9

image

Die vier Gralsritter versammelten sich am Fuße der steilen, aus der Felswand gehauenen Treppe, die gerade breit genug für eine Person war. Etwas seitlich davon hing ein dickes Seil herab, das oben auf einer Plattform aus schwerem Balkenwerk über die Trommel einer Winde lief. Das Ende des Seils war um den Eisenbügel einer Holzwanne geknotet, in der fingerhoch Blut stand. Und blutige Fleischreste klebten am Wannenrand.

Sie hatten sich gegenseitig dabei geholfen, die Verschnürung über der Öffnung der aufgeschnallten Körbe mit ihren Dolchklingen zu durchtrennen, das schützende Wachstuch zu entfernen und einen Teil des stoßdämpfenden Strohs herauszuzerren, damit die mit Weihwasser gefüllten Tonbehälter locker im Korb saßen und sich gleich ohne langes Gezerre herausholen ließen. Den Beutel, der auch die Schatulle enthielt, hängte sich McIvor quer vor die Brust.

Jeder wusste, welche Aufgabe er dank seiner besonderen Gnadengabe als Gralshüter nun gleich haben würde. Ihre größte Stärke waren das Überraschungsmoment, das es mit größtmöglicher Angriffswucht auszunutzen galt, und ihre Segensgaben als Gralshüter.

»Freunde, gleich werden wir dem Teufel, Sjadú und einer großen Versammlung von Iskaris gegenüberstehen«, sagte Gerolt, der es für seine Aufgabe als Oberer ihrer Bruderschaft hielt, noch ein letztes Wort an seine Gefährten zu richten. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um das teuflische Große Werk zu verhindern und den Heiligen Gral zu retten.«

McIvor, Tarik und Maurice nickten stumm und mit zu allem entschlossenen Gesichtern.

»Ob uns das gelingt, weiß allein Gott«, fuhr Gerolt ernst fort. »Wir müssen damit rechnen, dass der Tod auch unter uns einen bitteren Tribut fordert. Deshalb ist dies die vielleicht letzte Möglichkeit, um euch noch einmal zu sagen, dass es keine heldenhafteren und treueren Kameraden und Freunde gibt als euch! Mit euch das heilige Amt des Gralsritters ausüben zu dürfen, ist mehr, als ich jemals zu erträumen gewagt hätte. Für jeden von euch würde ich meinen Schwertarm . . . nein, mein Leben geben! Und ich weiß, dass auch ihr füreinander mit Leib und Leben einsteht.«

»Tod und Teufel, darauf kannst du Gift nehmen, Gerolt!«, versicherte McIvor mit belegter Stimme. »Durch die Hölle und zurück, wenn es sein muss!«

»Dem ist nichts hinzuzufügen«, sagte Tarik.

Maurice nickte und streckte seine Hand aus. »Füreinander in fester Treue, Freunde!«

Tarik, Gerolt und McIvor folgten seinem Beispiel. Ihre Hände legten sich aufeinander. Und dann bekräftigten sie noch einmal ihren Schwur, der sie seit sechzehn Jahren begleitet und ihre Gemeinschaft geprägt hatte, wie aus einem Mund: »Füreinander in fester Treue!«

Für einen letzten Augenblick standen sie so im Kreis und sahen sich an, als hieße es, mit einem stummen Blick Abschied von den anderen zu nehmen.

Dann zog Gerolt als Erster seine Hand zurück, ließ das Schwert aus der Scheide fahren und gab den Befehl zum Aufbruch. »Tun wir mit ganzer Hingabe, wozu wir als Gralsritter berufen worden sind, Freunde! Möge Gott mit uns sein!« Mit einer abrupten Bewegung, die seine starke innere Bewegung vor seinen Kameraden verbergen sollte, wandte er sich ab und erklomm die Stufen.

