Der quadratische, dreistöckige Turm der Ritter, der zur Zeit seiner Errichtung noch auf freiem Feld gestanden hatte, wirkte mit seinem trutzigen Mauerwerk aus dicken, schiefergrauen Steinquadern und den wenigen Fensterschlitzen in dem längst mit Wohnhäusern zugebauten Gelände wie ein zu Stein gewordener Wachposten. Er erhob sich ein gutes Stück über die schmalen, umliegenden Häuser mit ihren spitzen Giebeldächern und fing mit seiner zinnenbewehrten Krone das Abendlicht ein. Das sich an der westlichen Seitenwand anschließende Gebäude, das der Kaufmann und Ratsherr Laurent Valois hatte erbauen lassen und das nach seinem Tod zu einem Magdalenenheim geworden war, schien sich trotz aller Geräumigkeit wie unterwürfig und um Schutz suchend an den kantigen Turm zu schmiegen. Eine mannshohe Mauer umschloss seinen Vorhof und hielt die einfachen Behausungen, die sich um das Anwesen drängten, auf ein Mindestmaß respektvoller Distanz, wie es ein vermögender Kaufmann und Mitglied des hohen Rates erwarten konnte.
Gerolt, Tarik und Maurice schritten im Habit von Dominikanermönchen durch das offen stehende Tor der Umfriedung und standen Augenblicke später auf dem Treppenabsatz vor der dunklen Eichentür des Wohnturms.
»Lasst uns zu Gott beten, dass wir ihren Aberglauben nicht überschätzt haben und sie uns auch wirklich auf den Leim geht«, flüsterte Gerolt. Im Notfall blieb ihnen zwar immer noch die Möglichkeit, sie zu überwältigen und sich auf diese Weise ungehinderten Zugang zu den Kellerräumen des Wohnturms zu verschaffen. Aber es widerstrebte ihnen, einer so aufrichtig frommen und wohltätigen Frau Gewalt anzutun.
»Keine Sorge, sie wird!«, raunte Tarik zuversichtlich zurück, während Maurice den bronzenen Türklopfer betätigte, der einen Löwenkopf darstellte. »Du weißt doch: Mit süßen Worten, Sanftmut und Freundlichkeit führt man selbst einen Elefanten an einem Haar!«
»Aber übertreib es bloß nicht, Maurice!«, ermahnte Gerolt seinen Freund.
»Ich werde dem wohlmeinenden Rat meines geschätzten Adlatus und Subpriors die ihm gebührende Beachtung gewiss nicht versagen«, erwiderte Maurice leise und salbungsvoll.
Sie hörten, wie auf der anderen Seite des Portals zwei schwere Riegel zurückgezogen wurden. Die Tür öffnete sich und vor ihnen stand Geneviève Valois.
Die Betreiberin des Magdalenenheims, die am Ende ihres fünften Lebensjahrzehnts stehen musste, war von recht breithüftiger und stämmiger Statur. Witwenschwarz und ohne jede Zier war ihr knöchellanges Kleid, das die Schneiderin schlicht im Schnitt, aber aus feinem Tuch gearbeitet hatte. Dasselbe galt für die schwarze Haube, die sie als Kopfbedeckung trug. Nur wenig lugte unter dem schwarzen, steifen Stoff von den eisengrauen Zöpfen hervor, zu denen ihr Haar geflochten und als strenger Stirnkranz hochgesteckt war. Darunter zeigte sich ein fülliges Gesicht mit lebhaften Augen und klaren energischen Zügen.
Sichtlich überrascht, drei Dominikanermönche vor ihrer Tür zu sehen, und das auch noch so kurz vor Einbruch der Nacht, ging ihr Blick rasch von einem zum anderen. Sie taxierte die drei Männer mit dem scharfen Augenmaß einer Frau, die geübt darin war, sich ein schnelles und zumeist sehr zutreffendes Bild von fremden Personen zu machen. Deshalb erfasste sie auch mit einem Blick die kostbaren goldenen Kruzifize, die an den seidigen Hüftkordeln baumelten, und das feine Material ihrer Kutten. All das ließ scheinbar darauf schließen, dass sie es mit hochgestellten Persönlichkeiten des Ordens zu tun hatte. Die etwas zu groß geratenen flachen Käppchen auf den Köpfen der drei vorgeblichen Gottesmänner fielen ihr nicht ins Auge. Denn die Männer hielten sich aufrecht und erhobenen Kopfes, wie es Abkömmlingen hochadligen Geschlechts schon im Kindesalter anerzogen wurde.
