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Im gelblichen Schein von Öllampen, die im schützenden Gehäuse von Sturmlaternen brannten, und mit umgegürtetem Schwertgehänge stiegen die vier Gralshüter die alte Steintreppe in den tiefen Keller hinunter. Die Gewölbe unter dem alten Turm waren hoch und von ungewöhnlich aufwendiger, baumeisterlicher Kunstfertigkeit. Alle Wände bestanden aus Sandstein und waren durch ein Gitterwerk aus daumenstarken Streben aus demselben Material in zahllose Kassettenfelder unterteilt. Und dass jeweils zwei waagerecht und vier senkrecht verlaufende Segmente in etwa der Breite und Höhe eines kräftigen Mannes entsprachen, war sicher alles andere als ein Zufall. Auch fielen den scharfen Augen der Gralshüter, die um das Geheimnis der Kellergewölbe wussten, sofort die tiefen Fugen zwischen den einzelnen Steinen auf.

»Wirklich raffiniert, was sich die Baumeister unserer Bruderschaft hier haben einfallen lassen!«, sagte Gerolt voller Bewunderung. »Alle Wände in ein Meer von Kassettenfeldern zu unterteilen, ist eine hervorragende Tarnung für die geheime Tür, die sich hier irgendwo im Mauerwerk verbirgt!«

McIvor hatte seinen Dolch aus dem Gürtel gezogen und setzte die Klinge in die Fuge zwischen zwei Steinen. Gut fingernageltief drang sie in den Schlitz ein, bevor sie auf harten Widerstand stieß. »Raffiniert ist das richtige Wort, Gerolt!«, pflichtete er ihm bei. »Ein bewegliches Kassettenfeld braucht Spiel, um sich öffnen zu können. Und dass hier alle Fugen gleich breit und gleich tief sind, macht es unmöglich, auch bei scharfem Hinsehen ein Anzeichen für eine Tür zu finden. Man muss schon sehr genau wissen, wonach man hier sucht, um auf die Geheimtür zu stoßen!«

»Antoine hat von einer Rose gesprochen, die uns verraten wird, wo sich der geheime Zugang befindet«, sagte Tarik. »Also lasst uns danach suchen, Freunde! Leuchten wir die Wände ab!«

Sie verrückten bei ihrer Suche jedes Fass, jede Kiste, jedes Brettergestell und was sonst noch einen ungehinderten Blick auf das dahinterliegende Mauerwerk verwehrte. Jede Ecke leuchteten sie aus. Doch so gewissenhaft sie die ersten beiden Gewölbe auch absuchten, sie fanden das Zeichen der Rose nicht. Dafür sprang ihnen im dritten, hintersten der Kellerräume der geheime Hinweis umso rascher ins Auge.

Gerolt entdeckte ihn, als er durch den Rundbogen trat, der in das letzte, mit allerlei Gerümpel vollgestellte Gewölbe führte, und der Lichtschein seiner Öllampe auf die Kassettenwand zu seiner Linken fiel.

»Hier ist sie, die Rose!«, rief er aufgeregt und wies auf den Stein, der in Kopfhöhe über einem Mauerring in die Wand eingelassen war. Ein Steinmetz hatte die Umrisse einer fünfblättrigen Rose aus dem harten Gestein gemeißelt. »Es ist eindeutig das Zeichen unserer Bruderschaft, das auch die Vorderseite des Ebenholzwürfels schmückt!«

»Halleluja!«, rief Maurice und drängte sich mit seinen Freunden um diesen Mauerring. Er ragte an einer faustdicken und runden Steinstrebe eine gute Unterarmlänge aus der Wand hervor. Im Rund der Öffnung hatte jemand eine abgebrannte Pechfackel zurückgelassen.

»Gut, die Rose hätten wir gefunden«, sagte Tarik und betrachtete das Zeichen und den Mauerring mit gerunzelter Stirn. »Vermutlich befindet sich an dieser Stelle die Geheimtür. Fragt sich nur, was jetzt geschehen muss, damit sie sich öffnet. Hat jemand eine Idee?«

»Die Strebe mit dem Fackelring muss mit einem versteckten Mechanismus verbunden sein, so wie wir es vom unterirdischen Heiligtum in Akkon her kennen! Vielleicht müssen wir ihn herausziehen!«, schlug Maurice vor, zog die Fackel heraus, warf sie hinter sich zu dem Gerümpel, packte mit festem Griff in den Ring und zog mit aller Kraft an ihm.

