eine Erklärung von mir.«
»Sie könnten Ihre Patienten manipulieren, um sie als Schachfiguren für Ihren Kampf einzusetzen. Es tut mir leid, Miles, das kann ich Ihnen nicht erlauben.«
»Nur ein paar Minuten.«
»Wenn es sein muss, lasse ich Sie von den Wachen hinauseskortieren. Gehen Sie, Miles, still und leise. Das ist mein Ernst.«
Ich musste auf die Station gelangen. Musste ein letztes Mal die Infektion sehen und herausfinden, warum sie unsere Soldaten befiel, die Laneeri aber nicht.
»Gut«, sagte ich. »Lassen Sie mich ein paar Dinge zusammenpacken.«
Ich war suspendiert. Ich hatte keine Privilegien, konnte keine Medizin ausüben, konnte meine Patienten nicht sehen. Ich sollte diese Treppen hinabgehen und aus der Tür hinaustreten.
Zum Henker damit.
Ich durchquerte die Eingangshalle und lief durch den Gang zur Abteilung für Psychische Leiden, der am Umkleideraum der Schwestern vorbeiführte. Robin trat heraus, gekleidet in graue Baumwolle. »Miles.«
»Robin. Ich muss gehen.«
Sie hielt mich am Ärmel fest. »Ich wünschte, ich könnte etwas tun – es tut mir leid. Alles. Und es tut mir auch wegen Bill leid. Du machst dir sicher Sorgen um ihn.«
Bill? »Was meinst du?«
Sie sah frustriert zur Decke. »Mathy hat es dir gar nicht erzählt. Natürlich nicht. Du wärest niemals einfach gegangen, wenn sie es dir erzählt hätte.«
»Was ist mit Bill?«
»Er hatte eine akute Stressattacke. Er ist jetzt in einem Sicherungszimmer. Es war wirklich schlimm.«
Ich legte die Hände auf ihre Schultern. »Wie schlimm?«
»Er war das ganze Wochenende über erregt, und dann stahl er eine Metallsockennadel aus der Handarbeitsgruppe.«
Mein Magen machte einen Satz. »Hat er jemanden angegriffen?«
»Schlimmer. Er schlich sich auf die Operationsstation, suchte sich einen Aetherkasten und rammte die Stricknadel hinein. Der Aether verbrannte ihn. Er wollte nicht loslassen, erzählt man sich. Klammerte sich daran und schrie: ›raus hier, raus hier‹, bis ihn jemand wegzog. Die anderen haben ebenfalls Verbrennungen erlitten.«
Verbrennungen durch Aether konnten schrecklich sein, denn sie reichten tief. Es war eine grauenhafte Art, zu sterben. »Also war es ein Selbstmordversuch?«
»Es waren seine Wahnvorstellung. Es wurde schlimm. Ich warf heimlich einen Blick in die Dienstprotokolle …«
»Das solltest du nicht tun.«
»Crosby hat Ärger gemacht«, sagte Robin. »Ich musste herausfinden, warum, nicht nur Gerüchte hören. Bill sagte immer wieder ›Ich muss ihn rausbringen‹ und ›er hasst das Licht, das ist der Schlüssel‹«, aber Crosby vermerkte es als Erregung, ausgelöst durch deine Fehlbehandlung, weil du eine Rückenmarksuntersuchung zu weit oben angesetzt hättest. Aber als sie ihn sediert hatten, wachte er auf und begann, auf Laneeri zu schreien, dass du ein Hexer wärst. Und der neue Patient, Mr. Wolf, erzählte jedem, dass du sein Bein mit Magie behandelt hättest …«
Ich durfte keine Zeit verlieren. Ich musste Bill selbst sehen. »Welches Sicherungszimmer?«
»Er ist in B. Ich habe ihn eingeschlossen. Sie haben ihn sediert – Miles! Warte!«
Ich beachtete sie nicht und rannte los.
Die Lichter flackerten auf diesem Teil der Station. Ich rannte den leeren Flur hinab und kam schlitternd vor Raum B zum Stehen. In der schweren Tür war ein Guckloch auf Augenhöhe, das offen stand.
