Als er den tiefsten Punkt in der Mitte der Hängebrücke erreicht hatte und nun die zweite Hälfte anging, bewegten sich die Zweige auf der anderen Seite. Mehrere scharfe Laute, bei denen es sich um das typische Geräusch von vorschnellenden Armbrustspannungen handelte, kamen aus dem Unterholz. Fast gleichzeitig sirrten eisengespickte Bolzen über die Schlucht. Einer davon verfehlte McIvor nur um eine halbe Armlänge und bohrte sich in den Sattel seines Pferdes, das unter schrillem Wiehern aufzusteigen versuchte.
»Wir sind unter Beschuss!«, brüllte McIvor und wurde von seinem scheuenden Pferd zur Seite gestoßen. Er taumelte rücklings gegen das Seil und geriet dabei mit seinem Oberkörper weit über den Abgrund. Hätte er das Halfter nicht mit festem Griff gepackt gehabt, er wäre in die Tiefe gestürzt.
»Iskaris!«, schrie Maurice, dem einer der Bolzen rechts am Kopf vorbeisirrte. Das Geschoss prallte hinter ihm gegen die Felswand und riss als Querschläger ein Loch in Tariks Mantel. Der Bolzen hatte jedoch nicht mehr genug Wucht, um ihm dabei eine Verletzung zuzufügen.
Aus dem Unterholz des Tannenwalds stürmten jetzt sieben Männer hervor, die dort auf der Lauer gelegen hatten. Arente Askabe musste in dem Dorf Boucan, das nicht mehr weit entfernt sein konnte, auf bewaffnete Gefolgsleute gestoßen sein und sie davon unterrichtet haben, dass die Gralsritter bei Tagesanbruch zweifellos seine Verfolgung aufnehmen würden. Und diese Hängebrücke war der perfekte Ort für einen Hinterhalt!
Fünf der Teufelsknechte hatten sich zusätzlich zu ihren Schwertern mit Armbrüsten bewaffnet und legten nun hastig neue Bolzen in die Schussrinnen. Indessen sprangen die beiden anderen Iskaris, bewehrt mit schweren Äxten, auf die dicken Pfähle zu, an denen die Spannseile der Hängebrücke gesichert waren.
Gerolt wusste, dass er McIvor, ja sie alle jetzt nur mit seiner Segensgabe retten konnte. Rasch richtete er Kraft und Willen auf das verborgene Zentrum in seinem Innern und rief Gott um Beistand an.
Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, vor dem Schotten die Luft zu einem Schutzschirm zu verdichten, als auch schon die nächsten Bolzen pfeilschnell von den Armbrüsten flogen. Die Geschosse trafen keine Pferdelänge von McIvor entfernt auf eine unsichtbare Wand, prallten von ihr ab und fielen in die Tiefe.
Indessen hatten die beiden Judasjünger mit den Äxten die Pfähle erreicht und wollten auf die dicken Seile einschlagen.
Gerolt schickte zwei gewaltige Bälle aus verdichteter Luft über die Schlucht, die sie wie Keulenschläge trafen und mehrere Schritte nach hinten schleuderten. Einer von ihnen schlug dabei so hart auf dem felsigen Boden auf, dass er reglos liegen blieb. Es überraschte Gerolt, wie leicht es ihm gefallen war, innerhalb weniger Augenblicke so viel magische Kraft zu entwickeln und über diese Entfernung ins Ziel zu setzen. Nie zuvor war ihm auch nur Ähnliches gelungen. Und er wusste, dass die Anbetung im gleißenden Licht des unverhüllten heiligen Kelches in der kleinen Kapelle dafür verantwortlich war. Sie hatte seine göttliche Segensgabe um ein Vielfaches gesteigert. Und wie gut er sie jetzt gebrauchen konnte!
»Nichts wie über die Brücke!«, schrie Maurice und rannte los. »Sie dürfen uns nicht entkommen!«
Sie hatten alle denselben Gedanken. Wenn sich Arente Askabe unter den Iskaris befand, konnte sich dieser Hinterhalt mit ein wenig Glück als Segen herausstellen und sie wieder in den Besitz des Heiligen Grals bringen!