Schnell hatte er die Plattform erreicht. Er wartete, bis alle oben bei ihm standen. Dann öffnete er vorsichtig die schwere Bohlentür und spähte in den Gang, auf den sie führte. Er sah Lichtschein, und bis auf einen monotonen Gesang, der aus einiger Entfernung zu ihnen drang, war es still. Und was sie bis dahin nur als einen schwachen unangenehmen Geruch wahrgenommen hatten, schlug ihnen nun wie eine stinkende Wolke entgegen. Es war ein durchdringender Gestank, der sich aus Schwefel, Moder und Verwesung zusammensetzte und in dieser Konzentration nur von einer großen Menge Iskaris hervorgerufen werden konnte.

»Sie scheinen sich schon alle in dieser schwarzen Halle für ihre Teufelszeremonie versammelt zu haben«, raunte Gerolt seinen Freunden über die Schulter hinweg zu und trat auf den Gang hinaus. »Jetzt ist keine Zeit mehr zu verlieren!«

»Tod und Teufel, was für ein ekelhafter Gestank!«, raunte McIvor. »Davon kann einem ja übel werden!«

So leise wie möglich liefen sie den langen Gang hoch, dem monotonen Gesang und dem Zentrum des Gestanks entgegen. Wände und Decke bestanden aus jenem merkwürdigen schwarzen Gestein, das wie die Außenwände der Abtei wie von Quarz durchsetzt glitzerte. Sie kamen an mehreren Türen vorbei. Einige bestanden aus Gittern und mussten Kerkerzellen sein. Doch niemand befand sich in ihnen.

Nach etwa dreißig Schritten machte der Gang einen rechtwinkligen Knick nach links und endete zehn Schritte weiter vor einem hohen Rundbogen. Er wurde links und rechts von vierteiligen Säulen getragen, die einen schauerlichen Anblick boten. Denn die aus dem Stein gehauenen Gestalten zeigten jeweils vier von Ketten umschlungene Menschen, die Rücken an Rücken gebunden waren. Ihre Gesichter waren wie von Schmerz und Todesangst verzerrt und die Münder weit aufgerissen. Jeder trug ein zersplittertes Kreuz auf der Brust, was sie wohl als Christen ausweisen sollte. Und die schweren Kapitelle ruhten nicht auf ihren Köpfen, sondern hatten den Figuren den Schädel halb eingedrückt.

»Verflucht soll diese Höllenbrut sein!«, zischte Maurice hinter Gerolt, griff in dessen Korb und drückte ihm von hinten einen der Tonbehälter in die linke Hand.

Gerolt nahm das Gefäß und wagte sich weiter vor. Er erblickte hinter der hohen Öffnung des Gangs eine riesige Steinschüssel, die sein ganzes Sichtfeld einnahm. Denn sie hatte einen Durchmesser von mehreren Ellen und wurde von drei mannshohen Säulen getragen. Ein Feuer mit hoch auflodernden Flammen brannte im Steinbecken. Es war eines von sieben derartigen Riesenbecken, die in einem sichelförmigen Bogen und mit gut zehn Schritten Abstand voneinander angeordnet waren, wie er gleich sehen sollte.

Denn als er aus dem Rundbogen schlich, hinter dem Feuerbecken in Deckung ging und sich dann vorsichtig um die äußere Säule schob, lag die schwarze Halle frei von jeglichen Hindernissen vor seinen Augen. Er konnte sich des Staunens nicht erwehren, als er das Bild in sich aufnahm, das sich ihm und seinen Freunden nun darbot.

