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Arnaud Gardell saß mit den vier Gralsrittern am Tisch der Foghana, raufte sich die Haare und murmelte immer wieder voller Bestürzung und Beschämung: »Meine Gäste beraubt unter meinem Dach! Beraubt unter meinem Dach! Nach allem, was Ihr für uns getan habt! Was für eine Schande!«

»Beruhigt Euch, Arnaud. Macht Euch keine Vorwürfe. Euch trifft nicht die geringste Schuld!«, redete Gerolt auf ihn ein. Jetzt galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren und nicht in hektische Betriebsamkeit zu verfallen. »Lasst uns lieber überlegen, wie wir die Spur dieses Verbrechers aufnehmen und wieder in unseren Besitz bringen können, was er uns gestohlen hat.«

Sie hatten sich genötigt gesehen, Arnaud und seine Frau aus dem Schlaf zu holen und sie in groben Zügen in das einzuweihen, was in der Nacht geschehen war. Denn nur er konnte ihnen jetzt mit Rat und Tat helfen, damit sie bei der Verfolgung von Arente Askabe nicht ziellos und ortsunkundig durch die zerklüftete Bergwelt irrten und dabei noch mehr kostbare Zeit verloren. Die Chance, den Teufelsknecht noch rechtzeitig einholen und stellen zu können, bevor er mit dem Heiligen Gral die schwarze Abtei erreichte, war auch so schon verschwindend gering.

Was genau man ihnen geraubt hatte, darüber hatten sie jedoch nur vage Andeutungen gemacht. Zudem stand Arnaud auch noch unter dem Schock, in den ihn die Mitteilung versetzt hatte, dass Beatrice an einem Herzschlag gestorben war. Den körperlichen Verfall, der Beatrice über Nacht zu einer alten Frau hatte werden lassen, hatten sie ihm und Brune jedoch verschwiegen. Dass sie von einem Herzschlag getroffen worden war, genügte völlig. Heloise hatte den Leichnam ihrer Schwester in ein Bettlaken gewickelt und den Gardells das Versprechen abgenommen, dafür Sorge zu tragen, dass niemand ihren verfallenen Körper zu sehen bekam, sondern dass Beatrice gut verhüllt zu Grabe getragen wurde.

»Wir müssen so schnell wie möglich in Erfahrung bringen, in welche Richtung dieser Arente Askabe mit seiner Beute verschwunden ist«, sagte Tarik, während sich Brune Gardell hinten am Herd zu schaffen machte und eine Hühnerbrühe aufwärmte. »Dabei sind wir auf Eure Hilfe angewiesen. Denn Euch wird man nichts verheimlichen, wenn jemand etwas darüber zu berichten weiß.« »Und die Zeit drängt, werter Herr Gardell!«, fügte McIvor hinzu. »Wir müssen so schnell wie möglich die Verfolgung aufnehmen und dabei auch die richtige Richtung einschlagen, wenn wir noch eine Chance haben wollen, diesen Arente Askabe rechtzeitig einzuholen.«

»Wenn nicht schon längst alles verloren ist«, murmelte Maurice mit dunkler Vorahnung.

Der Weinhändler nickte und sprang sofort auf. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, Ihr habt mein Wort!«, versicherte er und stürzte kurz darauf aus dem Haus.

Brune brachte den Topf mit der Hühnerbrühe zu ihnen an den Tisch und füllte vier Schalen. »Ich weiß, Euch wird kaum nach Essen zumute sein. Aber diese herzhafte Brühe wird Euch guttun. Sie ist die beste Rezeptur gegen die Nachwehen einer durchzechten Nacht!« Sie versuchte dabei ein aufmunterndes Lächeln, doch es kam gegen den Kummer und die große Bedrückung auf ihrem Gesicht nicht an.

»Wir werden Eurem Rat folgen, auch wenn uns wahrlich nicht der Sinn nach einer Mahlzeit steht. Seid bedankt für Eure Güte«, sagte Gerolt, um ihr das Herz ein wenig leichter zu machen. »Und jetzt seid so gut, zu Heloise zu gehen und ihr in ihrem Kummer Euren Beistand zu geben. Tut alles so, wie sie es sich für das Begräbnis ihrer Schwester von Euch erbittet, und stellt keine Fragen. Glaubt mir, dass es so besser ist für uns alle.«

»Das werde ich«, versprach Brune und begab sich nach oben zu Heloise und der Toten.

Schweigend löffelten sie die scharf gewürzte Suppe und sie tat ihnen so gut, wie ihre Gastgeberin gesagt hatte. Sie vertrieb ein wenig die bleierne Schwere in ihren Gliedern und sorgte allmählich dafür, dass sich ihre Kopfschmerzen legten.

