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Der Schäfer Nicolas begleitete sie bis ans Ende des nächsten Seitentals, wies ihnen an der Gabelung den Weg, den die beiden Männer zu nächtlicher Stunde eingeschlagen hatten, wünschte ein gutes Gelingen und nahm freudig die beiden Silbermünzen an, bevor er wieder zu seiner Herde zurückkehrte.

Sie folgten dem Pfad so schnell, wie es ihnen die tiefen Tannenwälder, die zahllosen Windungen, engen Kehren und steilen Abstiege erlaubten. Und oft genug trieben sie die Pferde zu einem wahrhaft halsbrecherischen Tempo an und jagten über den schmalen Weg, sodass weniger todesmutigen Reitern angst und bange geworden wäre.

Rücksicht auf Leib und Leben war ihnen in ihrer Lage nicht gestattet. Verlor eines ihrer Pferde den sicheren Tritt und stürzte mit seinem Reiter in eine der Schluchten, an deren steil abfallenden Hängen sich der Pfad streckenweise entlangschlängelte, dann war das der sichere Tod. Aber das Risiko, dass einer von ihnen bei dieser waghalsigen Aufholjagd sein Leben ließ, mussten sie eingehen, wenn sie noch eine Chance haben wollten, die beiden Teufelsknechte einzuholen. Und das musste geschehen, bevor jene auch nur in die Nähe der schwarzen Abtei gelangten. Denn dort würden sie mit Sicherheit auf vorgeschobene Wachposten stoßen, die bei ihrem Auftauchen sofort Alarm schlagen, Verstärkung heranführen und sie mit großer Übermacht angreifen würden. Sie mussten den Vorsprung wettmachen, koste es, was es wolle! Und ihre einzige Hoffnung lag in der Annahme, dass die schwarze Abtei tief in den Bergzügen der Pyrenäen versteckt war und dort in einem Gebiet lag, das schwer zugänglich war.

Arente Askabe hatte nicht versucht, sie umzubringen. Das wäre für einen Judasjünger wie Sjadú und Urakib und deren Gefolgschaft das Nächstliegende gewesen. Nicht eine Sekunde hätten sie überlegt und sich die einmalige Gelegenheit entgehen lassen, gleich vier verhasste Gralshüter auf einen Streich in den Tod zu schicken. Dass Arente Askabe das aber nicht getan hatte, ließ darauf schließen, dass er nicht zu der Kriegertruppe der Teufelsknechte gehörte, denen solch ein Mord so leicht von der Hand gegangen wäre wie einem Schäfer das Scheren seiner Schafe. Es war deshalb anzunehmen, dass er nur zu dem weit gesponnenen Netz aus Zuträgern und Spionen zählte, zu Sjadús einheimischen Augen und Ohren.

»Was für ein Pech, dass wir mit dem Gottesurteil so viel Aufmerksamkeit erregen mussten, während sich dort in Unac gerade dieser Zuträger Arente aufhielt!«, zürnte Maurice, als der Pfad gute vier Stunden nach ihrem Aufbruch an einer Bergflanke so eng wurde, dass sie absitzen und ihre Pferde am Halfter hinter sich herführen mussten.

»Was hätten wir denn anderes tun sollen? Beatrice und die beiden anderen Angeklagten vielleicht einfach seelenruhig der Inquisition überlassen?«, wandte McIvor sofort ein.

»Vielleicht wäre das sogar besser gewesen«, erwiderte Maurice grimmig. »Für den Heiligen Gral allemal! Früher oder später wird die Inquisition sowieso mit der Schärfe des Schwertes und mit ihren Scheiterhaufen jeden vernichten, der sich zur Lehre der Katharer bekennt!«

»Du bist verbittert und das können wir dir gut nachfühlen. Aber das setzt dich deshalb noch lange nicht ins Recht, mein Freund«, wies Gerolt ihn sanft zurecht. »Wir haben getan, was getan werden musste, um Beatrice und die anderen zu retten. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen und schon gar nicht zu beklagen. Und wer weiß, ob wir diesem Kerl oder einem anderen Iskari nicht auch aufgefallen wären, wenn es die Feuerprobe nicht gegeben hätte.« »Du sprichst mir aus der Seele!«, pflichtete der Schotte ihm bei. »Mich hätte er wohl so oder so von der Beschreibung her erkannt.«

Hinter der engen Kehre weitete sich der Pfad wieder, führte über einen sanft geneigten Hang abwärts in ein kleines, oval geschnittenes Tal und auf der anderen Seite fast schnurgerade durch Wiesenflächen zu einem Bergeinschnitt hinauf. Die Strecke war bis zum Pass gut zu übersehen, sie war menschenleer und barg keine sonderlichen Gefahren. Sofort sprangen sie wieder in den Sattel und trieben die Pferde zu wildem Galopp an. Denn dies war eines jener seltenen Teilstücke, auf denen sie gegenüber behäbig dahintrottenden Maultieren viel Zeit gutmachen konnten.

Ihre Hoffnung, auch hinter dem Bergsattel auf einen ebenso breiten Weg zu stoßen und ihm weiter im Galopp folgen zu können, erfüllte sich jedoch nicht.

