Der Himmel über Paris war wolkenverhangen, aber zumindest hatte der heftige Regen in den Nachtstunden aufgehört. Hier und da wagte sich sogar ein wenig Sonne durch vereinzelte Löcher in der Wolkendecke.
Ein Stück oberhalb der Petit Pont hockten die drei Gralshüter mit Raoul am linken Ufer der Flussinsel. Schräg hinter ihnen erhob sich die ehrfurchtsgebietende Kathedrale Notre-Dame in den grauen Novemberhimmel.
Ihre Aufmerksamkeit galt jedoch einzig und allein dem trutzigen, dreistöckigen Gefängnisbau, der vor ihren Augen jenseits des Flussarmes am linken Seineufer und dort unmittelbar über den eisigen Fluten aufragte. In dem nach Osten weisenden, abgerundeten Teil des dreistöckigen Gebäudes war ein spitz gewölbtes Torhaus eingelassen, dessen tiefer Durchgang unter dem Gefängnis hindurch und direkt auf die beidseitig mit schmalen Giebelhäusern bebaute Brücke über den Fluss führte.
Keinem von ihnen war nach Essen zumute. Doch um vorzutäuschen, sich hier am Ufer zu einer kleinen Stärkung niedergelassen zu haben, schnitten sie gelegentlich ein Stück von dem mitgebrachten Brot und Wildschweinschinken ab und kauten darauf herum.
Sie hatten die halbe Nacht im Au Faisan Doré damit verbracht, die Zeichnungen zu studieren, die der schwindsüchtige Bertrand Gisquet angefertigt hatte. Nun galt es, diese Planskizzen eine nach der anderen mit dem vor ihnen liegenden Gebäude in Einklang zu bringen und sich all das räumlich vorzustellen, was bis dahin nur krakelige Federstriche auf teurem Pergament gewesen waren.
»Das dort muss das Gangfenster sein, das dem Kerker, in dem Tarik einsitzt, am nächsten liegt«, sagte Maurice leise und deutete verstohlen auf das vergitterte Fenster, das am nordwestlichen Ende des Gefängnisses und hoch über dem Fluss in das dicke Mauerwerk eingelassen war.
»Und darüber befindet sich der Trakt mit den Einzelzellen«, fügte Gerolt hinzu.
Mit finsterer Miene starrte McIvor über den Fluss. »Ich wünschte, wir könnten wenigstens einige unserer Ordensoberen befreien!« »Das könnt ihr gleich vergessen!«, sagte Raoul sofort. »Denn da oben werden die Gefangenen noch strenger bewacht als unten in den Gemeinschaftszellen. Da sind gleich mehrere verriegelte Trenngitter zu überwinden. Nein, das wäre glatter Wahnsinn und der sichere Tod, Freunde!«
Gerolt nickte. »Recht hast du. Also konzentrieren wir uns erst einmal auf die wichtigste Frage, nämlich wie wir es schaffen, in das Gefängnis zu gelangen und dann durch all die Gänge und verschlossenen Gittertüren bis zu Tariks Kerkerzelle.«
Maurice spuckte ein Stück Sehne aus. »Da fallen mir gleich drei Möglichkeiten ein. Erstens könnten wir versuchen, irgendeine wichtige Persönlichkeit der Inquisition als Geisel zu nehmen und sie dazu zwingen, uns überall Zugang zu verschaffen.«
Maurice schüttelte den Kopf. »Zu riskant, nicht nur was den Überfall auf solch eine Person betrifft. Außerdem würde es uns vermutlich viele Tage kosten, um erst einmal auszukundschaften, wen wir da als Geisel nehmen könnten.«
»Das sehe ich auch so«, stimmte ihm Gerolt zu.
»Dann bleiben noch zwei andere Möglichkeiten«, fuhr Maurice fort. »Wir könnten uns als königliche Kommissare ausgeben, indem wir uns die entsprechende Kleidung verschaffen und vor den Wachen ein gefälschtes Dokument als Legitimation vorweisen.«
»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, sagte Raoul. »Aber es würde nicht funktionieren, auch wenn es nicht allzu schwierig sein sollte, an ein gefälschtes Dokument zu kommen. Paris hat genügend zwielichtige Gestalten zu bieten, die einem alles beschaffen können, wie verrucht es auch sein mag. Aber wir würden auf der Stelle Verdacht erregen, wenn wir als königliche Kommissare verlangen, zu einem Gefangenen geführt zu werden. Denn mittlerweile weiß doch jeder noch so einfältige Wachmann oder Kerkerknecht, dass Verhöre nur in Anwesenheit von Vertretern der Inquisition geführt werden dürfen. Das ist der eine Haken . . .«
»Wir könnten vorgeben, gar kein Verhör vorzunehmen, sondern nur die Identität eines gewissen Gefangenen überprüfen zu wollen«, wandte Maurice ein. »Da wird uns schon noch eine überzeugende Geschichte einfallen, etwa dass sich gewisse hohe Ordensobere als einfache Ritter oder gar Servienten ausgegeben haben sollen, um unerkannt und von der Tortur verschont zu bleiben.« McIvor nickte. »Klingt nicht schlecht. Das hat Hand und Fuß, wenn ihr mich fragt.«
»Das mag sein«, räumte Raoul ein. »Aber das viel größere Problem bei der Sache wird es sein, an die Kleidung von zwei oder gar drei königlichen Kommissaren zu kommen.«
»Aber hast du nicht eben erst gesagt, in Paris könne man sich alles besorgen, wie verrucht es auch sein mag?«, erinnerte ihn McIvor stirnrunzelnd.
»Stimmt ja auch«, erwiderte Raoul. »Aber solche Sachen kann man bei all dem Zierrat, der dazugehört, nicht einfach über Nacht schneidern. Auch müssen die besonderen Gürtel, Stiefel und Hüte besorgt werden. Das kann dauern.«
»Wie lange?«, fragte Gerolt knapp.
