2.
L iv? Geht es Ihnen gut?«
Ich drehe den Kopf und sehe Knud Nissen und Tine Kjær an. Sie sind von der für Mittel- und Westjütland zuständigen Kriminalpolizei aus Holstebro und damit verantwortlich für den Bezirk Ringkøbing-Skjern. Sie tragen ihre Dienstausweise an Kordeln um den Hals und sitzen vor mir auf Besucherstühlen, die ziemlich ungemütlich aussehen. Hinter ihnen steht ein schlichter weißer Tisch, der vollkommen leer ist.
Knud Nissen schätze ich auf Mitte fünfzig. Sein Haar ist licht und müsste wieder mal geschnitten werden. Sein Pullover hat eine undefinierbare Farbe zwischen Braun und Oliv. Wenn er lächelt, was eher selten passiert, stechen seine von geplatzten Äderchen geröteten Wangen hervor wie bei einer Kasperlefigur. Er wirkt auf den ersten Blick sympathisch, aber ich mag ihn nicht. Er hat etwas an sich, das ich verabscheue. Sein Blick, seine Art – ich kann es nicht festmachen, aber sobald ich ihn ansehe, fühle ich mich unwohl. Außerdem habe ich das Gefühl, dass er mich ebenfalls nicht mag. Er klickt mit seinem Kugelschreiber, wenn er nachdenkt, oder tippt mit ihm auf den Spiralblock, der auf seinem Schoß liegt. Ich bin mir sicher, dass das Geräusch manche Leute zum Ausrasten bringen kann. Vielleicht macht er es genau deswegen. Vielleicht ist es auch nur eine nervöse Angewohnheit.
Ich zum Beispiel wippe oft mit dem Fuß, was mir selbst kaum auffällt. Frederik, mein Ex-Freund, hat mich einmal grinsend gefragt, ob ich an einem Restless-Leg-Syndrom leide. Ich fand die Bemerkung überhaupt nicht witzig, weil ich das Gefühl hatte, dass er noch etwas hinzufügen wollte, sich aber nicht getraut hat, nämlich, dass das eine Nebenwirkung der Pillen sein könnte, die ich gelegentlich nehme. Das ist aber Blödsinn. Ich habe das schon als Kind getan. Das mit den Beinen. Die Pillen kamen erst später.
Tine Kjær dürfte mindestens zehn Jahre jünger sein als ihr Kollege und an die dreißig Kilo leichter. Sie trägt einen engen schwarzen Rolli, bestimmt Kaschmir, unter dem sich eine gertenschlanke Figur abzeichnet. Ich sehe ein paar lose blonde Haare auf der Wolle. Tine streicht sich häufig eine widerspenstige Strähne hinters Ohr, die einfach nicht hinter dem Brillenbügel stecken bleiben will. Sie trägt ein schwarzes, eckiges Kunststoffmodell, das ihre kühlen, wasserblauen Augen regelrecht einrahmt.
Tine hat ebenfalls einen Schreibblock sowie ein Aufnahmegerät. Ich vermute, es ist ein digitales. Sie hat mich vorher gefragt, ob es okay sei, wenn sie die Unterhaltung aufnimmt, und außerdem verdeutlicht, dass es sich bei dem Gespräch nur um eine Zeugenbefragung handele und um keine offizielle Vernehmung, zu der man mich vorladen müsse und zu der ich auch einen Anwalt mitbringen könne. Aber ich bin ja im Krankenhaus, von daher könnte ich ja von der Polizei gerade sowieso nicht vorgeladen werden, und Tine und Knud wollen nach ihren eigenen Worten erst mal nur verstehen, was in den vergangenen Tagen genau geschehen ist, weil es ihnen bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte.
»Liv«, sagt Tine, »wir müssen jetzt Ihre Personalien aufnehmen.«
»Natürlich«, antworte ich, obwohl ich meine, dass die beiden schon alles über mich wissen müssten. Wir haben uns schließlich vorher schon unterhalten, bloß ohne Aufnahmegerät. »Noch mal?«, frage ich daher.
»Ja, noch mal«, bestätigt Tine.
Und dann frage ich: »Wo bin ich eigentlich genau?«
Knud Nissen hört auf, mit dem Kugelschreiber zu klicken, und sieht mich ausdruckslos an.