»Gott zum Gruße, werte Frau Valois! Und möge Gottes reicher Segen allzeit auf Euch und Eurem Heim der Barmherzigkeit ruhen!«, grüßte Maurice mit wohlgesetzten Worten, die von einem Mann seines Ranges und Namens erwartet werden durften. Gleichzeitig gab er ihr mit seiner Begrüßung auch zu verstehen, dass sie gut über sie und ihr Heim unterrichtet waren und aus triftigem Grund vor ihrer Tür standen.
Sie dankte ihm für seine segensreichen Worte mit einem freundlichen Lächeln und fragte dann zuvorkommend, welchem Anlass sie denn die Ehre solch hohen Besuchs zu dieser Abendstunde verdankte.
»Erlaubt erst einmal, dass ich Euch meine Begleiter und mich vorstelle. Denn dann werdet Ihr auch gleich besser verstehen, welch dringliche Aufgabe es unvermeidlich gemacht hat, Euch zu so unziemlicher Abendstunde aufzusuchen und Eure verdiente Ruhe zu stören«, sagte Maurice und gab sich nun wieder als Maurice von Beauvais, Visitator des Dominikanerordens, und Gerolt als seinen Adlatus und Subprior Antoine von Chartres aus. Tarik stellte er ihr unter dem wohlklingenden Namen Benedikt von Jerusalem und aus dem fiktiven Geschlecht derer von Mirabeau vor. »Wir stehen im Dienst der heiligen Inquisition und kommen in Erfüllung eines wichtigen Auftrags, der leider keinen Aufschub bis zur nächsten Morgenstunde duldet, werte Witwe Valois.«
Ein erschrockener Ausdruck trat auf ihr Gesicht. »Gütiger Gott!«, stieß sie hervor.
»Seid versichert, dass Ihr keinen Grund für Befürchtungen jedweder Art habt!«, beeilte sich Maurice schnell, sie zu beruhigen. »Wir kommen vielmehr mit einem Anliegen, bei dem Eure gottgefällige Hilfe vonnöten ist. Doch habt die Güte, uns zuerst einmal Einlass in Euer Haus zu gewähren, bevor wir Euch im sicheren Vertrauen auf Euren verschwiegenen Mund von gewissen Vorgängen und Erkenntnissen ins Bild setzen, die nur für Eure Ohren bestimmt sind und nach unserer Begegnung keinem anderen anvertraut werden dürfen!«
»Gewiss, gewiss! Tretet ein, Hochwürden!«, murmelte Geneviève Valois. Trotz der Versicherungen von Maurice war sie doch sichtlich beunruhigt. Und in ihrer Aufregung vergaß sie sogar die Aufforderung, nur ja mit dem rechten Fuß zuerst über die Türschwelle ihres Hauses zu treten. Dass die drei hochrangigen Dominikaner von sich aus mit dem rechten Fuß voran eintraten, nahm sie als gutes Zeichen.
Die drei Gralsritter folgten der Witwe, die sie in ihre recht karge Wohnstube führte und sie mit belegter Stimme aufforderte, doch bitte am Tisch Platz zu nehmen. Geneviève Valois hatte weiche Knie und wollte lieber im Sitzen anhören, was die Abgesandten der von allen gefürchteten Inquisition bloß von ihr wollten und was sie ihr so höchst Geheimes mitzuteilen hatten, das sie an niemanden weitergeben durfte.
In seiner Rolle als Visitator übernahm Maurice wieder das Reden, als sich alle gesetzt hatten. »Einer so frommen Frau wie Euch, die sich dank vieler Wohltaten zugunsten sündhafter und fehlgeleiteter Seelen schon zu Lebzeiten große Schätze im Himmelreich erworben hat, einer solch getreuen Dienerin unseres Herrn brauche ich sicherlich nicht erst lange davon zu erzählen, welch bedrückende Aufgabe die heilige Inquisition seit dem Morgen des 13. Oktobers zu erfüllen hat«, begann er schmeichlerisch.
