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Seit dem Nachmittag ging wieder ein hartnäckiger Nieselregen über Stadt und Land nieder und wohl nur die beiden Dominikanermönche, die im letzten Licht des grauen Tages mit hochgeschlagener Kapuze auf das Petit Chatelet zustrebten, hielten das miserable Wetter für ein wahres Gottesgeschenk.

Wer ihnen auf ihrem Weg begegnete, brauchte nur einen kurzen Blick auf die beiden rundlichen Gottesmänner zu werfen, um zu wissen, dass es sich bei ihnen um Dominikaner von Rang und Namen handelte. Zwar trugen auch sie den schlichten, schwarz-weißen Habit des Ordens. Aber ihren Kutten war anzusehen, dass sie aus feinstem Tuch gearbeitet waren und nicht aus dem rauen Stoff, den einfache Mönche gewöhnlich trugen. Auch der Strick, den sie um ihre füllige Leibesmitte gebunden hatten, war nicht aus billigen Hanfsträngen gedreht, sondern bestand aus edelster, seidiger Kordel. Und was bei ihrem Anblick schon aus einiger Entfernung ins Auge stach, war das Kruzifix, das bei jedem der beiden Mönche über der Brust die Kutte schmückte. Statt eines schlichten Holzkreuzes trugen sie um den Hals eine kostbare Goldkette, an deren Ende ein prachtvolles Kruzifix aus massivem Gold hing, wie man es nur bei hochrangigen Ordensmitgliedern von adligem Geschlecht sah.

Diese beiden teuren Kreuze beschäftigten Maurice gerade, als sie über die Brücke Petit Pont kamen und auf den Tordurchgang des Gefängnisses zuhielten. »Hoffentlich bekommen wir später bei einem Schmuckhändler auch nur annähernd das wieder, was wir für die Kruzifixe bezahlt haben«, sagte er. »Wir haben in den letzten beiden Tagen eine Menge Geld ausgegeben. Viel ist uns von deiner goldgefüllten Keule nicht mehr geblieben!«

»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Gerolt ebenso leise. »Ich mache mir im Augenblick ganz andere Sorgen, nämlich ob Raoul und McIvor auch mit dem alten Lastkahn zurechtkommen werden. Und ob nachher die Winde die Belastung aushält!«

»Die beiden werden den Kahn schon nicht auf Grund setzen!«, sagte Maurice zuversichtlich. »Und oben vom Kai am Ende der Rue de Bievre ist es doch bis zum Gefängnis nur ein kurzes Stück den Flussarm hinunter. Was soll da also mit so einem trägen Kahn schon groß passieren?«

Dazu fiel Gerolt mehr ein, als ihm selber lieb war. »Sie könnten die Geschwindigkeit des Lastkahns falsch einschätzen, den Anker zu spät auswerfen oder mit einer unbedachten Ruderdrehung den Kahn zu weit vom Ufer bringen.«

»Ach was, das kriegen sie schon hin! Sie wissen, was auf dem Spiel steht und dass Tarik und auch wir verloren sind, wenn sie einen Fehler machen«, beruhigte Maurice ihn, blieb im Tordurchgang stehen und hob kurz seine Kapuze an. »Und jetzt sag mir lieber, ob mein hübscher Mönchsdeckel noch an Ort und Stelle sitzt.«

Gerolt warf einen schnellen Blick auf das flache Käppchen aus schwarzem Filz, das sie beide auf ihrem Kopf trugen und mit Nadeln festgesteckt hatten. Was der Volksmund spöttisch und respektlos als »Mönchsdeckel« bezeichnete, trugen die Ordensleute im Winter über der Tonsur, um ihre kahlen Köpfe in den eisigen Mauern ihrer Klöster vor der Kälte zu schützen. Maurice und er hatten nach reiflicher Überlegung beschlossen, sich nicht die Köpfe zu rasieren, sondern sich nur etwas größere Käppchen zu besorgen, die das Fehlen der Tonsur gut verbargen. Der pechschwarze Kinnbart von Maurice hatte jedoch dran glauben müssen. »Sitzt alles prächtig an Ort und Stelle.«

»Bei dir auch.« Maurice atmete noch einmal tief durch. »Also dann, wagen wir uns in die Höhle des Löwen, mein Freund. Gebe Gott, dass wir nichts unbedacht gelassen haben und gleich ein Rädchen ins andere greift.«

Gerolt nickte stumm.

