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Ohne eine Rast einzulegen, drangen sie Stunde um Stunde immer tiefer in die Wildnis der Pyrenäen ein. Die letzten tiefen Wälder mit ihren hohen Nadelbäumen lagen längst weit unter ihnen, als das trübe Licht der sinkenden Sonne nur noch auf die Granitspitzen und Schneefelder der höchsten Gipfel fiel. Jetzt krallten sich fast nur noch Farne, dichtes, dornenreiches Gestrüpp sowie kleinwüchsige, windgeneigte Tannen und andere zähe Gewächse in das Erdreich, das ihnen zwischen den Felsen und dem Geröll kargen Lebensraum bot. Mit dem schwindenden Licht zogen Nebelfelder auf und trieben wie milchige Schleier über glatt gefegte Bergkuppen und Felsklippen hinweg, die sich in dem Gewoge wie Riffe in schwerer Dünung ausnahmen.

Mit einer zähen Ausdauer, die keiner der Gralsritter in dem spindeldürren Körper ihres Führers vermutet hätte, ging Galcerand Salgues voran. Ein Reittier hatte er bei ihrem Aufbruch in Boucan verschmäht, sei er doch zu Fuß schneller.

Als der Weg für die Maulesel zu schmal und unbegehbar wurde, ließen sie die Tiere in einem kleinen Höhental zurück, wo sich um eine Quelle ein kleiner Teich mit einigem Buschwerk gebildet hatte. Jetzt galt es, sich die aus Ästen geflochteten Tragegestelle mit den Weihwassergefäßen auf den Rücken zu schnallen. Heloise bestand darauf, den Sack mit den Pechfackeln und den zwei Seilen zu tragen, die sie vorsorglich mitgenommen hatten. Den Beutel, in dem sich neben den Kutten und anderen Dingen auch die Schatulle mit den vier Votivtafeln und dem versiegelten Dokument befand, hängte sich McIvor noch zusätzlich zu seiner großen Last über die Schulter.

War der Marsch bisher schon nicht gerade eine Erholung gewesen, so forderte er nun noch mehr Anstrengung und Aufmerksamkeit von ihnen. Der Einsiedler führte sie stundenlang weiter über scheinbar endlose steile Serpentinen und Pfade, die im Zwielicht kaum zu erkennen waren.

Es ging durch eine abweisend kalte, unwirtliche Landschaft, die von grauschwarzen Felsen und einem Labyrinth von Seitentälern und Schluchten beherrscht wurde. Wie tiefe schartige Wunden klafften sie in der nur noch spärlich bewachsenen Ödnis, als hätte ein Zyklop mit seinem gewaltigen Schwert in wilder Vernichtungswut auf die Bergketten eingeschlagen und sie zu zerstückeln versucht. In manch einer Klamm schäumte ein Wildbach durch sein gewundenes Bett, schoss über rund gewaschenes Gestein, umwirbelte vorspringende Felskanten und erfüllte die Schlucht mit seinem Tosen.

»Wäre ich jetzt allein, würde ich wohl niemals wieder hier herausfinden«, murmelte Maurice beklommen, als sie sich in nächtlicher Finsternis und klammer Kälte eine schmale Schotterrinne aufwärtskämpften.

»Tod und Teufel, hier kann man als Fremder auf der Suche nach einem Weg zur nächsten Ansiedlung wirklich alt und grau werden!«, pflichtete ihm McIvor bei.

»Und sich beim Sturz in eine dieser Schluchten schneller den Tod holen, als man das Ave-Maria beten kann«, fügte Tarik hinzu. »Kein Wunder, dass die Iskaris ausgerechnet diese Bergregion für ihre schwarze Abtei gewählt haben!«

Diese Bemerkung lenkte ihr leises Gespräch wieder einmal auf das, was sie erwartete, wenn sie den gesuchten Ort gefunden hatten und die Aufgabe vor ihnen lag, irgendwie in die Abtei der Teufelsknechte einzudringen und das Große Werk zu verhindern. Und jeder stellte sich im Stillen die Frage, ob das überhaupt zu schaffen sei und wer von ihnen dabei wohl den Tod finden werde.