»Was ist, wenn der heilige Kelch schon längst in Sjadús Händen oder gar schon in der schwarzen Abtei ist?«, brach Maurice das bedrückte Schweigen.

»Darüber will ich erst gar nicht nachdenken!«, murmelte McIvor.

»Ich kann und werde nicht daran glauben, dass schon alles verloren sein soll!«, wehrte sich auch Gerolt gegen diese vernichtende Vorstellung. »So nahe kann diese Abtei der Judasjünger gar nicht liegen, sonst wüsste man in dieser Gegend schon lange von solch einem Ort. Nein, das Versteck der Iskaris muss irgendwo tief in den Pyrenäen liegen, vielleicht sogar jenseits der Berge. Und wenn es uns gelingt, die Fährte von Arente Askabe noch rechtzeitig aufzunehmen, bleibt uns vielleicht noch eine Chance, das Große Werk zu verhindern und das Unheil abzuwenden.«

»Gebe Gott, dass es so ist und wir wirklich noch eine Chance erhalten, den Heiligen Gral und unsere Ehre als Gralshüter zu retten«, erwiderte Tarik mit gequälter Miene. »Ich wüsste nicht, wie ich sonst damit leben sollte, dass wir versagt haben.«

Wieder versanken sie in ein düsteres, schwer lastendes Schweigen.

»Lasst uns unsere Pferde satteln und alles zum Aufbruch bereit machen!«, schlug Gerolt nach wenigen Minuten vor. Er ertrug es nicht länger, untätig herumzusitzen und auf Arnauds Rückkehr zu warten.

»Und lasst uns nicht vergessen, Abschied von Heloise zu nehmen«, sagte McIvor mit einem schweren Seufzer, war sie ihm doch schon auf ihrem Wüstenmarsch wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen. Nur zu gern hätte er sich noch länger an ihrer Gegenwart erfreut. »Für sie wird jetzt eine schwere Zeit anbrechen, die viel Tapferkeit von ihr fordern wird. Aber sie wird auch das so bewunderswert überstehen wie all das andere, was sie mit uns so klaglos ertragen hat.«

Der Gedanke an den Abschied von Heloise versetzte auch Gerolt einen schmerzlichen Stich. Er wünschte, es müsste nicht sein. Doch er durfte jetzt nur Gedanken für ihre verzweifelte Aufholjagd haben. Was sonst in seinem Innersten war, musste ungesagt und verborgen bleiben.

Gerade hatten sie ihre Pferde im Stall gesattelt und ihre Säcke festgebunden, in denen auch reichlich Proviant steckte, den Brune ihnen rasch zusammengestellt hatte, als auch schon Arnaud zurückkehrte. Zu ihrer Erleichterung brachte er die Informationen, die sie brauchten, um ihre Suche nach dem Iskari in die richtige Richtung zu lenken.

»Der Schäfer Nicolas Higounet, der die Nacht draußen vor dem Dorf bei seiner Herde verbracht hat, er hat Arente Askabe heute Nacht gesehen!«, teilte er ihnen mit. »Er kam aus der Richtung, wo mein Obsthain an das Buschwerk des aufsteigenden Hangs grenzt. Er führte ein Maultier hinter sich her, jedoch ohne seinen üblichen Wagen, den er sonst immer vor das Tier gespannt hat. Dem Schäfer fiel er besonders deshalb auf, weil Arente sich offensichtlich alle Mühe gab, keinen Lärm zu machen. Und er hatte einen Lederbeutel über der Schulter hängen.«

Maurice nickte mit finsterem Blick.

»Aber er war nicht allein«, fuhr Arnaud rasch fort. »Oben am Talausgang haben drei Männer auf ihn gewartet. Einer von ihnen ist sofort nach Arentes Rückkehr losgeritten und hat die Straße nach Carcassonne genommen. Die anderen drei sind zusammen hoch in die Berge geritten.«

»Und welchen Weg haben sie eingeschlagen?«, wollte Gerolt sofort wissen. »Hat der Schäfer das auch beobachtet?«

Arnaud nickte. »Nicolas ist die ganze Sache sehr merkwürdig vorgekommen und er ist ihnen deshalb heimlich ein Stück gefolgt, wenn auch nicht allzu weit, weil er seine Herde nicht zu lange sich selbst überlassen wollte. Aber er hat doch gesehen, dass sie sich am Ende des Seitentals, in dem sie verschwunden waren, an der Gabelung getrennt haben. Einer der Männer hat den linken Weg eingeschlagen, während Arente Askabe mit dem anderen auf dem rechten verschwunden ist.«

»Arente hat Boten losgeschickt, um die Nachricht von seinem gelungenen Raub zu verbreiten und Sjadú zu informieren!«, folgerte Gerolt sofort und seine Freunde teilten seine Vermutung.