Augenblicke später traten sie mit gewichtiger Miene und gemessenen Schrittes, wie es selbstgefällige und hochwohlgeborene Ordensmänner gemeinhin an sich hatten, aus dem Tordurchgang und wieder hinaus in den Regen, der stärker geworden war. Das kleine, vorspringende Wachhaus mit dem spitzen Giebeldach vor dem Eingang des Gefängnisses wirkte vor der hohen dunkelgrauen Fassade wie ein unpassendes, nachträglich hinzugefügtes Anhängsel, dessen zwergenhafte Proportionen in keinem Verhältnis zum Rest des trutzigen Gebäudes standen.

Zwei Wachsoldaten mit den Milchgesichtern frischer Rekruten hatten in dem Vorbau Schutz vor dem Regen gesucht und traten dort missmutig von einem Bein auf das andere, um sich ein wenig warm zu halten. Als sie die beiden Dominikanermönche kommen sahen, nahmen sie jedoch Haltung an, richteten ihre Spieße auf und stellten sich, wie es die Vorschrift verlangte, in den Eingang.

»Was ist Euer Begehr?«, sprach einer der Wachsoldaten, der runde Pausbacken hatte, Gerolt und Maurice an.

»Gott zum Gruße, mein Sohn! Und möge der Barmherzige Euch bald eure Ablösung schicken, denn ihr seht mir kalt von langem Wachdienst aus«, antwortete Maurice mit salbungsvoller Stimme. »Da sagt Ihr was«, brummte der andere und sein Blick richtete sich mit kurzem, neidvollem Blick auf das schwere goldene Kruzifix, mit dem Maurice scheinbar gedankenlos spielte. »Aber sagt, wer seid Ihr und wie können wir Euch Herren zu Diensten sein?«

»Maurice von Beauvais, Visitator unseres ehrwürdigen Ordens«, stellte sich Maurice mit nasalem, leicht herablassendem Tonfall vor. »Und wen ihr an meiner Seite seht, das ist mein getreuer Adlatus, der Subprior Antoine von Chartres. Wir stehen im Dienst der heiligen Inquisition und kommen in Erfüllung eines wichtigen Auftrags, der keinen Aufschub duldet.«

»Wenn die ehrwürdigen Herren gekommen sind, um eine Befragung vorzunehmen . . .«, setzte der pausbäckige Soldat etwas zögerlich zu einem Einwand an.

»Es geht nicht um ein Verhör, mein Sohn! Mit diesem gottgefälligen, aufopferungsvollen Dienst in der unerbittlichen Niederringung der Ketzerei haben wir und der Großinquisitor von Frankreich andere, sehr fähige und glaubensfeste Ordensbrüder beauftragt«, schnitt Maurice ihm mit einem leichten Anflug von Ungeduld das Wort ab. »Wir wollen nur die wahre Identität eines inhaftierten Templers von Rang überprüfen, der uns vom Ansehen her bekannt ist und der hier unter dem Namen eines anderen, gänzlich unbedeutenden Servienten wohl glaubt, der peinlichen Befragung entgehen zu können. Hier, lest selbst!« Damit zog er nun das Dokument mit dem gefälschten Ordenssiegel hervor, rollte das Pergament aus und hielt es ihm hin.

Die beiden Wachen schenkten dem Dokument so gut wie keine Beachtung. Vermutlich waren sie des Lesens auch gar nicht fähig. »Darüber haben wir nicht zu befinden, hochwürdige Herren«, sagte der Pausbäckige. »Ihr wendet Euch mit Eurem Anliegen besser an Hubert Corberon. Er ist der Obermeister des Kerkers und wird wissen, was zu tun ist. Kommt, ich bringe Euch zu ihm!«

Maurice schenkte ihm ein huldvolles Nicken. »So geht denn voran, guter Mann, und weist uns den Weg!« Und als der Wachsoldat sie nun ins Gefängnis führte, warf er Gerolt einen triumphierenden Blick zu.