Bill lag in dem Zimmer, man hatte ihn mit schweren Leinenbinden gefesselt. Diese wurden nur dann benutzt, wenn jemand trotz Sedierung aufwachte und sich immer noch wie wild aufführte, bereit, sich selbst Gewalt anzutun. Schlimmer war jedoch die Infektion, die sich bis in seine Finger und Zehen ausgebreitet hatte.
Robin zupfte an meinem Ärmel. »Du hast ihn gesehen. Du kannst ihm jetzt nicht helfen.«
Bills Lippen verzogen sich zu einem Knurren. Er konnte nur einen Schatten über der kleinen Tür erkennen. Vielleicht würde er mit mir reden, wenn er mich sah …
»Komm weg da, Miles. Quäle dich nicht selbst.«
»Ich werde mit ihm reden.«
»Miles …«
Ich drückte die Tür auf. Es roch nach der Wollpolsterung, mit der man Boden und Wände ausgekleidet hatte, nach Schweiß, gebratenem Fleisch und … man hatte ihn nicht rechtzeitig in den Waschraum gebracht. Oder er hatte es absichtlich getan.
Ich trat ein, und meine Füße versanken fast im Boden. »Bill, ich kam her, sobald ich es hörte. Wie geht es dir?«
»Hexe.«
Er spuckte das Wort förmlich aus, ein scharfes, hässliches Wort auf Laneeri.
Ich blieb stehen, wo ich war, und zeigte ihm meine leeren Hände. »Sie haben dich in diesen Raum gebracht, damit du in Sicherheit bist. Weil du versucht hast, Menschen zu verletzen. Möchtest du immer noch Menschen verletzen?«
»Ich werde dich töten. Wir werden euch alle töten.«
»Was sagst du da? Ist das Laneeri? Also bist du immer noch gewalttätig.« Ich hatte auf Laneeri geantwortet, jetzt wechselte ich wieder zu Aeländisch. »Lass uns darüber reden, was dich so wütend macht.«
»Sprich nicht in Hundesprache, Mörder.«
Ich blinzelte, sprach aber weiter. »Warum willst nicht Aeländisch mit mir reden?«
»Hör auf damit.«
»Antworte mir.«
»Schmutziger Aeländer. Mordender Hexer. Nekromant. Du verdienst den Tod.«
Was war das hier? Ich hätte die Patientenakte lesen sollen, bevor ich hier hereingestürzt war. »Warum?«
Er antwortete nicht. Ich versuchte es erneut auf Laneeri. »Warum?«
»Weil ihr Mörder seid. Seelenfresser. Ihr müsst aufgehalten werden.«
»Und du willst uns aufhalten?«
Das war – ich wusste nicht, was es war. Es war nicht Bill. Es war ein anderer Mensch, als ob jemand anderes sich in Bills Körper bewegte und durch ihn sprach. Ich musste etwas tun. Könnte ich die Infektion manipulieren? Geralds Wolke hatte ich soweit gebracht, sich beinahe vollständig zurückzuziehen. Was würde geschehen, wenn ich den Körper dazu brachte, sie zu bekämpfen, so wie einen Virus?
Ich trat näher heran.
»Miles, halt!«
Robin. Sie passte auf mich auf. »Ich möchte etwas probieren.«
Ich kniete mich neben Bill. Er versuchte mich zu beißen, aber ich legte meine Hand auf seine Stirn. Er schlug und trat heftig um sich, und seine Zähne schnappten, aber meine Aufmerksamkeit war auf die Infektion gerichtet … Moment.
Ich berührte den Rand der Wolke mit meiner Macht, und die ganze Masse zuckte zurück. Als ob sie zusammenhing, aber das machte keinen Sinn.