»Im Krankenhaus, Liv. Ist Ihnen das nicht klar?«, fragt Tine. Sie macht eine Pause und fragt dann: »Geht es Ihnen wirklich gut? Sollen wir jemanden kommen lassen?«
»Ja«, höre ich mich erwidern. »Nein. Ich meine: Nein, es muss niemand kommen. Und: Ja, es geht mir gut, und ich weiß, dass ich im Krankenhaus bin, logisch, aber …«
»Sie sind in der Klinik in Holstebro«, kürzt Knud Nissen ab. »Dorthin wurden Sie vor drei Tagen gebracht. Sie waren ohne Bewusstsein. Erst hier sind Sie wieder zu sich gekommen, waren bis zum Aufwachen auf der Intensivstation.«
Ich nicke schwach. Ja, natürlich erinnere ich mich. Also: teilweise. An einiges sehr klar. An anderes überhaupt nicht. Mein Schädel brummt. Aber ich weiß, dass ich mich jetzt zusammenreißen sollte und mich konzentrieren muss, was mir alles andere als leichtfällt.
»Wir möchten das noch einmal aufnehmen, Liv«, wiederholt Tine und sagt laut auf, was sie sich bereits notiert hat und was wir schon durchgekaut haben. »Liv Solberg, selbstständige Architektin, geboren am 18. Februar 1978 in Helsingør, wohnhaft in Kopenhagen in der Johan Semps Gade 11 – das ist in Christianshavn, sagten Sie?«
»Ja.«
Und dann kommt alles Weitere. Nicht verheiratet, keine Kinder, in keiner festen Beziehung lebend, meine Haare sind aschblond und lang, aber nicht zu lang. Meine Augen sind grüngrau. Ich wiege knapp sechzig Kilogramm, bin eins sechsundsiebzig groß …
Und wenn Tine noch weiterfragen würde, könnte ich antworten, dass ich sportlich bin, jeden Morgen jogge und gelegentlich Fitness mache, aber nicht Mitglied in einem Klub bin, sondern auf Zehnerkarten vertraue, und trotzdem gelegentlich mal eine Zigarette oder eine ganze Packung rauche. Dass ich meine BHs in 75B kaufe, meine Schuhe in Größe 38 und für mein Leben gern italienisch essen gehe, was ich mir allerdings nicht immer leisten kann, weil meine Aufträge überschaubar und nicht so irre gut bezahlt sind und mich, seitdem ich mit Frederik Schluss gemacht habe, selten jemand einlädt – wobei ich keine Ahnung habe, warum ich überhaupt noch Single bin, denn eigentlich finde ich mich ganz hübsch und erträglich.
Ich bin einigermaßen gebildet, spreche fließend Englisch, kleide mich modisch und bin ganz umgänglich sowie selten zickig – nehme ich jedenfalls an. Ich mag frische Blumen, Andalusien im Sommer, barfuß am Strand zu laufen und im Winter am knisternden Kamin Bücher zu lesen und dabei zuzusehen, wie es schneit und Kopenhagen sich in eine weiße Decke mummelt.
Und ich leide an Höhenangst.
Akrophobie nennt man das. Schon ein paar Meter können ausreichen, um mich in Panik zu versetzen. Also: nicht immer. Wie stark es ist, hat mit den allgemeinen Umständen und meiner Verfassung und Stimmung zu tun. Es gibt Tage, an denen komme ich gut klar. Es gibt andere Tage, an denen wird mir schon schwindelig, wenn ich die Treppe hinabgehe. Es fühlt sich an, als würde mich die Tiefe ansaugen und mich eine unsichtbare Kraft dazu zwingen wollen, in einen Abgrund zu springen. Ich bekomme Beklemmungen, Herzrasen, Schwindel, Atemnot. Im Englischen und Französischen gibt es jeweils einen Terminus dafür, der das Gefühl viel besser trifft als das deutsche »Höhenangst«. Es heißt »call of the void« oder »l’appel du vide«, was so viel wie Lockruf der Tiefe bedeutet. Tatsächlich scheint irgendetwas Dunkles dort im Abgrund zu lauern und zu flüstern: »Na komm, spring. Wie es sich wohl anfühlt? Probier es aus. Mach schon. Komm zu mir.«
In der Therapie habe ich gelernt, dass meine Höhenangst nichts mit Selbstmordgedanken zu tun hat, sondern mit Zwangsgedanken, Kontrollverlust und Angst vor dem sprichwörtlichen Sich-fallen-Lassen. Flugangst habe ich merkwürdigerweise nicht. In meinem Beruf ist das manchmal natürlich schwierig. Man muss auf Gerüste klettern und all solche Dinge, aber ich habe einige Vermeidungsstrategien entwickelt, um mich aus der Affäre zu ziehen. Ich behaupte dann, dass ich mir den Knöchel verknackst habe, oder ich erkläre, dass ich gerade noch etwas besprechen oder telefonieren muss. Inzwischen bin ich darin ziemlich überzeugend.