Gerolt antwortete darauf mit einem knappen Nicken. Auch er war erleichtert, dass sie das erste Hindernis erfolgreich überwunden hatten. Aber die beiden noch sehr unerfahrenen Wachen mit ihrem Auftreten und ihrer Erscheinung zu täuschen und zumindest erst einmal eingelassen zu werden, war wohl auch der leichteste Teil ihres Unternehmens. Bevor sie zu Tarik gelangen konnten, warteten bestimmt noch viel höhere und schwerer zu nehmende Hürden auf sie.

Doch zu ihrer großen Verwunderung war dem ganz und gar nicht so. Auch die nächsten Wachen, an die der Pausbäckige sie in der Eingangshalle weiterreichte und die schon mehr Dienstjahre im Wachregiment aufzuweisen hatten, unterzogen sie keiner scharfen Prüfung. Die Erklärung ihres Kameraden, dass es sich bei den Dominikanern um den hochgestellten Visitator des Ordens und um den ehrwürdigen Subprior Antoine von Chartres handelte, nahmen sie ohne Nachfragen für bare Münze.

Wenig später standen Maurice und Gerolt dann in der großen Wachstube vor Hubert Corberon. Der Obermeister der Wärter, ein grobschlächtiger Mann mit dem breiten Kreuz eines Ochsen, hatte sich gerade von einem seiner Kerkerknechte als Abendessen einen Krug Bier und einen Topf dicker Graupensuppe mit vielen Wurststücken bringen lassen. Er ließ sich nur ungern beim Essen stören und zeigte auch keinerlei Interesse daran, das Dokument der beiden hochrangigen Dominikaner zu studieren. Dass sie vor ihm standen, war für ihn Beweis genug, dass die Wachsoldaten ihre Aufgabe getan hatten und alles seine Richtigkeit hatte. »So, Ihr wollt also einen Blick auf diesen Tarik el-Kharim werfen, der wohl gar nicht so heißt«, sagte er mit vollem Mund und nickte grimmig. »Das erklärt einiges! Der Kerl hat schon vor einigen Tagen für Schwierigkeiten gesorgt. Der Inquisitor hätte ihn besser gleich auf die Folter binden lassen. Nun, das lässt sich ja leicht nachholen. Ich werde mir gleich eine entsprechende Notiz auf die Tafel machen.«

Dann rief er herrisch über die Schulter in den Gang hinaus: »Tennard! . . . Tennard, wo steckst du? Beweg gefälligst deinen faulen Arsch her!« Und mit einem schiefen Lächeln zu Maurice und Gerolt hin fügte er hastig hinzu: »Verzeiht, aber eine andere Sprache verstehen diese Burschen nicht. Ihr wisst gar nicht, mit was für groben Kerlen sich jemand wie ich tagtäglich plagen muss, um für Zucht und Ordnung hier im Chatelet zu sorgen!«

Maurice nickte verständnisvoll. »Ja, die Welt ist des Teufels und voller Plagen, guter Mann. Aber der Herr, gelobt sei seine Barmherzigkeit, wird Euch am Tage des Jüngsten Gerichts gewiss alles vergelten, was Ihr hier im Dienste unseres Königs und unserer heiligen Mutter Kirche auf Euch genommen habt«, versicherte er ebenso huldvoll wie hintersinnig.

»Ja, Lob und Preis seinem gerechten Urteil!«, ergänzte Gerolt und schlug mit frommer Miene das Kreuz, während er in Gedanken hinzufügte: Möge Gott dich für all deine Grausamkeiten und Untaten, die du auf dem Gewissen hast, mit dem ewigen Fegefeuer strafen! Im nächsten Moment erschien der glubschäugige Wärter in der Tür der Wachstube. »Ihr habt mich gerufen, Obermeister Corberon?«, fragte er beflissen und beäugte die beiden hochgestellten Ordensmänner.

