Dem Stand des Vollmondes nach zu urteilen, der immer nur kurz hinter dunklen Wolkenfeldern auftauchte und wie eine fleckige Silberscheibe am Nachthimmel aufstieg, musste es eine Stunde vor Mitternacht sein, als sie den felsigen Riesenfuß Pecol und damit den Zugang zu dem Tal des Todes erreichten.
Sie lagerten kurz an der Stelle, wo der rauschende Bergbach am Pecol vorbeifloss, um dann einer Biegung zu folgen und kurz dahinter in einer steil abwärtsführenden Klamm zu verschwinden. Das vor ihnen liegende schmale Tal, in dem die Söhne ihres Führers den Tod gefunden hatten, maß in seiner Länge etwa zwei- bis dreihundert Ellen, war weniger als ein Drittel davon breit und endete vor dem engen Bogen der Hinterwand, wo ein gischtender Wasserfall aus gut dreißig, vierzig Ellen Höhe herabfiel. Ein Dickicht aus fast brusthohen Sträuchern bedeckte den Talboden und zog sich sogar noch ein Stück die Hänge hinauf. Die Dunkelheit ließ jedoch nicht erkennen, um was für Gewächse es sich dabei handelte.
»Müsst ihr euch denn wirklich dort hineinbegeben, Gerolt?«, fragte Heloise mit Angst in der Stimme. »Gibt es keine andere Möglichkeit als dieses verfluchte Tal?«
Gerolt schüttelte den Kopf. »Glaub mir, dass wir nicht hier stehen würden, wenn es einen weniger gefährlichen Weg zur Abtei der Teufelsknechte gäbe! Du wirst hier mit Galcerand zurückbleiben. Wenn ihr bis zum Morgengrauen kein Lebenszeichen von uns bekommen habt, wird er dich nach Boucan zurückbringen. So haben wir es besprochen. Und genau das wirst du auch tun, Heloise!«
Er wollte sich abwenden und zu seinen Kameraden gehen, die sich schon etwas näher an den Taleingang herangewagt hatten. Doch sie griff schnell nach seiner Hand und hielt ihn fest. »Gerolt, versprich mir, dass du zurückkommst!«, flüsterte sie beschwörend. »Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren! . . . Bei McIvor, Tarik und Maurice, bei jedem von ihnen würde es mich tief schmerzen, wenn ihnen etwas zustoßen würde. Aber bei dir ist es anders, Gerolt. Da schnürt mir allein schon der Gedanke, dass es geschehen könnte, das Herz auf unerträgliche Weise zu!«
Die Berührung ihrer Hand ging ihm durch und durch. Ihm war, als hätte sie in seinem Innern eine Saite angeschlagen, deren Schwingungen sich in seinem ganzen Körper ausbreiteten, seine Brust füllten und sein Herz in einen schnellen Rhythmus versetzten.
»Heloise, ich . . .« Er verspürte einen Kloß im Hals und schluckte schwer, bevor er weitersprechen konnte. »Nichts wünschte ich mehr, als dir ein solches Versprechen geben zu können. Aber was geschieht, liegt jetzt in Gottes Hand und bei den Kräften, die uns beistehen. Bete für uns, dass unser gewagter Vorstoß gelingt und wir das Werk des Schwarzen Fürsten noch rechtzeitig verhindern. Wenn uns das vergönnt ist, dann wird es für all die Hoffnungen und Wünsche, die wir im Herzen tragen und besser nicht aussprechen, eine Zukunft geben und dann . . .« Er brach rasch ab, weil ihm bewusst wurde, wie unverantwortlich es war, jetzt an eine gemeinsame Zukunft zu denken, geschweige denn davon zu sprechen. »Ich muss jetzt gehen, Heloise. Gott segne dich!«
»Er soll auch dich segnen – und dich mir wieder zurückbringen, Gerolt!« Und bevor er es noch verhindern konnte, nahm sie sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf den Mund. Es war ein langer, leidenschaftlicher und zugleich verzweifelter Kuss, der es ihm für ebendiesen köstlich langen Moment unmöglich machte, sich ihren Lippen und ihren Händen zu entziehen.