McIvor hatte inzwischen sein Gleichgewicht wiedergefunden und riss schon sein Schwert aus der Scheide, während er noch die letzten Schritte auf der Hängebrücke mit seinem Pferd hinter sich brachte. Kaum hatte er ihr Ende erreicht, ließ er das Halfter los und stürzte auf den Iskari zu, der beim Sturz seine Axt verloren hatte, aber sogleich wieder auf die Beine gekommen war und blankgezogen hatte.
»Hier findet dein erbärmliches Leben ein Ende, du Hund der Unterwelt!«, schrie McIvor voller Wut und Verachtung, parierte den überstürzt angesetzten Stich des Mannes, packte das Gralsschwert mit beiden Händen und führte einen gewaltigen Hieb, mit dem er dem Iskari die Klinge aus der Hand schlug. »Willkommen in der Hölle!« Und mit diesen Worten ließ er die Klinge auf ihn niedersausen. Todesangst sprang dem Judasjünger in die Augen, dann löschte der Tod jegliche Regung in ihm aus.
Gerolt gab Maurice und Tarik mit dem Einsatz seiner Gabe als Gralshüter Deckung und Unterstützung, als sie sich nun beeilten, auf die andere Seite der Schlucht zu McIvor zu kommen, der wie ein Racheengel über die Armbrustschützen herfiel. Dabei konzentrierte sich Gerolt insbesondere auf zwei Judasjünger. Entsetzt über den Fehlschlag ihres Hinterhalts, dachten diese beiden Männer nicht daran, sich einem Kampf Mann gegen Mann zu stellen. Sie ließen einfach ihre Armbrüste fallen und versuchten, zurück in den Wald und zu ihren Reittieren zu flüchten. Und das durfte ihnen nicht gelingen.
Mit ausgestreckter Hand holte Gerolt sie aus dreißig, vierzig Ellen Entfernung mühelos von den Beinen. Sie schrien in panischer Angst, als sie merkten, dass eine unsichtbare Kraft sie beharrlich festhielt, wie sehr sie sich auch dagegenzustemmen versuchten, und ihre Flucht in den nahen Tannenwald vereitelte.
Erst als Maurice und Tarik sicher über die Brücke gekommen waren und dort mit tödlicher Schwertkunst in den Kampf eingriffen, gab Gerolt die beiden Iskaris aus seinem magischen Griff frei. Denn jetzt würden sie ihnen nicht mehr entkommen.
Das kurze, blutige Gefecht war schon entschieden, noch bevor Gerolt zu seinen Freunden auf die andere Seite der Schlucht gelangt war. Er kam jedoch gerade noch rechtzeitig, um McIvor in seiner unbändigen Kampfeswut vor einem möglicherweise verhängnisvollen Fehler zu bewahren. Denn der zweite axtbewehrte Iskari, der zu Boden geschleudert worden und benommen liegen geblieben war, hatte sich wieder aufgerappelt, zur Klinge gegriffen und es sogleich mit dem Schotten zu tun bekommen, der ihm nun den tödlichen Hieb versetzen wollte.
»Nicht, McIvor!«, schrie Gerolt ihm zu. »Wir brauchen ihn vielleicht noch – und zwar lebend!«
Geistesgegenwärtig drehte McIvor die Klinge seiner Waffe mitten in der zuschlagenden Bewegung, sodass der Hieb dem Iskari nicht den Kopf vom Rumpf trennte, sondern ihn mit der Breitseite des Schwertes traf.
Es lag jedoch noch viel Kraft in dem Schlag, dass Gerolt fürchtete, der Schotte hätte dem Mann den Schädel zertrümmert und ihn trotz allem vom Leben in den Tod befördert. »Verdammt, mit so einem Schlag könntest du sogar einen Ochsen in die Knie zwingen! Lebend, habe ich gesagt!«, rief er bestürzt und lief zu dem am Boden liegenden Iskari.