»Und wohin führt diese linke Abzweigung?«, kam sofort die nächste Frage, diesmal von Maurice.

»Das ist ein recht gewundener Bergpfad, den die Einheimischen nehmen, wenn sie auf dem kürzesten Weg in das Dorf Boucan oder hoch in die Bergkette hinter l’Artigue und hinüber nach Spanien wollen«, erklärte Arnaud. »Auf der Landstraße ist der Weg zwar weniger anstrengend, aber die führt erst hoch nach Tarcason, bevor sie dort scharf nach Süden abknickt und über Vicdessos nach Boucan führt, und das ist doch ein ziemlich großer Umweg. Nicolas erwartet Euch am Talausgang und wird Euch den Weg weisen, den die Schurken des Demiurgen genommen haben.«

»Ist diese Abkürzung zu Pferd begehbar?«, wollte Gerolt wissen. »Nun, Ihr seid erfahrene Reiter und habt verlässliche Pferde, wie ich annehme«, sagte Arnaud nach kurzem Zögern. »Ihr solltet deshalb nicht allzu große Schwierigkeiten haben. Allerdings werdet Ihr auf zwei, drei recht ungemütliche Strecken stoßen, wo ihr absitzen und die Tiere hinter Euch herführen müsst. Aber wenn ihr weiter als nur bis nach Boucan in die hohen Berge vorstoßen und gar hinüber nach Spanien wollt, dann rate ich Euch doch sehr, Eure Tiere in Boucan gegen trittfeste einheimische Maultiere einzutauschen. Denn danach wird das Gelände zu schwierig für Pferde, vor allem wenn Ihr nach verschwiegenen Pfaden durch die Bergketten sucht.«

McIvor verzog das Gesicht bei der Vorstellung, dass er seine hünenhafte Gestalt dem Rücken eines Maultieres anvertrauen sollte. »Das werden wir dann wohl tun müssen.«

»Am besten besorgt Ihr Euch die Maultiere in Boucan. Dort hält sich zurzeit auch ein guter Freund von mir auf, der Euch notfalls eine große Hilfe sein kann, etwa wenn Ihr einen erfahrenen Bergführer braucht«, sagte der Weinhändler. »Fragt nach Pierre Mateau. Jeder kennt ihn diesseits und jenseits der Pyrenäen. Wer sein Vertrauen genießt, hat auch das aller anderen, sofern sie sich zu unserem Glauben bekennen.«

Tarik hob leicht die Augenbrauen. »Ist er einer von Euren Priestern, Euren Parfaits?«

Arnaud nickte. »Das ist er und einer der mutigsten. Nehmt das hier mit und weist Euch damit bei Pierre Mateau aus.« Er zog dabei ein ledernes Halsband unter seiner Kleidung hervor und hob es sich über den Kopf. Am Ende der Lederschnur hing eine kleine, kreisrunde Scheibe aus engem Geflecht, das auf der einen Seite grün und auf der anderen blau gefärbt war. Dies waren die Farben der Parfaits, wie die Gralsritter von Heloise wussten. »Pierre Mateau hat es geweiht und mir vor vielen Jahren zum Geschenk gemacht. Er wird es sofort wiederkennen und wissen, dass Ihr meine Freunde seid und er Euch vertrauen kann.« Er gab einen schweren Stoßseufzer von sich. »Ich wünschte, ich könnte mehr für Euch tun!«

»Es ist viel mehr, als wir zu erhoffen wagten, guter Freund! Gott segne Euch und Eure Familie! Und gebt gut acht auf Heloise, sie ist uns sehr teuer!«, sagte Gerolt zum Abschied und schwang sich dann, ebenso wie seine Kameraden, in den Sattel, um nun unverzüglich die Verfolgung von Arente Askabe und seinem Begleiter aufzunehmen.

Als sie durch das Tor hinaus auf die Dorfstraße ritten, stand Heloise vor dem Zugang zum Haus. Mit tränengeröteten Augen sah sie zu ihnen herüber, sie rief ihnen jedoch kein Lebewohl nach und hob auch nicht die Hand, um ihnen zuzuwinken. Reglos stand sie da und blickte ihnen so lange nach, bis sie hinter dem ersten Berghang entschwanden.