Doch nichts geschah. Die Sandsteinstrebe mit dem Fackelring rührte sich nicht.

»Mist!«, murmelte Maurice enttäuscht. »Vielleicht versuchst du es mal mit deinen rohen Kräften, McIvor. Womöglich ist der Hebel schon lange nicht mehr bewegt worden und klemmt.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Tarik. »Antoine ist ein zu gewissenhafter Gralshüter gewesen, als dass er sich so eine Nachlässigkeit erlaubt hätte! Nein, er hat ganz sicher regelmäßig dafür gesorgt, dass sich der Mechanismus stets in einem einwandfreien Zustand befindet und nicht ausgerechnet dann versagt, wenn Gefahr im Verzug ist und der Gang gebraucht wird.«

»Das meine ich auch«, sagte Gerolt. »Und die logische Folgerung daraus dürfte sein, dass der Mechanismus nicht durch Zugkraft am Mauerring in Gang gesetzt wird, sondern auf irgendeine andere Weise.«

»Dann versuchen wir es doch zur Abwechslung mal damit, ihn in die Wand zu drücken!«, sagte Maurice und stemmte sich nun mit aller Kraft gegen den Mauerring.

Vergeblich.

»Ich glaube, ihr habt da alle etwas übersehen«, sagte McIvor.

»So? Dann erleuchte uns mal mit deinem Geistesblitz, Eisenauge!«, forderte Maurice ihn auf. Er glaubte nicht, dass der Schotte mit seinem einen Auge etwas entdeckt hatte, was ihm selbst nicht aufgefallen war. »Was sollen wir denn übersehen haben?«

»Diese beiden Einkerbungen auf der rechten und linken Seite des inneren Kreises«, antwortete McIvor trocken. Dabei wies er auf die beiden Einschnitte im Sandstein, deren Tiefe ungefähr der Länge eines Fingerglieds entsprach. »Ich nehme mal an, dass der Steinmetz unserer Bruderschaft die Schlitze nicht aus dem Ring gemeißelt hätte, ohne damit etwas zu bezwecken.«

Und mit diesen Worten zog McIvor sein Schwert aus der Scheide.

»Was hast du vor?«, fragte Gerolt.

»Ich mag ja nur noch ein Auge haben, Brüder!«, antwortete McIvor mit breitem Grinsen. »Aber ich habe dennoch einen scharfen Blick für die Breite einer Schwertklinge. Und der Teufel soll mich holen, wenn das Blatt eines Gralsschwert nicht genau dort zwischen die beiden Einschnitte im Fackelring passt!« Und damit schob er die Klinge seines Schwertes von unten in den Mauerring und führte sie durch die beiden Schlitze. Nach einem Drittel des Blattes saß das Schwert fest in den Einkerbungen.

Gerolt schlug dem Schotten begeistert auf die Schulter. »Teufelskerl, es sitzt! Perfekt vom Steinmetz für ein Gralsschwert bemessen! McIvor, du hast wirklich was in deinem harten Schädel! Dass du das auf einen Blick gesehen hast!«

»Das war wirklich ein genialer Geistesblitz, Eisenauge!«, kam es von Tarik.

»Wirklich nicht schlecht«, rang sich nun auch Maurice zu einem Wort der Anerkennung durch. Und um seine Verlegenheit zu überspielen, versetzte er McIvor einen freundschaftlichen Rippenstoß.

»Der Ring wird sich vielleicht nach links oder nach rechts drehen lassen«, überlegte Gerolt laut. »Aber ich würde nicht zu viel Kraft in die Hebelwirkung deines Schwertes legen, McIvor. Falls der Mechanismus wirklich auf diese Weise betätigt wird, dann wird dafür keine große Kraftanstrengung nötig sein.«

McIvor nickte und versuchte, mithilfe des Schwerts die runde Sandsteinstrebe nach rechts zu drehen. Doch sie bewegte sich nicht.

»Dann also links herum«, murmelte er und übte Druck in die entgegengesetzte Richtung aus.

Nach einem kurzen Moment des Widerstands bewegte sich die runde Strebe in ihrer Einfassung. Gleichzeitig war ein gedämpftes, metallisches Klacken hinter dem Mauerwerk zu vernehmen – und die Strebe sprang etwa eine Handlänge aus dem Steinquader, in den sie eingelassen war.

