Die Stunden des Wartens wurden McIvor lang. Doch dann, um die Mittagszeit herum, kehrten seine Freunde wie versprochen zu ihm zurück ins Au Faisan Doré. Auf Maurice, der als Letzter eintraf und einen sehr gedankenversunkenen Eindruck machte, mussten sie jedoch erst noch eine Weile warten. Dann jedoch konnten sie einander berichten, was sie auf ihren Streifzügen auf der rechten Flussseite in Erfahrung gebracht hatten. Und Raoul hatte einmal mehr genug Feingefühl, um sie bei dieser Unterredung allein zu lassen.
Maurice, Gerolt und Tarik stellten schnell fest, dass sie in dem Viertel östlich des Templerbezirks in den Schenken und Gassen und auch aus dem Mund eines jungen Priesters in etwa dieselben Geschichten über das Maison Madame Valois und seine Besitzerin zu hören bekommen hatten.
»Das Magdalenenhaus genießt einen makellosen Ruf, daran dürfte es wohl keinen Zweifel geben. Es ist eine wirklich gottgefällige, wohltätige Einrichtung, die von der Witwe Geneviève Valois zwar mit strenger Hand, aber auch mit großer Hingabe für die gute Sache geführt wird«, fasste Gerolt schließlich die Beiträge der Freunde zusammen.
»Und was hat es mit ihrer Schrulligkeit auf sich, von der du vorhin gesprochen hast?«, wollte McIvor wissen. »Auch Tarik hat etwas von reichlicher Verschrobenheit und Aberglauben bei dieser Frau erwähnt.«
»Nun, einerseits wird diese sehr resolute Ratsherrnwitwe für ihre Frömmigkeit und Barmherzigkeit von den Leuten in ihrem Viertel hoch geachtet, doch andererseits macht man sich auch ein wenig über ihre abergläubischen Marotten lustig«, teilte Tarik ihm mit und die anderen nickten dazu.
Gespannt beugte sich McIvor vor. »Erzählt!«
»So soll sie keine Frau in ihrem Heim aufnehmen, die schielt, weil sie ja vielleicht den bösen Blick haben könnte. Und wer eine Warze auf der Stirn, einen Stelzfuß oder rote Haare hat, der kommt bei ihr auch nicht unter. Solche Frauen dürfen bei ihr nicht mal über die Türschwelle, weil sie fürchtet, sie könnten sich als Hexen entpuppen. Sie schickt sie mit einem kleinen Handgeld schnell weg und zu einem anderen Heim.«
»Vergiss nicht zu erzählen, dass bei ihr keiner mit dem linken Fuß zuerst ins Haus treten darf!«, warf Maurice mit breitem Grinsen ein. »Und vergiss nicht ihre Angst vor Geisterwesen und die endlos langen Betstunden bei Vollmond!«
Fragend blickte McIvor in die Runde.
Gerolt erklärte es ihm, denn auch ihm hatte man davon erzählt. »Also bei Vollmond werden alle Schlagläden im Wohnturm und im Heim dicht verschlossen, mit Weihwasser besprengt und mit einem Kreidekreuz versehen. Und dann müssen sich all ihre Schäflein eine Stunde vor Mitternacht im großen Esszimmer des Heims versammeln und gemeinsam mit ihr Gebete sprechen – und zwar bis das erste Tageslicht am Himmel zu sehen ist.«
»Heiliges Gralsschwert! Da soll noch mal einer sagen, die Iren und die Schotten wären so abergläubisch wie kein anderes Volk!«, rief McIvor und wusste nicht, ob er über den Aberglauben der Witwe Valois schallend lachen oder bestürzt sein sollte. »Was muss die arme Frau für eine Furcht vor bösen Geistern, Hexen und Schimären haben!«
»Leider ist die Welt wahrlich nicht frei von Teufelsknechten und auch von Frauen, die sich dem Bösen mit Leib und Seele verschrieben haben«, sagte Gerolt düster. »Nur weiß diese Frau nicht, dass es keine Geister, sondern Menschen sind, die sich Judasjünger nennen und nicht erst auf Vollmondnächte warten müssen, um ihr teuflisches Werk zu verrichten!«
»Richtig«, sagte Maurice und fuhr dann mit einem belustigten Funkeln in den Augen fort: »Aber seien wir froh, dass die Witwe Valois so abergläubisch ist. Denn das werden wir prächtig zu nutzen wissen, um uns heute noch Zugang zu ihrem Wohnturm zu verschaffen – und zwar ohne jede Gewaltanwendung und ohne der guten Frau irgendwie Schaden zuzufügen! Zu dumm nur, dass wir unsere Mönchskutten nicht unbeschadet aus dem Gefängnis mitnehmen konnten. Aber neue sind ja schnell beschafft und die beiden herrlichen Kruzifixe sowie die Kordeln haben wir gottlob noch nicht verkauft. Freunde, ich stelle mir unseren Besuch bei der Witwe Geneviève folgendermaßen vor . . .«