Die Witwe nickte eifrig und musste erst schlucken, bevor sie antworten konnte. »Es ist entsetzlich, was da ans Tageslicht gekommen ist! Die Templer ein Orden von Ketzern und Götzenanbetern! Und das gleich dort hinter der Mauer, gerade mal einen Steinwurf von hier entfernt! Es übersteigt das Fassungsvermögen eines jeden gläubigen Christen!« Und schnell schlug sie das Kreuz.
»Ihr sagt es, gute Frau! Und die Last, die mit jedem mühseligen Tag weiterer, gewissenhafter Befragungen wächst, drückt wahrlich schwer auf uns!« Maurice gab einen tiefen Seufzer von sich, während Tarik und Gerolt mit ernster Miene dazu nickten. »Im Zuge dieser Verhöre sind uns abscheuliche, gar teuflische Umtriebe und Zeremonien gestanden worden, wie Ihr sicherlich wisst. Und nun erschreckt nicht, wenn ich Euch jetzt eröffne, dass es hier in diesem Wohnturm über lange Zeit zu ebensolchen teuflischen Messen, Dämonenbeschwörungen und heidnischer Götzenanbeterei gekommen ist!«
»Nein!«, stieß die Witwe mit geweiteten Augen hervor und griff sich ans Herz.
»Dieser Turm hier«, so fuhr Maurice fort, »war sogar eine bevorzugte Stätte jenes schändlichen Tuns. Hier haben sie ihren Götzen Baphomet beschworen, ihm geopfert und gewisse Handlungen vollzogen, die mir in Gegenwart einer frommen, gottesfürchtigen Frau wie Euch niemals über die Lippen kommen werden!« Jetzt schlug Geneviève Valois gleich dreimal hintereinander das Kreuz. »Heilige Gottesmutter Maria, hilf!«, keuchte sie und mit wachsbleichem Gesicht sackte sie wie von aller Kraft verlassen auf ihrem Stuhl zusammen.
»Ja, der Leibhaftige, seine Dämonen und die Wesen der Schattenwelt, diese irrenden Seelen, die weder Himmel noch Hölle kennen, hatten in diesen Mauern für Generationen eine Wohnstätte, in der dem Bösen und der Hexerei gehuldigt wurde«, fuhr Maurice sogleich fort. »Und unsere langjährigen Erfahrungen im Dienst der heiligen Inquisition haben uns schmerzlich gelehrt, dass ein solcher Ort nach einer derart langen Zeit gottloser Zeremonien niemals die bösen Geister verliert, die hier sichere Zuflucht gefunden haben.«
Nun bekam Geneviève es richtig mit der Angst zu tun. »Ihr . . . Ihr glaubt wirklich, dass in meinem Haus . . . noch immer Geister und Dämonen wohnen?« Ihre Lippen zitterten.