Höhenangst ist angeboren oder durch ein traumatisches Ereignis erlernt. Und so viel ist mal klar: Meine ist nicht angeboren. Aber sie ist nach meiner Meinung auch nicht erlernt. Ich habe als Kind etwas Entsetzliches erlebt, und ich finde daher, dass sie mir aufgezwungen wurde. Außerdem hat das nichts damit zu tun, dass ich getötet werden sollte. Überhaupt nicht.
Tine und Knud haben mir vorhin ein paar Haare abgeschnitten, womit ich einverstanden war, sowie wegen der DNA eine Speichelprobe gezogen. Mit einem mobilen Scanner haben sie mir außerdem die Fingerabdrücke abgenommen und sie irgendwohin gesendet. Tine hat mir erklärt, dies alles müsse sein, um meine Spuren von allen anderen unterscheiden zu können. Meine Daten würden in jedem Fall wieder gelöscht, wenn man sie nicht mehr brauche. Von mir aus können sie auch gerne noch meine Zehen- und Zahnabdrücke haben und eine Urinprobe obendrauf. Tine will ihre Arbeit so gut wie möglich machen, Knud ebenfalls, und das liegt absolut in meinem sehr persönlichen Interesse. Immerhin bin ich beinahe ermordet worden.
»Wie ist es genau dazu gekommen?«, fragt Knud jetzt.
Ich blinzle, verstehe nicht, worauf er hinauswill. Also antworte ich mit Gegenfragen: »Aber … Das wissen Sie doch? Sie waren doch außerdem vor Ort?«
»Waren wir?« Knud sieht mich mit einer Miene an, die alles und nichts bedeuten kann. Jetzt klickt er wieder mit dem Kugelschreiber.
»Ja? Oder etwa nicht? Keine Ahnung, aber ich habe es so verstanden. Ich meine: Ich habe das alles nicht mitbekommen, ich kam ja erst hier wieder zu mir, und … ehrlich gesagt, verstehe ich Ihre Frage nicht. Wir haben eben doch schon darüber gesprochen … Und was vorher alles passiert ist, das wissen Sie doch auch?«
Knud nickt. Er tippt mit dem Kuli auf eine dicke, rote Akte. Sie ist mit einem Namen beschriftet, den ich gut lesen kann, obwohl die Buchstaben auf dem Kopf stehen, weil ich ihn so gut kenne. Mein Name.
»Es wäre schön, wenn wir alles noch einmal rekapitulieren könnten. Schritt für Schritt. Eins nach dem anderen«, sagt Knud, klickt erneut mit seinem Kugelschreiber und nickt in Richtung des Aufnahmegerätes.
Langsam, aber sicher regt der Kerl mich auf.
Ich schaue zu Tine. Sie rutscht näher mit ihrem Stuhl zu mir, räuspert sich und sagt: »Liv, wissen Sie: Für uns ist jedes Detail wichtig. Manchmal vergisst man etwas. Manchmal fällt einem etwas wieder ein, wenn man es ein zweites Mal erzählt. Es sind sehr schlimme Dinge passiert, die müssen wir lückenlos aufklären. Außerdem haben Sie eine Gehirnerschütterung, sicherlich auch einen Schock erlitten und daher manches auf Anhieb nicht mehr so präsent. Deswegen fragen wir erneut nach, und wenn man erst einmal ins Erzählen kommt, fügen sich auf einmal Dinge zusammen, die vorher keinen Sinn ergaben, aber jetzt – nach allem, was geschehen ist – durchaus für Sie und für uns Sinn ergeben können.«
»Das gilt für den Abend selbst. Das gilt auch für die Zeit davor«, ergänzt Knud.