»Damit du weißt, wofür es sich zu überleben lohnt, Geliebter!«, sagte sie leise und mit tränenerstickter Stimme, als sich ihre Lippen schließlich von seinem Mund lösten.
Stumm strich er über ihr Haar, ließ seine Hand kurz auf ihrer Wange ruhen und wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht. Und weil er zu aufgewühlt war und nicht wusste, was er sagen sollte, beließ er es bei dieser zärtlichen Geste und wandte sich dann schnell von ihr ab.
Während Tarik und Maurice mit dem Gesicht zum Wasserfall standen und sich von Galcerand Salgues genau erklären ließen, wo der Grat in der Felswand zu finden war, hatte sich McIvor zu Gerolt und Heloise umgeblickt.
Als Gerolt nun zu ihm trat, legte ihm der Schotte seinen Arm um die Schulter. »Na, wenigstens bei dir werden wir nicht lange Rätselraten müssen, wer die Glückliche sein wird, mit der du der Welt Nachkommen bescheren wirst, von denen womöglich einer eines Tages dein Nachfolger als Gralshüter wird!«
Gerolt schoss das Blut ins Gesicht. »Rede nicht von Nachkommen, wo der Tod uns in dieser Nacht wohl näher ist als das Leben!«
»Recht hast du«, erwiderte der Schotte. »Und deshalb tust du jetzt auch gut daran, all das zu verdrängen und irgendwo tief in dir unter Verschluss zu halten, was da eben zwischen euch gewesen ist! Du musst deinen Kopf frei von allem anderen haben, wenn wir den Heiligen Gral retten wollen! Wir müssen uns alle absolut aufeinander verlassen können – vor allem auf dich, denn du bist der Obere unser Bruderschaft, vergiss das nicht!«
Gerolt nickte. »Du hast mein Wort, dass es so und nicht anders sein wird. Ich weiß, was ich euch und unserem heiligen Amt schuldig bin.«
Wenige Minuten später war es für die Gralsritter so weit, sich der tödlichen Gefahr des finsteren Tals zu stellen. Galcerand hatte sich mit Heloise in den Schutz eines Felsvorhangs begeben. Und sie hatten noch einmal geprüft, ob die Tragegestelle fest auf den Schultern saßen und sich die Gurte um die Körbe nicht gelockert hatten. Auch hatte McIvor Feuer gemacht, eine der dicken, handlangen Kerzen entzündet und sie in eine ihrer Laternen gestellt. »Also dann, Gott mit uns!«, gab Gerolt nach einer letzten, kurzen Beratung das Zeichen zum Aufbruch.
Wie sie es abgesprochen hatten, ging Gerolt vorneweg und mit fünf Schritten Abstand zu seinen nachfolgenden Freunden. Ganz langsam näherte er sich der ersten Barriere hoher Sträucher und achtete mit höchster Anspannung, ob sich der Atem des Todes irgendwie bei ihm bemerkbar machte. Vorsichtig atmete er die Luft ein. Als er bis auf sechs, sieben Schritte an die vordere Reihe der Gewächse herangekommen war, sah er, dass von den Zweigen der Sträucher seltsam große und weit geöffnete Trichter hingen, die Ähnlichkeit mit den Blütentrichtern von Trompetengewächsen besaßen, aus denen man einen geistesverwirrenden, giftigen Extrakt gewinnen konnte. Die Trichter hier waren jedoch größer, anders geformt und zudem mit Dornen gespickt.
»Kannst du schon irgendetwas riechen?«, rief Maurice ihm zu.