»Miles, das kannst du nicht tun«, flehte Robin. »Sie werden es erfahren. Sie werden dich untersuchen. Lass ihn. Du musst gehen.«
Ich sah auf. »Du glaubst den Gerüchten?«
Sie nahm meine Hand. Ich blinzelte – zuerst, weil Robin meine Haut berührte, und ihre Hand Wärme ausstrahlte. Dann, weil die gelassene, schrecklich gewöhnliche Aura von ihr abfiel und mir das starke Seelenlicht einer Hexe enthüllte.
»Robin«, flüsterte ich. »Du bist …«
Sie ließ los, und die Illusion der Normalität legte sich wieder über sie. »Ich erkläre es später. Wir haben keine Zeit, zu streiten. Du musst hier raus. Sie kommen.«
Schnelle Tritte hallten durch den Gang. Robin hatte Recht. Ich hatte keine Zeit, zu streiten. Aber ich musste Bill helfen.
Musste das Rätsel für alle Männer lösen. Ich machte weiter.
Ich konnte die Wolke nicht zerstören. Ich hatte sie zusammengefaltet, als ich es bei Gerald versucht hatte. Die Ränder widersetzten sich mir, und Bill schlug um sich, versuchte, sich von meiner Berührung zu lösen.
»Miles«, rief Dr. Matheson. »Sie sind suspendiert.«
»Einen Augenblick.«
Ich packte eine Kante. Sie versuchte, sich mir zu entziehen. Ich zog daran, und sie stieg aus Bills Körper heraus und in die Luft. Ich zog weiter, Stück um Stück, als würde ich einen Bandwurm aus den Innereien eines Patienten ziehen. Wie einen Parasiten. Wie …
»Miles. Das ist ein Befehl. Treten Sie von dem Patienten zurück.«
Ich beachtete Mathy nicht, denn ich begriff mit einem Mal und war ganz in diesem Augenblick gefangen. Das hier war eine Seele. Bill war besessen.
Ich zog fester, zerrte sie aus Bills Körper heraus. Bill schrie vor Wut und Schmerz. Er schlug um sich und biss sich auf die Zunge, sodass bei jedem heftigen Atemzug Blut aus seinem Mund troff.
Sie kam ganz plötzlich frei, riss sich aus meinen Händen los und war nach … Osten gezogen. Sie huschte gen Osten, und kurz konnte ich sie sehen, dann war sie verschwunden.
Ich wurde von Händen unter den Achseln gepackt und weggeschleppt. Unterdessen hustete Bill und wehrte sich weiter. Sein Haar war feucht von Schweiß und klebte an seiner Stirn.
»Doc?«, fragte er und hustete wieder. »Doc, was ist passiert?«
Ich riss mich von dem Wächter los, der mich hinausschleppen wollte.
Bills Stimme klang verängstigt. »Warum bin ich hier drin? Was ist passiert?«
Dr. Mathesons Rücken war steif wie ein Brett. Sie wandte sich um und sah mich an, das Gesicht so weiß wie Papier.
Bill war verrückt gewesen. Ich hatte ihn berührt, und er hatte wieder Vernunft angenommen.
Sie machte einen Schritt zurück, aus meiner Reichweite.
»Eleanor.«
»Kein Wort, Miles. Nehmen Sie sich Ihren Anwalt. Und kommen Sie nicht ohne ihn zurück. Bringen Sie ihn jetzt raus«, sagte sie und wandte sich dann ab, um in das Verwahrungszimmer zu eilen und sich neben Bill zu knien.
Der Wächter schleppte mich davon. Ich musste wieder da rein! Ich musste verstehen, was ich getan hatte. Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien.
»Kommen Sie mit, Dr. Singer.«
»Ich muss zurück.«
»Dr. Matheson hat befohlen, Sie rauszubringen. Gehen Sie ruhig mit, oder wir verständigen die Polizei.«
Bekam die auch nur einen Hauch von den Gerüchten mit, die über mich in Umlauf waren, würde ich augenblicklich in einen Untersuchungsraum gesteckt. Und die Gerüchte würden sich noch weiter verbreiten.
Ich hörte auf, mich zu wehren, und ging mit ihm. Ich hatte Bill befreit. Ich konnte den anderen nicht helfen, aber ich wusste, wo ich noch jemand finden würde.