Tine nickt. »Wir müssen den Abend genau rekonstruieren. Und wir müssen verstehen, wie es aus Ihrer Sicht dazu gekommen ist.«
Sicher, das ist mir klar. Fraglos müssen sie alles akribisch aufarbeiten, denn natürlich wird das später in einer Gerichtsverhandlung gegen das Schwein, das mich umbringen wollte, wichtig sein.
Ich frage: »Was sagt er denn dazu?«
Tine und Knud wechseln einen Blick. »Wie meinen Sie das?«, fragt Tine.
»Wie er es darstellt, will ich wissen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie er sich herausredet, um Ihnen alles zu erklären.«
»Wir sind hier«, sagt Knud, »weil wir es von Ihnen hören wollen. Alles andere ist im Moment nicht relevant.«
»Für mich schon. Er wollte mich umbringen. Ist Ihnen klar, wie man sich da fühlt?«
Knud schweigt, also rede ich weiter. »Ich habe überlebt, und ich bin verdammt glücklich darüber. Ich will, dass der Mistkerl für immer in den Knast wandert.«
Tine und Knud sagen nichts.
Mir wird eiskalt. Ich habe die schreckliche Ahnung, dass sie ihn nicht verhaftet haben könnten. Der Gedanke war mir bislang noch gar nicht gekommen. Der Gedanke, dass er draußen herumläuft und ich nach wie vor in großer Gefahr schwebe und er es vollenden will.
Er, mein Mörder.
Aber vielleicht weiß er nicht, dass ich überlebt habe. Er hat möglicherweise an dem Abend am Fjord angenommen, dass er erfolgreich war und ich tot bin, und ist dann geflohen. Oder er wollte mich zum Sterben zurücklassen, zum Verrecken.
Tatsächlich bin ich ja erst im Krankenwagen gestorben, hat man mir erzählt. Das Herz setzte aus. Sie haben mich zurückgeholt, aber für einige Sekunden war ich definitiv tot. Wäre der Krankenwagen fünf Minuten später gekommen, dann wohl für immer. Es ist sehr erschreckend, das zu wissen.
Ich frage leise: »Er … Er sitzt doch im Gefängnis? Sie haben ihn doch verhaftet? Ist er auf der Flucht?«
Knud und Tine werfen sich wieder einen Blick zu.
»Wir dürfen im Moment nicht darüber sprechen«, sagt Knud.
»Wie bitte?«, frage ich.
Tine beugt sich etwas zu mir. »Es ist ein schwebendes Verfahren, und Sie sind die Hauptzeugin. Wir dürfen Ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Details über bestimmte Umstände geben. Das ist gewiss schwer zu verstehen, aber es hat rechtliche und formelle sowie ermittlungstaktische Gründe. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass Sie keine Angst vor ihm haben müssen.«
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
»Ich brauche …«
»Es kann Ihnen nichts passieren. Wir haben außerdem eine Beamtin vor der Tür Ihres Zimmers postiert.« Tine wechselt erneut einen Blick mit Knud, der stumm bleibt und sich einige Notizen macht. Dann sagt sie: »Liv, Sie müssen uns jetzt bitte noch einmal alles ganz genau erzählen.«
»Alles?«
»Ja, alles.«
»Sie meinen: Nur über den Abend – soll ich das wiederholen? Oder von Anfang an?«
»Von Anfang an.«
Ich atme tief durch und schließe die Augen. Ich hab gehofft, der Albtraum sei ein für alle Mal vorüber. Aber so einfach ist es wohl nicht.
Ich höre Tines Stimme: »Wenn Sie sich nicht wohlfühlen, brechen wir ab oder machen eine Pause, Liv. Wir können auch jederzeit eine Schwester oder einen Arzt rufen und uns später weiter unterhalten. Aber wir müssen in dieser Sache vorankommen.«
»Es geht schon«, sage ich leise. »Es geht schon.«
Ich öffne die Augen wieder und betrachte die Farbmuster in dem Infusionsbeutel. »Es ist etwa drei Wochen her«, beginne ich. »Ich erinnere mich noch gut an die Fahrt zum Fjord …«