»Nein, aber ich bin sicher, dass diese Trichter . . .« Weiter kam Gerolt nicht, der langsam auf die ersten Sträucher zugegangen war. Denn in diesem Moment stieg ihm ein schwacher Geruch nach Bittermandeln in die Nase. Und kaum hatte er ihn wahrgenommen, als ihm auch schon die Sinne schwanden. Er begann vorwärtszutaumeln und drohte dabei, noch näher in den Wirkungsbereich der Sträucher zu kommen, die diesen bitteren, betäubenden und letztlich tödlichen Duft absonderten.
Bevor er jedoch, niedergedrückt von dem Gewicht auf seinem Rücken, zu Boden stürzen und dabei noch tiefer in diese hochgiftige Wolke geraten konnte, die unsichtbar über dem Tal hing, war Maurice auch schon bei ihm. Mit angehaltenem Atem bekam er gerade noch eine Strebe des Tragegestells zu fassen und riss Gerolt mit aller Kraft zurück.
Benommen wankte Gerolt, gestützt von Maurice, zu McIvor und Tarik zurück. Er sank erst einmal auf den nächsten Gesteinsbrocken, hustete und füllte seine Lungen mit frischem Atem.
Der Schotte sah, wie Heloise unter dem Felsvorsprung aufsprang und wohl zu Gerolt laufen wollte. Doch Galcerand packte sofort ihren Arm und zog sie zu sich zurück.
»Geht es dir wieder besser? Spürst du noch was von dem Zeug?«, fragte Tarik in großer Sorge. »Um Himmels willen, das muss ja enorm giftig sein, dass es dich schon aus solcher Entfernung fast aus den Stiefeln gerissen hätte!«
Die Benommenheit wich allmählich von Gerolt. »Viel hat da wirklich nicht gefehlt, aber es ist ja noch mal gut gegangen. Es geht schon wieder. Bin gleich wieder auf den Beinen.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Maurice.
»Diesen teuflischen Gewächsen kurz und bündig den Garaus!«, antwortete McIvor und zerrte zwei Pechfackeln aus seinem Sack. »Und zwar brennen wir eine große Schneise durch das verdammte Feld! Und wenn die Anbetung des Heiligen Grals bei mir auch so große Wirkung gehabt hat wie bei Gerolt, dann werde ich euch gleich einen Flammenzauber vorführen, wie ihr ihn noch nie gesehen habt!« »Und ich werde dafür sorgen, dass diese Schneise frei von Giftwolken bleibt!«, fügte Gerolt hinzu. »Ich werde zu beiden Seiten eine Mauer erzeugen, die hoffentlich hoch genug ist, um nichts von den diabolischen Duftstoffen eindringen zu lassen. Am besten tue ich das, indem ich als Letzter gehe, dann habe ich euch und den Korridor voll im Blick. Aber bleibt dicht zusammen!«
McIvor steckte die beiden Fackeln in Brand und stellte sich an die Spitze. Ein kurzer Moment tiefster Konzentration und dann entfesselte er seine göttliche Gnadengabe und richtete sie auf die Flammen der Fackeln.
Augenblicklich verwandelten sich die Pechfackeln in mächtige Feuerspeier. Wie aus einem Höllenschlund schossen die Flammen auf einer Breite von zehn, zwölf Schritten nach vorn, fächerten sich nach oben und unten hin zu einer wahren Feuerwalze auf und griffen kurz über dem Boden nach den Sträuchern mit ihren Gifttrichtern. Die Gewächse loderten auf, wurden wie ein trockenes Unterholz in der Glut einer Esse vom Feuer verzehrt und verwandelten sich in Asche.
Indessen machte sich Gerolt die Luft untertan, ließ einen starken Wind aufkommen, den er durch diese Feuerschneise schickte, und verdichtete sie dann beiderseits zu einer flirrenden Mauer von doppelter Manneshöhe.
Langsam bewegten sie sich vorwärts. Als sie jedoch schon zwei, drei Schritte hinter jener Stelle waren, wo Gerolt beinahe das Bewusstsein verloren hätte, und noch immer keiner von ihnen etwas von dem Gift merkte, wussten sie, dass sie in diesem Korridor sicher waren.
