Unter einer verknitterten Haube lugte ein schmales Frauengesicht mit übernächtigten, tränengeröteten Augen und kränklich fahler Haut misstrauisch durch den Türspalt. »Wer seid Ihr? Und was wollt Ihr?«
»Ihr müsst Leonie Tennard sein«, gab Gerolt mit einem freundlichen Lächeln zur Antwort, von dem er hoffte, dass es gewinnend wirkte und Vertrauen weckte. »Die tapfere Tochter des kranken Bertrand Gisquet.«
Die Frau nickte. »Ja, die bin ich«, bestätigte sie und ihr Blick verlor bei dem Lob ihrer Tapferkeit viel von seinem Misstrauen. Doch ihr Gesicht blieb nicht ohne Wachsamkeit. »Und wer seid Ihr? Ich kenne Euch nicht.«
»Wir sind Freunde Eures Vaters, gute Frau«, richtete nun Maurice das Wort an sie, schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln und stellte Gerolt und sich unter falschem Namen vor. Sie waren nur zu zweit. Raoul war bei McIvor geblieben, den mitzunehmen es sich von vornherein verboten hatte. Der Schotte hätte die Frau des Kerkerwärters mit seinem wüsten Aussehen nur in Angst und Schrecken versetzt. »Wir haben Wichtiges mit ihm zu bereden. Daher wären wir Euch zu großem Dank verpflichtet, wenn Ihr uns hereinließet und uns zu ihm führt.«
Leonie Tennard zögerte. »Wenn Ihr Freunde meines Vaters seid, müsstet Ihr auch wissen, wie schwer krank er ist und dass er nicht mehr viel Kraft hat. Die Nacht war wieder schlimm.« Tränen entwichen ihren Augen und sie wischte sie schnell aus ihrem Gesicht.
Gerolt machte eine betrübte Miene. »Wir wissen sehr wohl, wie schlecht es um Euren Vater steht. Aber die Sache, die uns zu ihm führt, ist von höchster Dringlichkeit und erlaubt keinen Aufschub. Seid jedoch versichert, dass es nur zu seinem Guten ist, der barmherzige Herr im Himmel ist mein Zeuge!«
»Bei den sieben Engeln, die die Gebete der Heiligen in den Himmel emportragen, es ist so, wie mein Freund sagt!«, bekräftigte Maurice noch einmal.
Leonie Tennard fasste nun Vertrauen und gab die Tür frei. »Also gut, wenn es wirklich so wichtig ist, will ich Euch nicht wegschicken. Aber bleibt nicht zu lange und schont seine Kräfte, werte Herren!«, bat sie eindringlich und schloss hinter ihnen die Tür.
»Der Allmächtige wird ihn schon bald zu sich rufen.«
»Ihr habt unser Wort!«, versprach Gerolt.
»Dann kommt. Er liegt ganz oben in der Kammer. Die Zugluft dort oben ist eigentlich Gift für ihn, aber mein Mann erlaubt es nicht, dass ich ihn für seine letzten Erdentage unten in unser Gemach bette«, sagte sie bitter und fügte dann noch leise hinzu: »Er hat ein hartes Herz, wenn es um meinen Vater geht. Es schmerzt, das sagen zu müssen, aber die Wahrheit wird man doch aussprechen dürfen, nicht wahr?«
Ernst nickte ihr Maurice zu. »Gewiss doch! Die Wahrheit ist ein zu kostbares Gut, als dass man es unter dem Unkraut von Beschönigungen und Ausflüchten verbergen dürfte. Die Welt ist auch so schon übervoll von Lug und Trug. Also sagt nur, was Euer redliches Herz Euch zu sagen aufträgt!«
Leonie seufzte dankbar und führte sie über die schmale Stiege nach oben unter das Dach. Behutsam öffnete sie die Tür. »Vater, es ist für dich Besuch gekommen. Zwei gute Freunde möchten dich sprechen. Es soll wichtig sein.«
»Wer ist es?«, drang eine schwache, hustende Stimme aus der Kammer.
Sanft drängte Gerolt sie nun zur Seite. »Es wird etwas dauern, bis er sich unserer entsinnt. Habt jetzt die Güte, uns allein zu lassen. Was wir zu bereden haben, ist erst einmal nur für Euren Vater bestimmt. Später wird er Euch über alles, was Ihr wissen müsst, ins Bild setzen.«
Ein leicht besorgter Blick trat in ihre Augen, doch sie ließ sie gewähren und an ihr vorbei ins Zimmer treten. Sogleich nickte ihr Maurice beruhigend zu und schloss die Tür.