»Führe die beiden Abgesandten des Großinquisitors zu diesem verschlagenen Templer Tarik el-Kharim!«, befahl ihm Hubert Corberon barsch. »Sie wollen nur einen Blick auf ihn werfen und sich davon überzeugen, ob er derjenige ist, als der er sich ausgibt.« Der Wärter öffnete den Mund, vielleicht weil er einen Einwand vorbringen wollte.

Aber das unterband der Obermeister sofort. »Was stehst du da noch herum?«, blaffte er ihn an. »Hast du was auf den Ohren, Tennard? Na los, tu endlich, was ich dir aufgetragen habe. Aber ein bisschen flott! Die hohen Herren werden Besseres zu tun haben, als sich die Zeit hier bei uns zu vertreiben!«

»Sehr wohl!«, beeilte sich Tennard nun zu sagen, wandte seinem obersten Vorgesetzten mit rotem Kopf rasch den Rücken zu, holte eine brennende Pechfackel und bat Gerolt und Maurice dann unterwürfig, doch bitte die Güte zu haben, ihm zu folgen.

Wortlos und mit herablassender Huld nickten sie ihm zu. Doch der gleichmütige Ausdruck auf ihren Gesichtern täuschte, als sie nun im Schein der Fackel immer tiefer in den Gefängnisbau vordrangen. Ihr Herz schlug schneller, als der Wärter sie eiligen Schrittes durch finstere Gänge und dann hinauf in das nächste Stockwerk führte. Sie passierten auf ihrem Weg zwei weitere Wachposten. Ein schweres Eisengitter nach dem anderen schloss er ihnen auf. Und jedes Mal machte er eine tiefe Verbeugung, wenn er sie durch die Tür ließ.

Schließlich kamen sie hinter einem rechtwinkligen Knick zu einem weiteren, letzten Sicherheitsgitter. Am Ende der Treppe erstreckte sich ein sehr kurzer Gang, der vor einer Wand mit einem vergitterten Fenster endete.

»So, hier ist der Kerker, in dem der verfluchte Hund von einem Templer mit seinen Ketzerbrüdern einsitzt!«, sagte Tennard und steckte die Fackel in den Mauerring neben der Gitterwand. »Ich werde ihn zu Euch ans Gitter rufen!«

»Das wird nicht nötig sein!«, erwiderte Maurice, der vorher schon seine rechte Hand unter die Kutte geschoben und in der Polsterung seiner falschen Leibesrundung ein kurzes Schlagholz gelockert hatte. Und diesen Prügel riss er nun unter dem Habit hervor und zog dem Wärter das Ende hart über den Hinterkopf. Wie ein gefällter Baum sackte Hugo Tennard in sich zusammen und blieb bewusstlos auf den Steinplatten liegen.

Sofort bückte sich Gerolt zu dem besinnungslosen Wärter hinunter und nahm ihm das Schlüsselbund ab. Dabei rutschte ihm die Kapuze vom Kopf.

Jetzt kam ein erstickter Aufschrei aus dem Kerker. »Gerolt? . . . Bist du es wirklich?«, stieß Tarik hervor, sprang auf die Füße und stürzte zusammen mit den anderen Gefangenen ans Gitter. »Mein Gott, da ist ja auch Maurice! Fast hätte ich dich ohne deinen Ziegenbart nicht erkannt! Dick seid ihr geworden! . . . Männer, es sind meine Freunde! Tempelbrüder wie wir! . . . Allmächtiger, träume ich das nur oder ist es wirklich wahr, dass ihr uns hier herausholen kommt?«

Maurice streifte sich nun auch die Kapuze vom Kopf. »Wenn du mir nicht wieder mit deinem verdammten Koran kommst, Levantiner, bin ich gern bereit, dich die köstliche Luft der Freiheit schnuppern zu lassen!«, rief er ihm zu. »Siehst aus, als könntest du eine gute Prise davon vertragen!«

Gerolt hielt sich derweil nicht lange mit Reden auf, sondern suchte nach dem Schlüssel, der in das Schloss passte. Schnell hatte er den richtigen gefunden und sperrte die Gittertür auf. Jetzt galt es, keine Zeit zu verlieren!