»Hier, die Wand hat sich bewegt!«, rief Gerolt aufgeregt und deutete auf einen Teil der Kassettenfelder, der breit und hoch genug war, um einem Mann Durchlass zu gewähren. Aber dieser Ausschnitt hatte sich ihnen nicht geöffnet, sondern war nur eine Handlänge weit nach hinten in die Wand gerückt. Er stemmte sich sofort dagegen, doch die Tür gab nicht nach.

Jetzt hatte Maurice die Genugtuung, dem zweiten Mechanismus der Türverriegelung auf die Spur zu kommen, indem er als Erster das Abbild eines Pferdes bemerkte, das auf der anderen Seite der Strebe zum Vorschein gekommen war. »Seht doch, hier ist ein Pferd in den Stein gemeißelt! Kopf, Brust und Vorderhufe sind ganz deutlich zu erkennen. Und die Umrisse setzen sich noch fort! Sie sind aber noch in der Wand verborgen! Die Strebe muss weiter raus!«

»Manchmal hat deine Rede wirklich Hand und Fuß«, revanchierte sich McIvor für die spöttische Bemerkung, die Maurice vor wenigen Augenblicken über ihn gemacht hatte, zog das Schwert aus der Einkerbung und legte seine Pranke um den Mauerring. »Wollen doch mal sehen, ob du mit deiner nicht ganz unklugen Vermutung recht hast!«

McIvor zog am Ring und er brauchte gar nicht viel Kraft aufzuwenden, um die Granitstrebe nun gut armlang aus der Wand zu ziehen. Der restliche Teil des Pferdebildes kam zum Vorschein. Die in den Stein geschlagenen Linien ergaben nun das allseits bekannte Zeichen des Templerordens, nämlich zwei Reiter auf dem Rücken eines Pferdes. Und nur wer als Gralshüter in die Geheimnisse der Bruderschaft eingeweiht war, deutete die kleine Einritzung zwischen den beiden Reitern nicht als Makel an einer ansonsten guten Steinmetzarbeit, sondern wusste, dass es sich dabei um die Andeutung der fünfblättrigen Rose handelte.

Es trat jedoch nicht nur die runde Strebe aus der Wand, sondern McIvors Muskelkraft wurde gleichzeitig von einem kunstfertigen System von in der Wand verborgenen Flaschenzügen vervielfacht, sodass die Tür noch weiter zurückglitt. Nun wurden im Boden gute vier Finger breite und ebenso tiefe Rinnen sichtbar, in denen glänzende Eisenkugeln von ebensolcher Stärke dicht aneinander und in einem Bett aus Öl lagen. Über diese mit Kugellagern gefüllten Rinnen hatte sich die geheime Tür, gezogen von einem rückwärtigen Flaschenzug, nach hinten in den Vorraum eines unterirdischen Gangs bewegt. Eine wahre bauliche Meisterleistung der Gralshüter!

Aber da sie seit ihrer ersten Weihe in Akkon mit derlei technischen Leistungen der Baumeister ihrer Bruderschaft vertraut waren, hielten sie sich nicht damit auf, sie lange zu bewundern und zu studieren. Es drängte sie, in den Tunnel zu kommen und den dritten Gang zu finden, wo der Heilige Gral in seinem Versteck ruhte.

»Wir zünden besser keine Fackeln an!«, schlug Gerolt vor, als er hinter dem kleinen, runden Vorraum den schmalen, gemauerten Gang erblickte, der einer Person gerade mal ausreichend Platz bot. Und noch knapper war seine Höhe bemessen. McIvor und er würden schon den Kopf einziehen müssen, um sich nicht an der gerundeten Decke zu stoßen. »Wir müssten die Flamme sonst weit von uns weghalten, damit sie uns nicht Haare und Kleidung ansengt. Zudem treiben einem Fackeln in solch einem engen Tunnel den Ruß in die Augen und verzehren auch zu viel Luft! Aber zwei, drei sollten wir doch für alle Fälle mitnehmen.«

»Ich übernehme das und lasse dafür meine Ölleuchte zurück«, sagte McIvor und nahm drei Fackeln an sich.

»Dann lasst uns gehen und herausfinden, wohin uns der geheime Gang in der Templerburg führt!«, rief Maurice, der vor Ungeduld und Tatendrang brannte. »Und denkt an die Rosette, Kameraden! Worum immer es sich dabei auch handeln mag, Antoine hat uns davor gewarnt und uns unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie den Tod bringt!«