In dem winzigen Zimmer, dessen kleines Fenster auf einen Hinterhof hinausging, lag Bertrand Gisquet in einem schweren Bett, in dem sein ausgemergelter Körper fast zu verschwinden schien. Der einstige Kerkermeister war nur noch Haut und Knochen. Eine Holzschüssel mit fadenscheinigen Tüchern, die mit blutigem Auswurf vollgespuckt waren, stand vor der Bettstelle. Ein Blick auf die blutig schleimigen Tücher und der Husten des Mannes genügten, um ihnen zu sagen, dass Bertrand Gisquet bald an der Schwindsucht sterben würde.
»Freunde?«, stieß Bertrand mit heiserer Stimme hervor. »Ich kenne Euch nicht! Habe Euch noch nie gesehen! Ihr müsst Euch im Haus geirrt haben.«
Gerolt schüttelte den Kopf. »Ihr irrt. Wir sind schon richtig. Wenn Ihr auch darin recht habt, dass wir uns noch nie begegnet sind. Aber dennoch kommen wir als Freunde zu Euch.»
Verwirrt sah der Todkranke sie an. »Was wollt Ihr von einem Mann, dem der Tod schon in der Brust sitzt?«
»Euch das Sterben und den Abschied von Eurer tapferen Tochter leichter machen, die Euch so liebt und so aufopferungsvoll pflegt, guter Mann«, antwortete Maurice. »Denn würdet Ihr nicht mit einem viel leichteren Herz aus dem irdischen Jammertal scheiden und Euch der Barmherzigkeit Gottes überantworten, wenn Ihr wüsstet, dass bei Eurem Tod ein schönes Erbe auf Eure Tochter wartet? Geld, von dem Euer hartherziger Schwiegersohn nichts weiß und das es Leonie ermöglichen würde, selbst zu entscheiden, wie ihr weiteres Leben aussehen soll? Wäre das nicht Balsam für Eure Seele und Vergeltung für all das Ungemach und den Kummer, den Hugo Tennard Euch und Eurer Tochter zugefügt hat?«
Die fiebrigen Augen des Mannes leuchteten auf. »Weiß Gott, das wäre es! Dieser undankbare Krakeeler und Wüterich hätte es tausendmal verdient! Verflucht sei der Tag, an dem ich mich von ihm täuschen ließ und ihm Leonie zur Frau gab!«, zürnte er. »Aber dieses Erbe, von dem Ihr gesprochen hat, wie soll sie dazu kommen?«
»Indem Ihr uns einen Gefallen tut, den Ihr hier an diesem Ort und zu dieser Stunde leicht erfüllen könnt – und der auch keinem einen Schaden zufügt«, sagte Gerolt und erklärte ihm nun, was er für sie tun sollte.
Bertrand Gisquet machte ein erschrockenes Gesicht und presste dann schnell ein Tuch vor den Mund, als ihn ein erneuter Hustenanfall schüttelte. »Ihr wollt, dass ich Euch einen Plan von allen Gängen und Kerkern des Gefängnisses zeichne?«, stieß er schließlich hervor, als er wieder sprechen konnte. »Das ist Verrat, was Ihr von mir verlangt!«
»Verrat an wem?«, fragte Maurice spöttisch. »Etwa an König Philipp, der Euch all die Jahre, die Ihr dort in dem finsteren Bau gewissenhaft Euren Dienst geleistet habt, nur einen Hungerlohn hat zahlen lassen und sich einen Dreck darum schert, dass die paar kleinen Münzen die Woche vorn und hinten nicht reichen? Oder an jenem herzlosen Obermeister, der Euch sofort die Anstellung aufgekündigt hat, als Ihr erkrankt seid? Wem also seid Ihr zur Treue bis in den Tod verpflichtet?« Er ließ die Anklage einen Augenblick einwirken, bevor er fortfuhr: »Doch wohl nur Eurer Tochter Leonie, Eurem einzigen Kind. Wer wird sich um sie kümmern, wenn Ihr im Grab liegt? Der König vielleicht oder der Mann, der Euch unbarmherzig den Stuhl vor die Tür gestellt hat?«
»Wir planen kein Verbrechen, sondern nur die Rettung eines unschuldig Eingekerkerten, der nie seine Unschuld wird beweisen können«, sagte Gerolt. Zwar mochte Bertrand Gisquet sterbenskrank sein, doch er hatte seinen Verstand noch zusammen und wusste auch ohne dieses Eingeständnis längst, welchem Zweck ein genauer Plan von den Gängen und Räumen des Petit Chatelet dienen sollte. »Ihr wisst doch nur zu gut, dass die Folter keine Unschuldigen kennt, sondern nur Geständige und Tote.«
»Gewiss . . .«, murmelte Bertrand Gisquet.