»Ohne jeden Zweifel!«
»Allmächtiger Gott, stehe mir bei! Das Haus besessen von den teuflischen Heerscharen der Unterwelt? Deshalb also musste mein seliger Mann so lange vor seiner Zeit sterben!«, jammerte sie, hoffte jedoch noch, es könne sich trotz aller Beteuerungen der gelehrten Kirchenmänner um einen Irrtum handeln. »Aber seid Ihr Euch dessen auch wirklich ganz sicher? Wie wollt Ihr denn wissen, ob diese Geister und Dämonen nicht schon längst ausgefahren sind, wo es hier doch schon seit vielen Jahrzehnten keine dieser Zeremonien von Götzenanbetung mehr gibt? Und wie können die Geisterwesen und Dämonen in all den Jahren meinen zahllosen Gebeten und dem Weihwasser widerstanden haben?«
»Es bedarf mehr zu deren Austreibung als nur frommer Gebete. Und auch versprengtes Weihwasser jagt sie nicht davon«, teilte ihr Maurice mit. »Sie sitzen tief im Mauerwerk, das sich wie ein Schwamm vollgesogen hat.«
Und wieder nickten Gerolt und Tarik nur stumm und mit grabesernster Miene. Es war so abgesprochen, dass sie die ganze Zeit in völligem Schweigen verharren sollten. Das würde in den Augen der Witwe den angeblichen Ernst der Situation viel stärker betonen, als wenn sie sich an den Ausführungen von Maurice beteiligt hätten. »Aber Ihr könnt ohne Sorge um Euer Seelenheil und Euer Anwesen sein«, fuhr dieser nun fort. »Denn um festzustellen, welche bösen Mächte hier noch wohnen, und um notfalls deren endgültige Vertreibung vorzunehmen, haben wir Euch aufgesucht.« Die Witwe schöpfte sichtlich Hoffnung, dass der Schrecken ein gutes Ende nehmen könnte. »Doch wie wollt Ihr es denn bloß anstellen, Gewissheit über die Gegenwart von Geistern zu erlangen? Wollt Ihr sie beschwören?«
»Nein, wir werden Satans willfährige Geisterwesen zwingen, uns ihre Gegenwart zu verraten und sich zu zeigen! Und zu diesem Zwecke habe ich meine hochgelehrten Ordensbrüder mitgebracht, ist ihnen doch die seltene Gabe gegeben, derartige Geisterwesen und Dämonen aufzuspüren und sie auszutreiben«, sagte Maurice und wies auf seine beiden Gefährten. »Aber überzeugt Euch selbst, ob Euer Haus noch immer von dunklen Mächten besessen ist. Meine Ordensbrüder werden nämlich sofort die Probe machen. Dazu bringt uns geschwind einen Becher mit klarem Wasser! Gut gefüllt, aber nicht randvoll!«
Geneviève Valois hatte Mühe, sich von ihrem Platz zu erheben, so schwach vor Furcht und Schrecken fühlte sie sich. Und ihre Hände hatte ein heftiges Zittern befallen, sodass sie einiges von dem Wasser verschüttete, als sie zu ihnen an den Tisch zurückkehrte. Wie ein Mühlstein sackte sie auf ihren Stuhl, kaum dass sie den Becher auf der Mitte des Tisches abgestellt hatte.
Gerolt hatte indessen eine Phiole hervorgeholt. In dem gerade mal fingerlangen und daumendicken Behälter aus dünnem grünem Glas befand sich nichts weiter als mit Wurzelextrakt rot gefärbtes Wasser. Mit angespannter Miene und scheinbar überaus vorsichtig leerte er die rote Flüssigkeit in das klare Wasser des Bechers. Dabei bewegten sich seine Lippen tonlos, als begleitete er das Gießen mit einer Formel, die nicht für die Ohren Uneingeweihter bestimmt war. Als der letzte Tropfen in den Becher gefallen war, machte er wie ein Priester das Kreuzzeichen über dem Becher.
»Was hat es mit dieser . . .«, setzte die Witwe mit bebender Stimme zu einer Frage an.
Sofort hob Maurice die Hand. »Von jetzt an kein Wort mehr, gute Frau!«, trug er ihr streng auf. »Was immer gleich auch geschieht, rührt Euch nicht vom Fleck und sprecht nicht! Dann wird Euch auch nichts geschehen.«
Geneviève Valois machte den Eindruck, als wäre sie am liebsten aufgesprungen und aus dem Turmhaus gestürzt. Doch sie verharrte wie zur Salzsäule erstarrt auf ihrem Platz.
Maurice löste das goldene Kruzifix vom Gürtel, legte es vor den Becher mit dem rot gefärbten Wasser und schlug darüber nun wie ein Geistlicher das Kreuz.
»Lasst uns Gott um Beistand anrufen und dann die vorgeschriebenen Gebete zur Dämonenbezeugung sprechen, meine Brüder!«, forderte er nun seine Freunde mit gesenkter, feierlich ernster Stimme auf.
Gemeinsam und mit den Händen auf den Becher weisend, murmelten sie nun beschwörend und auf Latein mehrere Gebete. Und dann ließ Tarik seine göttliche Segensgabe auf das rötliche Wasser einwirken.
