3.
I
ch war ziemlich schnell unterwegs, deutlich schneller als erlaubt, und war die ganze Zeit über in Gedanken versunken. Dann wollte ich unbedingt eine rauchen. Ich rauche nicht im Auto, deswegen fuhr ich in eine Haltebucht an der Straße, die mich von der Autobahn aus in Richtung Ringkøbing geführt hatte, und stieg aus. Ich blickte auf den Fjord – wobei man bei dem Begriff »Fjord« für gewöhnlich an die tiefen Schluchten im Norden Skandinaviens denkt, die das Gletscherwasser nach der Eiszeit in die Felsen gefressen hat. Am Ringkøbing-Fjord ist hingegen alles flach und der Fjord selbst eher ein Binnengewässer, lediglich durch eine schmale Nehrung von der Nordsee getrennt. Ich meine mich zu erinnern, dass der Fjord sowohl mit Salzwasser als auch mit Süßwasser von Flüssen wie dem Skjern gespeist wird, was seine Flora und Fauna recht besonders macht.
Jedenfalls gibt es überall kleine Fischerhütten und bunte Holzboote, die kieloben am Ufer liegen, denn der Fjord ist ein Paradies für Hobbyangler und Surfer. Wenn er zugefroren ist, kann man auf ihm sogar Schlittschuh laufen oder Eishockey spielen.
Ich atmete tief durch und konnte das Meer riechen, bevor ich mir eine ansteckte, tief inhalierte und den Rauch in die Luft blies. Der kalte Wind von der Küste strich durch das hohe Riedgras an den Ufern und zerrte an meinen Haaren. Die untergehende Sonne tauchte das Land und die riesige Wasserfläche in Pastellfarben. Ich lehnte mich an den Kotflügel, stützte mich auf der noch warmen Motorhaube ab und sog die Leere in mich ein. Um mich herum gab es nur flache Landschaft. Die einzigen Zeichen von Zivilisation waren die Straße, die Boote und eine einzelne Fischerhütte, die einige Hundert Meter entfernt direkt am Ufer lag und aussah wie ein kleines Hexenhäuschen – aus fast schwarzem Holz gebaut und mit einem einzelnen, strahlend weißen Fensterkreuz versehen. In seiner Nähe waren Bündel von Riedgras gestapelt, mit denen später einmal die Dächer von Reethäusern eingedeckt werden würden. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, sah mich selbst mit langen Zöpfen und meiner besten Freundin mit Blumen im Haar um eine sehr ähnliche Hütte herumhüpfen.
Im nächsten Moment zog ein Vogelschwarm darüber hinweg. Vom Himmel her gellte das Zwitschern und Krächzen der Stare aus Tausenden von Vogelkehlen. Jetzt im Frühjahr rasteten hier ebenso wie im Herbst unzählige Exemplare. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Stare in der Mythologie als Botschafter aus der Gegenwelt gelten. Ich glaube eigentlich nicht an solche Dinge, habe mit Esoterik oder ähnlichen Dingen absolut nichts am Hut; dazu bin ich viel zu rational. Ich glaube an alles, was messbar ist, was man wiegen, analysieren, berechnen und kategorisieren kann. Doch an diesem Tag zu dieser Stunde und in dieser Situation kamen mir die Stare vor wie die unheimlichen Überbringer einer Todesnachricht. Ich vermute, dass sich meine Ängste und unbewussten Gedanken in einer solchen Vorahnung manifestierten.
Jedenfalls lief mir ein Schauder den Rücken hinab. Mir wurde eiskalt, mein Herz verkrampfte sich in einer Panikattacke. Zwar war der Moment bald vorbei, doch sein Echo dauerte an.
Ich zog an der Zigarette und pumpte Nikotin in die Lungen. Mit jedem Zug ging es mir besser. Ich starrte auf meine Schuhspitzen, blickte wieder zum Himmel. Der Vogelschwarm war verschwunden. Ich steckte mir eine zweite Zigarette an, um mich noch etwas zu sammeln, damit ich auf der Fahrt zur Küste nicht noch einen Unfall baute. Es war nicht mehr weit bis zum Haus meiner besten Freundin Vigga.
Vigga war spurlos verschwunden.
Deswegen war ich hier.