Die erste Dezemberwoche war angebrochen und hatte den Himmel mit tristem Grau überzogen, als die vier Gralsritter in das bergige Oberland des Sabarthès im Languedoc vordrangen und damit im Südwesten Frankreichs die Ausläufer der Pyrenäen erreichten. Wie eine hohe Wand aus gezackten, felsigen Palisaden wuchsen die Bergketten in der Ferne empor. Die höchsten Gipfel am fernen Horizont trugen weiße Schneekappen. Doch was aus der Distanz wie eine gewaltige Bergmauer erschien, die sich vom Mittelmeer bis an den Atlantik erstreckte und als natürliche Barriere Spanien von Frankreich trennte, bestand in Wirklichkeit aus einer wild zerklüfteten Wildnis tief gestaffelter Bergzüge mit zahllosen Schluchten. Über diese abweisenden Bergketten mussten sie hinüber, um in die relative Sicherheit Spaniens zu gelangen!
Das fruchtbare Roussillon lag schon einige Tage hinter ihnen. Sie waren über Carcassonne geritten, hatten die Stadt mit ihrer mächtigen Festungsanlage, die sich auf einem felsigen Bergrücken weithin sichtbar erhob, jedoch in einem großen Bogen umgangen. Südlich der Stadt waren sie dem munter rauschenden Flüsschen Aude gefolgt, hatten das Plateau de Sault passiert, die Nacht in Montaillou verbracht und erklommen nun auf dem Weg in das Tal der Ariège den vorgelagerten Pass Col de Marmare. Zu ihrer Rechten ragte der Bergzug des Coulobre mit seinen schroffen Gipfeln auf.
Als sie den Pass überwunden hatten, nun auf der schmalen Straße abwärts in eine schmale, dicht bewaldete Schlucht hinunterritten und dem kleinen, aber kraftvoll rauschenden Flusslauf der Marmare folgten, fragte sich Gerolt, was das göttliche Licht während ihrer Anbetung des heiligen Kelches in der Kapelle wohl bei ihnen bewirkt und welche ihrer Kräfte es gestärkt haben mochte.
»Ich möchte wirklich mal wissen, warum wir ausgerechnet diesen beschwerlichen Weg durch das Tal der Ariège nehmen müssen«, brummte McIvor hinter ihm. »Wir hätten doch auch hinter Carcassonne die sehr viel bessere Straße über Tarascon nehmen und dann an der Vicdessos entlang in die Vorberge der Pyrenäen reiten können! Noch besser wäre es gewesen, wir wären weiter nach Südwesten an die Küste geritten und hätten uns dort um die Berge herumgedrückt. Diese dunklen, engen Schluchten und Täler gefallen mir gar nicht!«
»Von denen werden wir noch jede Menge zu sehen bekommen, also gewöhne dich besser dran, Schotte. Diese Nebenwege abseits der bevölkerten Überlandstraßen sind nun mal sicherer als alles andere«, antwortete Maurice, der diese Route vorgeschlagen und durchgesetzt hatte. »Und so ein großer Umweg ist das nun wahrlich nicht.«
»Wir sollten die Pferde im nächsten größeren Dorf verkaufen und uns Maultiere zulegen«, schlug Tarik vor. »Zu Pferd kommen wir auf den schmalen Saumpfaden und Graten der Berge nicht weit. Da sind einheimische, trittsichere Maultiere angebracht.«
Maurice verzog das Gesicht. »Als Ritter auf einem Maultier! Das wird ja ein prächtiges Bild abgeben! Aber leider hast du recht, Tarik. Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als uns in Unac oder Luzenac von unseren treuen Tieren zu trennen und auf den Rücken solch störrischer Kreaturen umzusteigen.«
Der Wasserlauf vollführte eine scharfe Biegung nach rechts und dahinter rückten die steilen und dicht bewaldeten Hänge noch näher heran, sodass sich die Schlucht fast zu einem Hohlweg verengte.
Kaum hatten sie die Biegung hinter sich gelassen und waren in diese Verengung hinuntergeritten, als plötzlich von allen Seiten Männer und mit einigem Abstand auch Frauen aus dem Dunkel des Waldes hervorbrachen. Die Männer trugen Spieße, Schwerter und Armbrüste. Es mochten gut und gern zwanzig Bewaffnete sein, die sich vor ihnen mit erhobenen Waffen aufbauten und ihnen auch den Rückweg abschnitten.
»Tod und Teufel!«, fluchte McIvor. »So viel zu deinen verschwiegenen und sicheren Nebenwegen, Maurice!«
»Wartet! Lasst die Schwerter stecken!«, rief Gerolt seinen Freunden zu. »Kein unnötiges Blutvergießen! Wir haben es nicht mit Soldaten oder Schergen der Inquisition zu tun.«
»Und wenn es Iskaris sind?«, raunte Maurice, der sein Schwert auch schon ein Stück aus der Scheide gezogen hatte.
»Dann hätten sie uns heimtückisch aus dem Hinterhalt überfallen und gnadenlos niedergemacht, statt sich uns so offen in den Weg zu stellen!«, erklärte Tarik. »Also tut, was Gerolt gesagt hat, und nehmt die Hände von den Waffen! Lasst uns erst versuchen, dass sie uns friedlich den Weg freigeben!«
Ein älterer Mann von sehniger, aufrechter Gestalt und mit ergrauten Haaren löste sich aus der Gruppe, die vor ihnen auf dem Weg mit erhobenen Waffen Aufstellung genommen hatte, und kam ihnen entgegen. Er trug über einem grünen Hemd aus Kambrik einen blauen Umhang, jedoch keine Waffe. Die Kleidung ließ den Schluss zu, dass es sich bei ihm nicht um einen einfachen Bauern handelte, sondern um eine Person, die in der Bevölkerung des Sabarthès einen besonderen Rang einnahm und die ihn damit jetzt auch zum Sprecher der Bewaffneten machte.
