4.
D ie ersten Mails von Magnus waren einige Tage zuvor bei mir angekommen. Ob ich etwas von Vigga gehört oder eine Ahnung habe, wo sie stecken könnte. Ob sie vielleicht bei mir sei oder sich gemeldet habe. Natürlich war nichts davon der Fall gewesen.
Magnus’ Fragen hatten mich irritiert, denn woher sollte ausgerechnet ich etwas über seine Ehefrau wissen? Der Kontakt zwischen Vigga und mir war in der letzten Zeit nicht mehr sonderlich intensiv gewesen. Ich ging davon aus, dass Magnus das mit der Funkstille wusste. Es war nichts allzu Schlimmes zwischen Vigga und mir vorgefallen, und es beunruhigte mich auch nicht, dass unser Verhältnis zurzeit eher im Winterschlaf lag. Das war eben manchmal so, und dafür gab es ein Füllhorn von Gründen – vor allem diese eine Sache. Abgesehen davon hatte mein Umzug nach Kopenhagen die Distanz zwischen uns vergrößert. Vigga hatte Magnus geheiratet, und sie und ich hatten neue Jobs begonnen, die uns jeweils sehr in Anspruch nahmen. Unter dem Strich hatten wir uns also immer weniger gesehen und immer seltener miteinander geredet und einander geschrieben. Trotzdem bedauerte ich es, wenn ich darüber nachdachte, dass der Kontakt abbrach, weil wir uns nie ausgesprochen hatten.
Dabei ist es keineswegs so, dass ich keine anderen sozialen Beziehungen pflegen würde. Ich habe meine Freunde, gute Kollegen, und ich komme auch mit meinem Ex Frederik und seinem Vorgänger immer noch prima aus. Aber das ist etwas anderes. Vigga und ich sind durch dick und dünn gegangen, und, ehrlich gesagt: Ich vermisste das. Ich vermisste jemanden, der mich intuitiv verstand und dem ich alles anvertrauen konnte, weil er mich mein Leben lang noch nicht ernsthaft enttäuscht hatte. So wie Vigga.
Vigga und ich waren schon im Alter von fünf Jahren Freundinnen gewesen. Ich sehe uns noch, wie wir uns auf dem Hof der alten Dorfschule zum ersten Mal trafen – ich total verschüchtert, weil ich niemanden kannte. Vigga nahm mich bei der Hand, sagte, dass ich neben ihr sitzen solle, und fragte nach meinem Namen.
Schon nachmittags spielten wir an der alten Fischerhütte Prinzessinnen im Schloss. Als Kinder sind wir sogar oft für Schwestern gehalten worden, für Zwillinge, weil wir uns so ähnlich sahen. Die Haarfarbe natürlich nicht, ihre sind schwarz, und vom Wesen her unterschieden wir uns auch sehr. Aber rein optisch schon, die Gesichtszüge, die Körpergröße. Manchmal hatten wir uns einen Spaß daraus gemacht und sogar die gleichen Sachen angezogen. Und vielleicht war Vigga tatsächlich die Schwester, die ich nie hatte, und ich war dasselbe für sie. Tja, am Ende ist man immer klüger und merkt, dass einem wichtige Abschnitte im Leben wie Sand durch die Finger geglitten sind, ohne dass man es bewusst bemerkt hätte, dachte ich später.
Bei ihrem letzten Besuch in Kopenhagen war gerade eine meiner Beziehungen vor die Wand gefahren, und es ging mir überhaupt nicht gut. Außerdem bekam ich Torschlusspanik und alles – mit Mitte dreißig plötzlich wieder Single, die biologische Uhr tickte unüberhörbar, wie das eben manchmal so ist. Alles bricht über einem zusammen. Man sieht keinen Ausweg mehr. Und schließlich geht es dann doch irgendwie weiter, weil es ja immer irgendwie weitergeht. Etwas später im selben Jahr trafen wir uns dann noch einmal, aber nur auf ein Abendessen, als ich ihr Frederik vorstellte – meine neue Beziehung. Und, na ja, danach … Ich weiß nicht, wahrscheinlich lag es nur an mir, dass ich ihr anschließend etwas übel nahm. Es war ja auch nichts wirklich Schlimmes passiert, gar nicht. Nur zwei, drei Bemerkungen, mehr nicht, aber …
Aber ich schweife ab. Jedenfalls war ich einerseits alarmiert, anderseits auch irritiert, weil es absolut nicht Viggas Art ist, sich nicht abzumelden. Einfach von der Bildfläche verschwinden? Nein, das war nicht Vigga, überhaupt nicht.
Vigga ist ein Kontrollfreak. Das war sie früher in der Schule schon. Sie beschriftete ihre Hefte äußerst akkurat in klaren, kleinen Buchstaben. Ihr Kinderzimmer war im Gegensatz zu meinem stets aufgeräumt, ihre Bücher und Spielsachen ordentlich sortiert. Darum kümmerte sie sich ohne Aufforderung – einfach, weil sie es so am liebsten hatte. An den Wänden hingen gerahmte Spiegel in allen möglichen Größen, in denen sie sich selbst betrachten und überprüfen konnte. Sie führte mit Leidenschaft Listen, zum Beispiel über ihre Bücher und CDs oder Filme, die sie gesehen hatte. Ihre Tage plante sie gerne mittels Fotokopien von Stundenplänen minutiös durch und wich selten davon ab. In späteren Jahren war die Erfindung des Filofax-Kalenders für sie eine der größten Entdeckungen des zwanzigsten Jahrhunderts, bis dieser von digitalen Kalendern und Excel-Listen abgelöst wurde.