Ganz langsam begann sich die Oberfläche zu kräuseln. Schnell ging das Kräuseln in ein Brodeln über, als kochte es im Becher. Und dann setzte sich das Wasser links herum in Bewegung, um im Becher immer schneller zu kreisen, sodass in seiner Mitte ein Wirbel entstand und das Wasser dabei an seiner Innenwand bis an den Rand hochstieg.
Geneviève Valois stieß einen spitzen Schrei aus, schlug dann aber sofort beide Hände vor den Mund, als könnte sie ihn nur so daran hindern, ihr Erschrecken herausdringen zu lassen.
Und während Tarik noch immer das gefärbte Wasser im Becher kreisen ließ, machte sich Gerolt daran, ihr einen weiteren Beweis für die Gegenwart dämonischer Kräfte vorzuführen. Er verdichtete vor der Tür, die sich gut im Blickfeld der Witwe befand, die Luft zu zwei flirrenden, kegelförmigen Gebilden, die mit der Spitze nach unten wild hin- und herzuckten, als versuchten sie vergeblich, sich der Macht der Dämonenbeschwörer zu entziehen.
Blankes Entsetzen stand in den Augen der Witwe, als sie diese angeblichen Geisterwesen sah, die ihren wilden Tanz aufführten, um dann an die Wand zurückzuweichen und dort scheinbar ins Mauerwerk zu fliehen. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, richtete Maurice seine besondere Fähigkeit als Gralshüter auf ebenjene Steine in der Wand und brachte sie dazu, in den Fugen wenig, aber doch merklich vor- und zurückzurucken. Eine Leistung, die ihm bei Weitem mehr an Kraft und Konzentration abverlangte, als Tarik und Gerolt bei ihrem Einsatz hatten aufwenden müssen. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn.
»Lasst es gut sein! Das genügt!«, rief er mit schwerem Atem, griff zum Kruzifix und hielt es mit dem Corpus nach unten über den Becher, in dem sich augenblicklich der Wirbel auflöste und das Wasser allmählich zum Stehen kam. »Wir haben erfahren, was wir wissen müssen!«
Dann wandte er sich an die Witwe, die nun wie Espenlaub zitterte und noch immer beide Hände vor den Mund gepresst hielt. »Ganz ruhig, werte Frau! Es ist vorbei. Aber nun werdet wohl auch Ihr überzeugt sein, dass Euer Wohnturm noch immer von einer Vielzahl dämonischer Wesen befallen ist.«
Sie nickte heftig, brachte in ihrem Entsetzen über das soeben Erlebte jedoch keinen Ton heraus. Ihr Gesicht unter der schwarzen Haube erschien wie blutleer.
»Fürchtet Euch nicht und habt Vertrauen! Ihr habt Euch tapfer gehalten, dafür verdient Ihr Bewunderung. Und nun fasst Euch wieder. Gott ist mit uns und die Mächte des Bösen haben sich die längste Zeit an diesem Ort verkrochen! Denn wir werden nicht eher von hier weggehen, bis wir Gewissheit haben, alle Dämonen ausgetrieben und ihnen für immer die Rückkehr unmöglich gemacht zu haben!«, redete Maurice beruhigend auf sie ein. »Ich weiß sehr wohl, was jetzt in Euch vorgeht. Aber es wird sich alles zum Guten wenden, und zwar noch in dieser Nacht, das verspreche ich Euch auf die Heilige Schrift und die hohen Weihen, die wir empfangen haben. Morgen wird es hier nicht mehr ein einziges Geisterwesen geben! Der Turm wird restlos frei von allen dämonischen Wesen der Schattenwelt sein. Und dabei könnt Ihr uns helfen – nicht durch Eure Anwesenheit. Denn auch nur Zeuge des Kampfes zu sein, den wir in den kommenden Nachtstunden hier zu führen haben, würde Eure Kräfte maßlos überfordern.«
Mühsam würgte Geneviève Valois ihr Entsetzen hinunter und fand nun endlich ihre Sprache wieder. »Wie kann ich Euch denn sonst bei Eurer Dämonenaustreibung behilflich sein?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
»Indem Ihr Euch unverzüglich hinüber in Euer Heim begebt, dort jeden Schlagladen fest verriegelt, all Eure Frauen zusammenruft und uns durch Eure frommen Gebete unterstützt! Damit wird uns sehr geholfen sein, wisst Ihr doch um die segensreiche Kraft des aufrechten Gebets. Aber sorgt unbedingt dafür, dass sich keine von Euren reumütigen Sünderinnen vor dieser gemeinsamen Nacht im Gebet zu drücken versucht und sich womöglich gar noch draußen im Hof herumtreibt. Das könnte Folgen haben, die ich Euch lieber nicht ausmalen möchte!«, betonte Maurice. »Und erschreckt nicht, wenn Ihr gleich Hufschlag und das Geräusch eines Fuhrwerks im Hof hört. Wir erwarten noch einen treuen Gehilfen, der uns die erforderlichen Gerätschaften bringt, um vom Keller bis unter die Mauerkrone der satanischen Mächte Herr zu werden, die sich hier eingenistet haben. Also lasst die Schlagläden geschlossen und widmet Euch weiterhin dem Lobpreis Gottes!«
»So soll es geschehen!«, versicherte sie.