Die gewaltig aufsteigende, schwarz glitzernde Decke, auf die aus den Feuerbecken der Schein der Flammen und irgendwo aus der Tiefe ein Glutschein fielen, wölbte sich über einem gewaltigen Halbrund, das die Form eines Amphitheaters hatte und sich um die hintere, senkrecht aus der Tiefe aufsteigende Wand herumzog. Dutzende von halbrunden, aus dem Stein geschlagene Sitzreihen boten Hunderten von Iskaris Platz. Jeder trug einen nachtschwarzen Umhang mit blutrotem Kragen. Vom unteren Rand der Kragen zogen sich mehrere rote Schlieren bis auf Hüfthöhe durch das Schwarz der Mäntel, die man ebenso gut als Feuerzungen wie auch als Blutrinnsale deuten konnte. Die Iskaris wiegten sich in ihrem eintönigen, dunklen Singsang mit dem Oberkörper unablässig vor und zurück. Es sah aus, als würden sich schwarze, von Feuer oder Blut durchzogene Wogen in endlosen Kaskaden über die abfallenden Reihen des Halbrunds in den tiefen Schlund ergießen.

In der Wand, die vor dem Amphitheater aufragte, war ein Schädelrelief aus dem Felsgestein gehauen. Eine klauenartige, steinerne Hand trat darüber aus der lotrechten Wand hervor und krallte sich in die aufgebrochene Schädeldecke. Aus den Augenhöhlen des Kopfes wanden sich züngelnde Schlangen.

Zwei, drei Ellen unterhalb des grässlichen Abbilds und mit einem etwas größeren Abstand zur Wand schien eine halbrunde dreistufige Plattform aus schwarzem Fels zu schweben. Sie ruhte jedoch auf einer mächtigen Säule, die aus der rot glühenden Tiefe aufstieg. Auf der höchsten der drei Plattformen stand eine Art von Thron aus schwarzem Fels, der wie das Wandrelief die Form eines aufgebrochenen Menschenschädels besaß. Ein schmaler, gut zwanzig Ellen langer Felssteg führte von der obersten Reihe des Amphitheaters zur untersten Scheibe der Plattform mit seinem Thron.

Die Gestalt, die dort die Anbetung der Iskaris entgegennahm, war jedoch nur sehr schemenhaft zu erkennen. Denn ein Wirbel, der aus feinstem schwarzem Staub zu bestehen schien und sich zur Decke hin immer mehr zu einer Spitze verjüngte, umwirbelte den Schädelthron wie ein gewaltiger Bienenschwarm. Es konnte kein anderer als der Fürst der Finsternis sein, der Herr der Unterwelt, der dort die Anbetung seiner Judasjünger entgegennahm! Gerolt fand keine Zeit, Einzelheiten hinter dem schwarzen Wirbel ausmachen zu wollen. Denn da war sein Blick schon auf den Iskari gefallen, der am Anfang des Felsstegs zur Thronplattform ausgestreckt und mit dem Gesicht nach unten am Boden lag, um seine vorbehaltlose Ergebenheit zu bekunden. Gerolt brauchte dessen Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass es Sjadú war, der Anführer der Teufelsknechte. Denn vor ihm ruhte auf einem karmesinroten Kissen der schwarze Ebenholzwürfel mit dem Heiligen Gral!

Neben dem Würfel lag eine seltsame Waffe, deren Großteil eindeutig aus einem großen Knochen bestand. Die obere Verdickung, bei der es sich um das obere Ende eines Oberschenkelknochens handeln konnte, war aufgespalten. Eine breite Axtklinge ragte aus der Eisenfassung hervor, die das obere Drittel des Knochens umschloss. Welchem Zweck diese Knochenaxt dienen sollte, lag auf der Hand.

Das Große Werk war noch nicht vollzogen!

Rasch tauschte Gerolt Blicke mit seinen Freunden. Stumm nickten sie ihm zu. Jeder hielt in der Rechten sein Gralsschwert und in der Linken einen Tonbehälter mit Weihwasser. McIvor hatte sich sogar eine seiner größeren Amphoren aus dem Korb geholt. Wilde Entschlossenheit stand auf ihren Gesichtern. Sie waren bereit, es mit dieser Menge von Iskaris und – wenn es sein musste – auch mit dem Fürsten der Unterwelt persönlich aufzunehmen! Sie waren Gralsritter und fürchteten buchstäblich weder Tod noch Teufel!

Nun sollte das Schicksal seinen Lauf nehmen!