»Wer seid Ihr?«, verlangte er zu wissen und musterte sie eindringlich. »Was führt Euch in diese Gegend? Ihr seid Fremde und tragt die Schwerter von Männern, deren Handwerk der Krieg ist! Schickt Euch der Bischof Geoffroy d’Ablis von Carcassonne?«
»Wir haben mit diesem Mann nichts zu schaffen!«, antwortete Gerolt schnell, dem der Name Geoffroy d’Ablis nicht unbekannt war. Sie hatten den Namen in einer Herberge der Aude aufgeschnappt und wussten, dass es sich dabei um einen Dominikaner handelte. Dieser Mönch hatte vor wenigen Jahren in Carcassonne das Amt des Inquisitors übernommen und sogleich mit blutigem Eifer damit begonnen, den im Languedoc wieder auflebenden Glauben der Katharer unnachsichtig zu verfolgen. Regelmäßig schickte er seine Männer in die Dörfer, um nach Anhängern der katharischen Lehre zu fahnden und diese vor das Gericht der Inquisition zu bringen. Gerolt fuhr fort: »Wir sind nur auf der Durchreise auf unserem Weg nach Spanien. Unsere Absichten sind friedlich, der Herr ist mein Zeuge! Unsere Schwerter dienen nur zu unserem persönlichen Schutz und stehen nicht im Dienst eines weltlichen Herrn!«
»Das lässt sich leicht sagen!«, rief jemand mit bitterem Argwohn. »Und am Ende fließt doch unser Blut von ihren Klingen! Ich sage euch, das sind Schergen aus Carcassonne, die uns dieser mordbrennende Teufel im Dominikanerhabit Geoffroy d’Ablis als Verstärkung für seinen geifernden Spürhund Bernard Bayard und seine Begleiter geschickt hat!«
»Ihr irrt!«, rief Gerolt so laut, dass ihn jeder im Hohlweg verstehen konnte. Denn die Situation wurde brenzlig, das sah er den verhärteten Gesichtern der Männer vor ihnen an. Sie machten nicht den Eindruck, als glaubten sie seinen Worten. Sie sahen vielmehr so aus, als warteten sie nur darauf, dass ihr Anführer das Zeichen gab, die Spieße zu schleudern und sie mit Armbrustbolzen aus den Sätteln zu holen. »Es verhält sich so, wie ich es Euch gerade versichert habe! Bewahrt Ruhe, Männer, und versündigt Euch nicht, indem Ihr uns einen Kampf aufzwingt, nach dem uns nicht verlangt, bei dem aber viel Blut fließen wird – und gewiss auch das Eure!« Sein Blick richtete sich wieder auf den Grauhaarigen, um weiter mit beschwörender Stimme fortzufahren: »Und was Ihr und Eure Männer mit diesem Geoffroy d’Ablis auszutragen habt, ist allein Eure Angelegenheit, in die wir uns nicht einzumischen gedenken! Ich sage es Euch noch einmal: Bei allem, was uns heilig ist, wir kennen Eure Peiniger nicht und stehen auch nicht in ihren Diensten! Wir sind vielmehr in Eile, um möglichst schnell über die Berge zu kommen!«
»Heilig? Was ist diesen Blutsäufern und Folterknechten denn schon heilig?«, rief jemand. »Nicht mal unseren Toten lassen sie ihren Frieden auf den Friedhöfen, sondern diese Leichenfledderer zertrümmern deren Grabsteine und graben sie aus, um unsere Verstorbenen sogar noch als Leichname in die Flammen ihrer verfluchten Scheiterhaufen zu werfen!«
»Jetzt wird es eng, Freunde«, raunte McIvor. »Wir sollten anreiten und im Galopp durch die Gruppe preschen. Das wird am wenigsten Blut kosten.«
Die Frauen, die sich anfangs noch ein Stück oberhalb am linken Hang im Schutz der Bäume gehalten hatten, waren mittlerweile näher gekommen. Die Übermacht ihrer Männer wiegte sie offensichtlich in Sicherheit.
Plötzlich stieß nun eine junge, gertenschlanke Frau, deren honigblonde Haarpracht in all dem Schwarz und Dunkelbraun der anderen Frauen des Sabarthès hervorstach, die beiden vor ihr Stehenden zur Seite, sprang durch die Lücke und lief zu ihnen herüber. Und dabei rief sie mit vor Freude sich fast überschlagender Stimme: »Tut ihnen nichts! Azéma, befehlt, dass sie die Waffen sinken lassen! Das sind Gerolt von Weißenfels und seine Freunde! Sie haben mir und meiner Schwester mehr als einmal das Leben gerettet! Ich kenne keine tapfereren und aufrichtigeren Menschen als diese vier Ritter!«
In sprachloser Verblüffung hatten sich die Blicke der Gralshüter auf die heraneilende, blond gelockte Frau gerichtet. Sie kannten sie nur als kleines, gerade achtjähriges Mädchen. Aber dennoch wussten sie sofort, wer da zu ihrer Ehrenrettung mit gerafften Rockschößen herbeistürzte.
»Bei allen Mooren meiner Heimat, jetzt kapiere ich endlich, warum Maurice unbedingt auf diesem Weg und nirgendwo sonst zu den Pyrenäen wollte!«, stieß McIvor grimmig hervor.
Es war Heloise, die kleine Schwester von ebenjener Beatrice Granville, zu der Maurice auf ihrer Flucht aus Akkon und auf ihrer Wüstenwanderung so heftig in Liebe entflammt war!