»Jetzt im Eilschritt hindurch und dann die Wand hoch, wo der Einstieg beginnt!«, rief McIvor ihnen zu. »Ich weiß nämlich nicht, wie lange ich das durchhalte. Mir beginnt schon der Schweiß auszubrechen und das wahrlich nicht nur wegen der Hitze, die die Fackeln abgeben.«
»Du sprichst mir aus der Seele, McIvor!«, rief Gerolt zurück, der ebenfalls merkte, wie sehr seine Kräfte beansprucht waren. Und sie mussten mit ihren Segensgaben haushalten, hatten sie doch noch nicht einmal das Labyrinth der Sühne erreicht, geschweige denn waren sie in der Abtei der Iskari dorthin vorgestoßen, wo sich der Heilige Gral befand! Auf keinen Fall durften sie sich vorher schon völlig verausgaben.
Sie rannten, so schnell es ihnen ihre Last erlaubte, durch die breite Schneise verbrannter Giftbüsche. Und dann rief auch schon Maurice: »Jetzt nach rechts! Dort zum Einstieg in der Wand, Eisenauge! Und mach das verfluchte Teufelskraut drum herum nieder, so weit du kannst!«
Der Schotte blieb kurz vor der aufragenden Felswand stehen, schwenkte seine Feuerspeier in einem großen Halbbogen über das teuflische Gestrüpp und brannte es bis zur Wand nieder. Er ließ die Flammenzungen sogar ein gutes Stück am Felsgestein hochlecken.
Nun übernahm Tarik die Spitze. Mit dem Gesicht zur Wand stieg er auf den schräg nach oben führenden Felssims und arbeitete sich langsam höher und näher an den Bogen mit dem Wasserfall heran, dicht gefolgt von McIvor, Maurice und Gerolt. Jeder achtete darauf, wo sein Vordermann sicheren Tritt in der Felswand gefunden hatte und wo Spalten im Gestein den Händen Halt boten. Wie sie jedoch hinter den Wasserfall und dort zu jenem Durchlass gelangen sollten, den Galcerand Salgues als kleiner Junge gefunden hatte, blieb ihnen rätselhaft. Denn von einem Vorsprung und einem Zurückweichen der Felswand vermochten sie noch nichts zu entdecken.
Erst als ihnen die ersten feinen Gischtschleier ins Gesicht wehten und sie nur noch wenige Schrittlängen von den weißen Kaskaden trennten, sahen sie den dicken Felswulst, der sich unterhalb der zurückspringenden Wand vorwölbte und den Zutritt hinter den Vorhang des Wasserfalls erlaubte. Dort klaffte dann auch tatsächlich ein breiter Spalt, der nach oben spitz zulief und gerade breit genug war, um sich hindurchzwängen zu können. Ihre Tragegestelle mussten sie dabei jedoch vom Rücken nehmen und sie in dem gewundenen, finsteren Durchlass hinter sich herziehen. Gute dreißig Schritte hinter dem Wasserfall mündete er schließlich, wie der Einsiedler es ihnen beschrieben hatte, in einen fast kreisrunden Talkessel. Sein Durchmesser betrug nicht mehr als dreihundert Ellen und er wurde von hohen, rissigen Felswänden umschlossen, die fast senkrecht aus dem Talboden aufstiegen – bis auf die Felswand zu ihrer rechten Seite. Diese bog sich erst weit nach innen und schaffte einen tiefen Innenraum, bevor sich dann in etwa sechzig, siebig Ellen Höhe die obere Hälfte des scharfen, sichelförmigen Bogens wieder nach vorn neigte und einen weiten Felsenüberhang schuf. Erst von dort ragte der Fels wieder so lotrecht in den Himmel wie die restlichen Wände des tiefen Talkessels.
»Allmächtiger!«, stieß Tarik erschrocken hervor. »Seht doch nur dort rechts oben! Da ist sie, die schwarze Abtei der Iskaris . . . die Teufelsburg des Fürsten der Finsternis!«