Der folgende Tag beschenkte sie mit einem fast wolkenlosen Himmel und die Sonne beglückte sie noch einmal mit überraschend wärmender Kraft.
Sie kamen auf ihrem Weg durch das bergige Gelände der Auvergne gut voran. Die fröhliche Zecherei am Feuer sowie die recht kurze Nacht waren jedoch nicht ganz spurlos an ihnen vorbeigegangen. Müdigkeit stand in ihren Gesichtern geschrieben und keiner verspürte das Verlangen, sich die langen Stunden im Sattel durch Reden kurzweiliger zu gestalten.
So war Gerolt denn auch froh, als sie am Mittag in einem stillen Tal übereinkamen, sich hier eine längere Rast zu gönnen und ein wenig Schlaf nachzuholen. Die grasbewachsene Mulde zwischen zwei kleineren Bergrücken, auf die sie ein Stück abseits der Landstraße gestoßen waren, lud geradezu dazu ein, sich im Wintergras auszustrecken, sich von der Sonne bescheinen zu lassen und in den Schlaf zu sinken.
Gerolt war derjenige, der in der Nacht wohl am wenigsten erholsame Ruhe gefunden. Erst hatten ihn seine unruhig hin- und herspringenden Gedanken um den Schlaf gebracht und dann war es an ihm gewesen, die nächsten beiden Stunden Wache zu halten. Denn Maurice hatte darauf bestanden, dass sie nicht auf die Friedfertigkeit des fahrenden Volks vertrauten, sondern sich allein auf ihre Wachsamkeit verließen, um jederzeit zu ihren Waffen greifen und einer wie auch immer gearteten Gefahr unverzüglich begegnen zu können.
Und kaum hatte Gerolt nun sein Pferd angebunden, sich mit einem wohligen Seufzer ins Gras gelegt, sein Schwertgehänge in die richtige Position gerückt und sich seine Deckenrolle unter den Nacken geschoben, als ihm auch schon die müden Augenlider zufielen und er in einen tiefen Schlaf fiel.
»Schaut ihn euch an, unseren ritterlichen Narren!«, rief Maurice belustigt. »So schnell habe ich Gerolt ja noch nie zu Boden sinken sehen! Wie gefällt von einer Sarazenenklinge!«
»Wen wundert’s! Mir sitzt die letzte Nacht auch gehörig in den Gliedern, Freunde«, gab McIvor freimütig zu und gähnte herzhaft. »Der Ritt heute ist mir verteufelt schwergefallen. Manchmal dachte ich, gleich fallen mir die Augen zu!«
»Ist ja wohl auch kein Wunder, dass wir nach der langen Reise, die schon hinter uns liegt, nicht mehr ganz taufrisch sind«, erwiderte Maurice und konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. »Tag für Tag von morgens bis abends im Sattel zu sitzen, fordert nun mal seinen Tribut. Und ich halte es für nötig, dass wir vor der anstrengenden Überquerung der Pyrenäen uns erst mal . . .«
Tarik fuhr plötzlich zusammen, zog die Luft mit einem kurzen scharfen Laut ein und fiel ihm ins Wort. »Maurice! . . . McIvor!«, rief er aufgeregt und ließ seine Decke achtlos vor seine Füße fallen.
»Was ist?«, stieß Maurice alarmiert hervor und legte seine Hand sofort auf den Griff seines Schwertes. Auch McIvor reagierte augenblicklich mit einem Griff zur Waffe. »Reiter? Gefahr im Verzug?«
»Nein! Seht doch nur! . . . Da oben!« Tariks Stimme sank zu einem andächtigen Flüstern herab, als er den Arm ausstreckte und gen Himmel wies, als wären laute Worte diesem Moment nicht angemessen.
Maurice und McIvor drehten sich um und folgten mit ihren Blicken der Richtung, in die ihr Freund wies. Und dann sahen auch sie, was Tarik im Osten hoch über den Bergrücken bemerkt hatte. Ein Vogel, der schnell die Gestalt eines schneeweißen Falken annahm, schoss wie ein Pfeil aus der blauen Tiefe des Himmels und in einer Säule aus Licht zu ihnen herab. Sie wussten sofort, was ihre Augen erblickten.
»Das Auge Gottes!«, raunte McIvor und ein Schauer lief durch seinen Körper.
Tarik bekreuzigte sich.
Das Auge Gottes – so hatte Abbé Villard diesen geheimnisvollen weißen Greifvogel genannt, der ihnen in den Jahren als Gralshüter nur wenige Male erschienen war, und zwar stets in Zeiten besonderer Ereignisse. Aber nicht mal er, der uralte Obere ihrer geheimen Bruderschaft, hatte ihnen sagen können, was es mit diesem überirdischen Wesen genau auf sich hatte und was es bewog, sich ihnen zu zeigen. In Ermangelung einer besseren Erklärung hatte der Abbé dem Falken deshalb den Namen »Das Auge Gottes« gegeben und so benutzten auch sie ihn für diese Erscheinung. Alles, was sie über den weißen Falken wussten, war, dass er über magische Kräfte verfügte, die von ihnen Besitz ergriffen, sie wie körperlos zu anderen Orten trugen und sie dabei Dinge sehen ließen, die ihnen ohne sein Eingreifen verborgen geblieben wären. Oft hatten sie über das Wesen des weißen Greifs spekuliert und sich gefragt, ob es sich bei ihm vielleicht um die Manifestation der magischen Kräfte ihrer verstorbenen Gralsbrüder handeln konnte. Vieles sprach dafür. Aber weil auch das letztlich nur eine Vermutung war, blieben sie dabei, diese Erscheinung wie der Abbé und Antoine »Das Auge Gottes« zu nennen.
»Er kommt zu uns!«, flüsterte Maurice.
Der weiße Falke, der bei Tariks Ausruf kaum mehr als ein herabfallender weißer Punkt mit einem Schweif aus hellstem Licht gewesen war, hatte die Weite des Himmels so rasend schnell durchmessen, wie es auch der schnellste irdische Vogel im steilsten Sturzflug nicht vermochte.
In Kirchturmhöhe endete der rasende Abstieg. Nun glitt der königliche Falke mit ausgebreiteten Schwingen über die Wiesenfläche, wie getragen von der gleißenden Woge des Lichtes, und verlor dabei immer mehr Höhe. Sein Gefieder leuchtete so weiß wie frisch gefallener Schnee.
»Allmächtiger, er kommt direkt zu uns!«, stieß McIvor erschrocken hervor. Noch nie war der Greif einem von ihnen so nahe gekommen. Das Auge Gottes war stets in einiger Höhe und mit einigen hundert Ellen Abstand vor ihnen schwebend verharrt.
»Nein«, hauchte Tarik und seine Haare stellten sich auf. »Er kommt nicht zu uns!«
Und fassungslos beobachteten sie, was dann, keine vier Schritte von ihnen entfernt, vor ihren Augen geschah.