»Was zögert Ihr? Ihr habt nichts mehr zu verlieren, aber dreihundert Sous und damit eine Zukunft für Eure Tochter zu gewinnen!«, sagte Maurice, zog einen Lederbeutel hervor und legte die prall gefüllte Börse vor ihn auf die Bettdecke. »Hier, überzeugt Euch und zählt nach, wenn Ihr dem Braten nicht traut.«
»Dreihundert Sous? Selige Jungfrau Maria!«, entfuhr es dem Mann, und mit zitternder Hand griff er nach dem Beutel. »Dreihundert Sous!« Das war mehr, als ein Kerkermeister in anderthalb Jahren an Lohn erhielt! Mit einem solchen Erbe würde seine Tochter in der Tat ihre Freiheit gewinnen. Sie konnte der Tyrannei seines Schwiegersohns entkommen, Paris hinter sich lassen und sich irgendwo in einer Kleinstadt etwas Eigenes schaffen, eine kleine Nähstube vielleicht oder einen Handel mit Knöpfen, Kämmen, Bändern und Tüchern. Ein bescheidenes Geschäft zwar, aber es würde sie ernähren und ihr ermöglichen, eines Tages wieder einen Mann zu finden, der es wert war, dass sie Bett und Tisch mit ihm teilte!
»Nun, wie lautet Eure Antwort?«, fragte Gerolt ruhig und mit der Gewissheit, dass die Entscheidung längst gefallen war. Denn das sahen sie seinen leuchtenden Augen an.
»Ich will es tun!«, erklärte er nun geradezu eifrig. »Aber dazu brauche ich Tinte, Feder und Pergament!«
»Nichts, was wir erst noch besorgen müssten! Alles, was wir brauchen, haben wir wohlweislich gleich mitgebracht!«, sagte Maurice und deutete auf den Beutel, den Gerolt an einem Ledergurt über seiner Schulter hängen hatte. Er enthielt auch ein dünnes Brett als Schreibunterlage.
»Dann lasst uns an die Arbeit gehen!«, drängte Bertrand Gisquet, als fürchtete er, der Tod könne ihn noch vor Beendigung der Skizzen ereilen und Leonie um die dreihundert Sous bringen. »Es gibt viel aufzuzeichnen und zu erklären!«
Zweimal klopfte Leonie an die Tür und fragte besorgt, was die beiden Herren bloß so lange bei ihrem Vater wollten. Worauf dieser ihr jedes Mal zurief, sie möge sich keine Sorgen machen, es habe schon alles seine Richtigkeit und es gehe ihm gut.
Aufmerksam verfolgten Gerolt und Maurice, wie Bertrand Gisquet ein Pergament nach dem anderen mit Zeichnungen bedeckte und an manchen Stellen kurze Anmerkungen hinkritzelte, die auf ein abgeschlossenes Gitter hinwiesen, die Wachstuben der Wärter und Soldaten markierten, den Ort der Folterkammer kennzeichneten, den Gang mit den Einzelzellen hervorhoben und anderes mehr. Stockwerk für Stockwerk ging er mit ihnen durch, immer wieder von schweren Hustenanfällen unterbrochen, bei denen er Blut in sein Tuch spuckte. Aber nichts konnte ihn abhalten, seine Aufgabe gewissenhaft zu erfüllen und sie auf alle Gefahren aufmerksam zu machen, die jemanden erwarteten, der sich unbefugt Zugang zu den Gefangenen verschaffen wollte. Nichts sollte ihn und vor allem Leonie um die kostbaren dreihundert Sous bringen.
Schließlich war alles aufgezeichnet und alles gesagt, was er ihnen mit auf den Weg geben konnte.
»Ich kenne Euch nicht, meine Herren«, sagte er zum Abschied erschöpft, aber mit einem Ausdruck inneren Friedens auf dem ausgezehrten, knochigen Gesicht. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass ich recht daran getan habe, Euch all das aufzuzeichnen und anzuvertrauen. Es wird Euch eine Hilfe sein. Aber denkt daran: Für einen schlauen Kopf, der auch noch über beachtliche Gelder verfügen kann, ist es nicht sonderlich schwer, in das Chatelet zu kommen. Doch es auch mit einem Gefangenen wieder zu verlassen, das wird Euch vor große, fast unlösbare Probleme stellen. Ich halte es für unmöglich. Dennoch: Ich wünsche Euch Glück für Euer gewagtes Vorhaben und seid bedankt, dass ich nun in Frieden aus dem Leben gehen kann! Gott, der Beistand der seligen Jungfrau und alle Engel mögen mit Euch sein! . . . Ihr werdet sie brauchen!«