»Was willst du? Das hier ist doch kein Kinderreigen!«, verteidigte sich McIvor. »Hättest eher sagen sollen, dass einer von ihnen am Leben bleiben soll!«
»Ist mir ja auch gerade erst durch den Kopf geschossen«, erwiderte Gerolt und stellte im nächsten Moment zu seiner Erleichterung fest, dass der Mann lebte. »Los, hilf mir, ihn gut zu fesseln und zu knebeln. Du kennst ihren Fanatismus und weißt, wozu Iskarikrieger fähig sind. Eher bringen sie sich selbst um, als einem Gralshüter lebend in die Hände zu fallen! Und soweit ich weiß, ist es auch noch keinem von unserer Bruderschaft gelungen, einen Judasjünger als Gefangenen zu nehmen. Tarik und Maurice, ihr sucht indessen nach ihren Pferden oder Maultieren. Möge das Glück auf unserer Seite sein und der Heilige Gral sich in ihrem Gepäck befinden!«
Tarik und Maurice säuberten schnell ihre Klingen an der Kleidung der Toten und machten sich dann auf die Suche nach den Reittieren, die irgendwo oberhalb im Tannenwald angebunden sein mussten.
Gerolt und McIvor fesselten indessen den bewusstlosen Iskari. Dabei achtete Gerolt mit größter Sorgfalt darauf, dass sie ihm einen festen Knebel verpassten. Nur zu gut erinnerte er sich daran, was Abbé Villard ihnen einmal über einen gefangenen Iskari erzählt hatte. Dieser hatte es trotz fester Fesseln geschafft, sich selbst umzubringen, indem er sich mit den Zähnen einen Zipfel seines Umhangs in den Mund gezerrt und so lange den Stoff in seine Kehle gewürgt hatte, bis er daran erstickt war. Manche Iskaris sollten sogar fähig sein, ihre eigene Zunge weit in den Rachen zu legen oder ihre Kehle mit Erbrochenem zu füllen, um auf diese Weise den Tod durch Ersticken herbeizuführen.
Und wie gut sie daran getan hatten, einen lebenden Judasjünger in ihre Hände zu bekommen, zeigte sich wenig später, als Maurice und Tarik zurückkehrten – mit leeren Händen und enttäuschten Gesichtern.
»Die Tiere haben wir gefunden, alles Maultiere«, berichtete Maurice niedergeschlagen. »Aber den Würfel mit dem Heiligen Gral hatten sie nicht dabei. Wir haben alles gründlich durchsucht, auch die Gegend nach einem Versteck abgesucht. Nichts!«
»Das wäre wohl auch zu viel Glück auf einmal gewesen«, sagte Tarik. Dann deutete er auf ihren gefesselten und geknebelten Gefangenen. »Wir müssen alles aus ihm herausbekommen, was er über den Heiligen Gral und die schwarze Abtei weiß!«
»So ist es!«, bestätigte Gerolt. »Aber nicht hier. Wir binden ihn auf eines der Maultiere und nehmen ihn mit. Verhören werden wir ihn, wenn wir diesen Pierre Mateau gefunden haben und . . .«
Der Schotte machte eine skeptische Miene. »Ich habe noch nie davon gehört, dass jemals ein Iskari zum Verräter am Fürsten der Finsternis geworden wäre. Weder von Abbé Villard noch von Antoine. Und die hätten uns mit Sicherheit davon berichtet, wenn das den Gralshütern schon einmal gelungen wäre! Also wie, in Gottes Namen, sollen ausgerechnet wir solch einen Teufelsknecht dazu bringen, der erste Verräter seiner Höllenbande zu werden?«
»Wie du es gerade schon gesagt hast, McIvor«, antwortete Gerolt. »Nämlich buchstäblich in Gottes Namen und unter Verwendung von reichlich Weihwasser und geweihten Hostien! Und die werden wir uns hoffentlich in diesem Dorf Boucan beschaffen können!«