Maurice nickte wohlwollend. »Gut! Seid also stark in Eurem Tun und haltet durch bis zur Morgendämmerung! Dann könnt Ihr unbeschwert wieder zurückkehren. Ihr werdet uns nicht mehr antreffen, jedoch auf der Tür über dem Löwenkopf ein Kreidezeichen aus drei Kreuzen und einigen Buchstaben vorfinden. Dieses Zeichen wird Euch sagen, dass Euer ganzes Anwesen von allen dämonischen und anderen Geisterwesen gereinigt ist und fortan von ihnen gemieden wird!«
»Ich werde alles so tun, wie Ihr es mir aufgetragen habt, und mit Freuden!«, beteuerte Geneviève Valois und in ihr Gesicht kehrte wieder etwas Farbe zurück. Auch ihr Körper straffte sich, hatte sie doch nun eine Aufgabe, der sie sich gewachsen fühlte. »Dem Allmächtigen sei Dank, dass er mir Euch und Eure gelehrten Ordensbrüder geschickt hat!« Und in ihrer übergroßen Erleichterung und Dankbarkeit war sie drauf und dran, vor Maurice auf die Knie zu fallen und ihm die Hand zu küssen.
Maurice wusste das rasch zu verhindern. »Nicht doch, werte Frau! Wir tun nichts als Gottes heiligen Willen! Eure Gebete und Fürsprachen sind uns Dank genug. Und nun geht besser, denn wir müssen sogleich mit den Vorbereitungen beginnen.» Damit fasste er sie an der Schulter und sorgte mit sanftem Druck dafür, dass sie den Wohnturm verließ und sich in ihr angrenzendes Magdalenenheim begab.
»Amen!«, sagte Maurice und nickte dann Tarik zu. »Ich glaube, die Luft ist jetzt rein. McIvor wird inzwischen schon mit dem Pferdewagen eingetroffen sein und ungeduldig darauf warten, dass du ihn holen kommst. Aber vergesst bloß nicht unsere Waffen, die Sturmlichter und den Beutel mit dem Werkzeug!«
»Vielleicht solltest du besser selber gehen, wenn du Bedenken hast«, erwiderte Tarik.
Maurice verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Mein Vertrauen in dich ist grenzenlos, Levantiner! Darum lasse ich dir auch den Vortritt! Also geh schon. Und vielleicht kommt ihr ja noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Gerolt und ich unten im Keller den geheimen Zugang öffnen, Mönchlein!«
»Untersteht euch!«, drohte Tarik und seine Augen funkelten sie an wie dunkle, glühende Bernsteine. »Ihr wartet gefälligst auf uns, sonst bekommt ihr was zu hören, Brüder!« Mit dieser Warnung huschte er hinaus in die Dunkelheit, um McIvor in den Hof zu winken. Er fieberte dem Moment entgegen, in welchem sie den unterirdischen Zugang im Keller entdecken und vor allem den reich verzierten schwarzen Ebenholzwürfel mit dem Heiligen Gral wieder in ihrer Obhut wissen würden!