»Tod und Teufel, das sieht mir aber verdammt ungemütlich aus!«, rief McIvor und zügelte schnell sein Pferd, als sie auf die Passhöhe kamen und im nächsten Moment die enge, stark gekrümmte Bergschlucht vor sich liegen sahen, die es nun zu passieren galt. Und sarkastisch fügte er hinzu: »Schöner Galopp ade, würde ich mal sagen! Hier zwingt uns Mutter Natur, zu Fuß zu gehen. Und das wohl für einige Zeit, wenn mich mein Adlerauge nicht sehr täuscht!«

»Wäre ja auch zu schön gewesen!«, sagte Maurice und tätschelte seinem Pferd den Hals, das die kurze Ruhepause mit einem Schnauben begrüßte. »Trösten wir uns damit, dass die beiden Iskaris hier bestimmt auch nur sehr langsam vorangekommen sind.«

Auch Tarik machte ein betrübtes Gesicht. »Ja, wenn die Hoffnung nicht wäre, dann würde das Leben aufhören. Also dann, gehen wir es an, Kameraden!«

»Du sagst es, Levantiner! Also runter von den Pferden und weiter im Gänsemarsch an der Felswand entlang«, sagte Gerolt mit einem schweren Seufzer und schwang sich aus dem Sattel. Er warf einen kurzen Blick nach Nordwesten, wo sich der Himmel bedrohlich zuzog und Regen verhieß. Und wenn sie jetzt etwas gar nicht gebrauchen konnten, dann war das ein Wolkenbruch, der die Wege und Pfade unter Wasser setzte und das Felsgestein rutschig werden ließ. Er hoffte, dass der Regen ausblieb oder wenigstens erst dann fiel, wenn sie diese höchst gefährliche Strecke hinter sich gebracht hatten.

Die Schlucht, die mit mehreren scharfen Windungen durch die Berge schnitt und deren Länge deshalb auch nicht zu überblicken war, mochte an ihrer breitesten Stelle etwa zweihundert Ellen messen. Doch die rissigen Felswände, die zum Teil fast lotrecht in die Tiefe fielen, rückten an mehreren Stellen bis auf vierzig, fünfzig Ellen aneinander heran. Von unten drang das Rauschen eines Wildbaches zu ihnen herauf.

Der Pfad, der sich zu ihrer Rechten an der Flanke der Schlucht hinzog, war zwar gangbar, aber doch kaum mehr als ein besserer Felsgrat. Nur im Schritt konnten sie ihre Tiere hinter sich herführen, und sogar bei diesem Tempo mussten sie achtgeben, wohin sie traten. Immer wieder lösten sich Steine unter den Hufen der Pferde, die zum ersten Mal Furcht zeigten, und polterten in die Tiefe.

Hinter der zweiten Windung erwartete sie ein überraschender Anblick, der jedoch alles andere als Freude bei ihnen weckte. Etwa hundert Ellen vor ihnen spannte sich eine Hängebrücke über die Schlucht, deren Breite an dieser Engstelle etwa zwanzig Ellen betrug und es den Bergbewohnern erlaubt hatte, hier einen Übergang zu schaffen. Eine vorspringende Felsplatte schob sich von der gegenüberliegenden Seite ein gutes Stück weit in die Schlucht hinaus. Jenseits der Hängebrücke zeigte sich ein breiter Einschnitt im Berg, dessen Tannenwald sich bis fast an das Ende des Stegs erstreckte.

McIvor stöhnte gequält auf. »Auch das noch! Reicht es denn nicht, dass wir uns schon über solch schmale Felsgrate quälen müssen? Diese Konstruktion sieht alles andere als vertrauenserweckend aus!« Und mit verkniffener Miene musterte er die Hängebrücke. Ein grobmaschiges Netz aus längs gespannten und quer verknoteten Seilen ragte zu beiden Seiten der leicht durchhängenden Brücke etwa hüfthoch auf und hielt einen Boden aus dicken Brettern.

»Wenn sich die Einheimischen diese Brücke gebaut haben und sie regelmäßig benutzen, dann dürfte sie auch sicher zu überqueren sein«, erwiderte Gerolt zuversichtlich, konnte sich angesichts dieses schwankenden Stegs über dem schwindelerregenden Abgrund jedoch eines flauen Gefühls in der Magengegend nicht erwehren.

»Du hast gut reden!«, knurrte McIvor, der mit seinem Pferd auf dem Felspfad vorangegangen war. Und ihre Reihenfolge zu ändern, erlaubte der Grat nicht. »Ich werde mich wohl als Erster auf das verfluchte Ding wagen und darauf vertrauen müssen, dass es nicht nur das Gewicht von Maultieren und kleinwüchsigen Gestalten trägt!«

»Stirb als Löwe und lebe nicht als Lämmlein!«, rief Tarik ihm spöttisch zu. »Niemals wird Gefahr ohne Gefahr besiegt!«

»Deine Ratschläge sind so hilfreich wie die, die der Kater der Maus gibt!«, rief McIvor bissig über die Schulter zurück. Dann jedoch gab er sich einen Ruck und wagte sich nun auf den Steg hinaus. Mit der rechten Hand hielt er sich oben am Seil fest, während er sein Pferd mit der linken hinter sich herzog. Bei jedem Schritt prüfte er erst, ob das Brett unter seinem Stiefel nicht morsch war und ihn möglicherweise durchbrechen ließ. Das Tier schnaubte nervös, als der Steg schon nach wenigen Schritten leicht zu schwanken begann. Unter allerlei Verwünschungen setzte er seinen zögerlichen Gang fort. Doch die wahre Gefahr lauerte nicht auf der Brücke über der schwindelerregenden Tiefe, sondern drüben im Tannenwald!