»Einen Sturmangriff auf den Haupteingang der Abtei können wir wohl gleich vergessen. Da werden wir bestimmt sofort aufgerieben, auch wenn wir das Überraschungsmoment anfangs auf unserer Seite haben sollten«, sagte Gerolt. »Der Iskari hat von starker Bewachung und mehreren Pforten gesprochen, die zu überwinden sind, um in diese schwarze Halle zu kommen, wo das Teufelswerk seinen Lauf nehmen soll.«

»Das halte auch ich für ein Himmelfahrtskommando«, sagte Tarik. »Wir müssen den Zugang zu diesem Labyrinth der Sühne finden, von dem er gesprochen hat. Denn nur da werden wir auf keine Wachen stoßen.«

»Und das wird seinen guten Grund haben, den ich lieber gar nicht wissen möchte. Sonst ziehe ich vielleicht doch noch das Himmelfahrtskommando vor«, warf Maurice trocken ein. »Denn wenn es noch keinem Teufelsknecht gelungen ist, da lebend herauszukommen, wird es auch für uns kein Spaziergang werden.«

»Wir sind Gralsritter und keine Schergen des Teufels!«, verkündete McIvor. »Wir werden der Bande schon zeigen, was wir unter Sühne verstehen!«

»Dein Wort in Gottes Ohr!«, erwiderte Tarik. »Aber den Ausgang von diesem Teufelslabyrinth müssen wir erst mal finden!«

»Ich rede noch mal mit unserem Führer. Denn wenn einer den Weg dorthin finden kann, dann ist er das«, sagte Gerolt und zwängte sich an seinen Freunden vorbei an die Spitze.

Abrupt blieb Galcerand Salgues stehen, als Gerolt ihn fragte, ob es wohl in der Nähe des Ortes, auf den die drei okzitanischen Bezeichnungen zutrafen, auch einen kleinen Fluss und einen Wasserfall sowie in unmittelbarer Nähe einen versteckten kleinen Talkessel gab.

»Ja, gleich hinter dem Pecol!«, stieß der Eremit hervor und klang plötzlich erschrocken. Es war das erste Mal, dass er seinen scheinbar unerschütterlichen Gleichmut verlor. »Dort gibt es hinter einem großen Felsvorsprung, der wie der Fuß eines Riesen aussieht, ein schmales, kurzes Tal mit einem Bachlauf, der am Talende von einem Wasserfall gespeist wird. Aber dort könnt Ihr nicht hin!«

»Warum nicht?«, fragte Gerolt verwundert.

»Weil über diesem Tal der Atem des Todes liegt!«, antwortete Galcerand Salgues. »Er hat meinen beiden Söhnen den Tod gebracht.«

»Und was soll dieser Atem des Todes sein?«

»Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass jeder den Tod findet, der sich dorthinein wagt«, sagte der Einsiedler. »Als ich selbst noch ein Kind war, habe ich dieses Tal erkundet, ohne dass mir dabei etwas zugestoßen wäre. Doch als ich vor nun gut zwanzig Jahren zufällig mit meinen Söhnen in dieses Gebiet kam und ihnen das Geheimnis des Wasserfalls zeigen wollte und sie mir dabei vorausliefen, da brachen sie schon nach wenigen Schritten zusammen. Ich konnte ihnen zwar noch ein Seil zuwerfen und sie daran herausziehen, aber ihren Tod konnte ich nicht abwenden. Sie starben wenige Minuten später in meinen Armen.«

Alle hatten gehört, was Galcerand Salgues gesagt hatte. Und sie wussten sofort, was sich hinter dem Atem des Todes verbergen musste – das Werk des Schwarzen Fürsten und seiner Teufelsknechte!

»Sie müssen dieses Tal auf irgendeine Weise vergiftet haben, um ihren Versammlungsort vor Entdeckung zu schützen!«, sagte Maurice und sprach damit aus, was ihnen allen durch den Kopf ging. »Aber davon werden wir uns nicht aufhalten lassen. Oder sehe ich das falsch, Kameraden?«

»Du liegst goldrichtig!«, bekräftige McIvor grimmig. »Denen werden wir ihren Atem des Todes austreiben! Fragt mich nicht, wie, aber irgendetwas wird uns schon einfallen!«

»Welches Geheimnis birgt der Wasserfall?«, wollte Gerolt nun von ihrem Führer wissen.

»Man kann in der Felswand so etwas wie einen Grat finden. Wenn man den erklimmt und der Rundung der Felswand folgt, gelangt man hinter den Wasserfall und stößt dort auf eine Felsspalte, die den Berg durchschneidet und auf der anderen Seite in den Talkessel mündet«, erklärte Galcerand Salgues. »Aber glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass . . .«

»Wir glauben Euch, dass dort tödliche Gefahren lauern. Aber wir müssen es dennoch wagen! Wir haben gar keine andere Wahl und uns läuft die Zeit davon«, fiel Gerolt ihm ins Wort. »Führt uns zu diesem Tal, über dem der Atem des Todes liegt!«