Raoul zuckte die Achseln. »Fünf Tage, vielleicht eine Woche. Kommt ganz darauf an, ob ich jemanden ausfindig machen kann, der gute Verbindungen zu einem bestechlichen Mann in der entsprechenden Kleiderkammer hat.«
»Unmöglich!«, kam es sofort von Maurice und Gerolt wie aus einem Mund.
McIvor nickte. »Nein, so viel Zeit haben wir nicht!«
»Dann bleibt uns meines Erachtens nichts anderes übrig, als uns als Dominikanerpatres auszugeben, die ja dort auch ein- und ausgehen«, kam Maurice zu der dritten Möglichkeit.
»Der Vorschlag gefällt mir schon erheblich besser«, sagte Gerolt. »An den Habit der Dominikaner wird leicht heranzukommen sein! Und dann können wir auch die Geschichte verwenden, die Maurice sich gerade als Grund unseres Besuches ausgedacht hat.«
»Niemand wird mir abnehmen, ein Mönch zu sein«, brummte McIvor missmutig, der schon fürchtete, auch diesmal von der Unternehmung ausgeschlossen zu werden, und das gefiel ihm gar nicht.
Sein Einwand blieb jedoch unbeachtet. Denn Raoul wandte sofort ein: »Aber dann muss dein frecher Bart am Kinn fallen, wenn du mit von der Partie sein willst, Maurice! Denn kein Mönch läuft so herum.«
Maurice winkte mit einem breiten Grinsen ab. »Und wennschon! Haare wachsen nach, treue Freunde nur ganz selten! Tarik ist mir mehr wert als mein Bart!«
»Und wie sieht es mit der Tonsur aus, die wir uns dann auf dem Kopf rasieren müssen?«, wollte Raoul wissen.
Für einen kurzen Moment herrschte verdutztes Schweigen.
»Uns gegenseitig eine Tonsur verpassen zu müssen, ist zwar wirklich keine erhebende Vorstellung«, sagte Gerolt dann. »Aber wenn es nicht anders geht, muss es eben sein.«
»Vielleicht geht es auch ohne eine Verschandelung unserer edlen Häupter, obwohl einer von uns dabei gar nicht so viele Haare zu verlieren hätte«, sagte Maurice mit einem spöttischen Seitenblick auf den recht kahlen Schädel von McIvor. »Wir könnten doch versuchen, die Haare irgendwie so einzufärben, dass es wie eine Tonsur aussieht, und die Kapuzen einfach auflassen. Zudem wird das Licht schon schlecht sein, denn wir sind uns doch darüber einig, dass wir Tarik bei Einbruch der Dunkelheit befreien wollen, damit wir bei unserer Flucht den Schutz der Nacht auf unserer Seite haben.«
Gerolt pflichtete ihm bei. »Ich bin auch dafür, dass wir uns – mit oder ohne Tonsur – als Dominikanermönche ausgeben. Zumal es bestimmt auch weniger Schwierigkeiten und Gefahren mit sich bringen wird, sich ein falsches Siegel des örtlichen Klosters zu besorgen als das eines der königlichen Kommissare.«
Sie beredeten die Idee noch eine ganze Weile und kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass sie es so und nicht anders versuchen wollten. Alle anderen Ideen erwiesen sich untauglich, weil sie mit viel höheren Risiken behaftet waren oder weil ihre Umsetzung viel zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte.
»Wie wir ins Gefängnis reinkommen wollen, hätten wir also geklärt«, sagte Maurice und fuhr sich mit der Hand unwillkürlich über das Kinn, dessen Zierde schon bald unter dem Rasiermesser fallen würde. »Aber jetzt müssen wir die verdammt harte Nuss knacken, wie wir da bloß wieder lebend herauskommen wollen! Erinnere dich nur, was uns der alte Bertrand Gisquet beim Abschied gesagt hat, Gerolt.«
»Er mag es für unmöglich halten, doch wir werden einen Weg finden«, erwiderte Gerolt. »Wir müssen einfach!«
»Wir müssen aber auch damit rechnen, dass Tarik nach den Wochen im Kerker nicht mehr die Kraft hat, sich allein auf den Beinen zu halten«, merkte McIvor an. »Er dürfte mittlerweile schon recht verdreckt und zerlumpt sein. Auch können wir nicht ausschließen, dass er . . . von der Folter gezeichnet ist!«
Die Erwähnung der Folter brachte harte Mienen auf die Gesichter der Männer.
»McIvor hat wohl leider recht«, sagte Raoul besorgt. »Es dürfte unmöglich sein, einen geschwächten, verdreckten und gar von der Folter gezeichneten Mann unbehelligt aus dem Gefängnis zu schleppen, ohne dass man uns schon bei den ersten Wachen aufhält. Und heimlich noch Schwerter mitzubringen und dann mit Gewalt ausbrechen zu wollen, darüber brauchen wir wohl erst gar nicht zu reden.«
Niemand widersprach ihm. Sie alle kannten die Zeichnungen des Bertrand Gisquet und wussten, dass ein gewaltsamer Ausbruchsversuch nicht den Hauch einer Chance auf Erfolg besaß.
»Pest und Krätze über alle, die uns Templern ans Zeug wollen! Und ob uns das gelingt, Freunde!«, stieß McIvor plötzlich hervor und ließ dabei seine Prankenfaust auf seinen Oberschenkel niedersausen. »Ja, schaut mich nicht so entgeistert an! Auch Schotten haben Grips im Kopf! Ich sage euch, wir werden aus dem verfluchten Kasten da drüben ausbrechen – und zwar buchstäblich!«