Das klingt vielleicht alles ein bisschen neurotisch, autistisch oder streberhaft oder nach so einem Typen wie in der Fernsehserie »Monk«, aber sie war eigentlich ziemlich normal, immer meine beste Freundin und neben ihren Ordnungsmarotten herzlich, liebenswert, betörend witzig sowie absolut verlässlich. Und sie war großzügig und tolerant. Also: nie böse oder eingeschnappt darüber, dass andere Menschen nicht so waren wie sie.
Vigga nahm es einfach hin, dass manche Zimmer, zum Beispiel meines, nicht so aussahen wie ihres. Wenn sie mich zum Spielen besuchen kam, dann stand sie da wie ein Leuchtturm und blickte sich langsam um, aber mit der Art von Blick, die mir kein schlechtes Gefühl vermittelte. Trotzdem wusste ich natürlich, was sie dachte, und dann war mir meine Unordnung etwas peinlich. Aber Vigga hat nie eine Bemerkung über das Chaos gemacht. Nachdem sie es gescannt hatte, stürzte sie sich vor Freude kreischend mitten hinein und machte noch mehr Chaos.
Das war auch so, als wir älter wurden. Also: nicht das mit der Unordnung. Ich meine ihre monkische Marie-Kondo-Art – ja, mit der kann man sie gut vergleichen. Marie Kondo, diese Aufräum- und Ordnungsqueen mit ihrer eigenen Serie auf Netflix, die ihre Slips faltet wie Liebesbriefe und sich beim Haus bedankt, bevor sie es aufräumt, lächelnd jedes Chaos um sich herum ignoriert und den hilflosen Messies mit einem Lächeln einfach sagt, sie sollen lediglich behalten, was sie glücklich macht – und das dann bitte dritteln und hochkant in die Schubladen stellen.
Meine Jugendbude wirkte auf Außenstehende meist, als sei eine Rohrbombe im Kleiderschrank explodiert und habe den Inhalt über den gesamten Raum verstreut, in dem sich außerdem jede Menge leere Kartons, Tüten, Sprudelflaschen, Tassen, Teller und Verpackungen befanden. Im Studium hatte ich ein kleines Zimmer – Vigga und ich hatten kurz überlegt, uns gemeinsam eine Wohnung zu nehmen, kamen dann aber zu dem Schluss, dass das keine gute Idee wäre. Früher oder später wären uns unsere unterschiedlichen Ordnungssysteme um die Ohren geflogen, und wir hätten uns zerstritten. Wir hatten uns also tief in die Augen geschaut, und ich hatte gesagt: »Vielleicht sollten wir den Gedanken doch lieber verwerfen«, und Vigga hatte nur genickt.
In Kopenhagen waren dann zu meinem Klamotten-Chaos noch Berge von Büchern und Papier hinzugekommen, was es nicht besser machte. Und auch das hatte Vigga nie kommentiert – das heißt: Ein einziges Mal hatte sie es getan. Sie stand in meinem Zimmer, sah mich an und sagte: »Ich glaube, du studierst Architektur, weil du eigentlich Ordnung und Struktur liebst und sie wenigstens in deinem Kopf haben willst.« Da war sicherlich etwas dran. Aber Vorwürfe hat sie mir trotzdem nie gemacht.
Ähnlich verhielt sie sich, wenn andere Verabredungen vergaßen oder sich verspäteten. In Viggas Augen konnte das eben passieren. So war die Welt. Sie regte sich darüber nicht auf, sondern nahm lediglich zur Kenntnis, dass andere Menschen nicht so waren wie sie selbst. Vigga verpasste nie eine Verabredung und erschien fast immer auf die Minute genau.
Auch in späteren Jahren war diese außerordentliche Pünktlichkeit typisch für sie. Kam ich zu spät, saß sie einfach da an einem Kaffeetisch, perfekt gekleidet und geschminkt, musterte mich kurz, fuhr sich mit den Fingern durch die rabenschwarzen Haare und spülte jedes schlechte Gewissen mit einem Lächeln hinweg. Wie … Ja, wie eine Königin.
Wenn sie selbst es hingegen mal nicht rechtzeitig in ein Café schaffte, durfte ich zu hundert Prozent damit rechnen, dass sie anrief und mir dann Sachen erklärte wie: »Ich parke gerade erst ein. Es tut mir wirklich leid, aber ich werde vermutlich vier Minuten später da sein.«
Ich meine: Hallo? Vier Minuten? Für mich ist innerhalb des akademischen Viertels jede Verspätung hinnehmbar. Aber für Vigga war es selbstverständlich, Bescheid zu geben. Sie meinte: »Wo ist das Problem? Wozu gibt es Mobiltelefone? Wenn man 19 Uhr sagt, dann meint man doch 19 Uhr und nicht 19.05 Uhr oder 18.55 Uhr? Sonst würde man ja sagen: Ich komme um fünf vor sieben oder um fünf nach sieben. Man gibt kurz Bescheid, und jeder weiß, woran er ist. Ich erwarte das von niemand anderem, aber ich erwarte es von mir selbst.«
Insofern konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass Vigga Magnus nicht hinterlassen würde, wo sie war und wie man sie erreichen konnte. Das war nicht ihr Stil.
Und drittens irritierte mich, dass Magnus’ Mails implizierten, dass irgendetwas mit Vigga los sein musste. Vigga und verschwunden? Wohin denn und warum denn, du meine Güte?
Deswegen machte ich mir Sorgen. Vielleicht war ihr etwas passiert. Aber was sollte das sein? Wahrscheinlicher erschien mir, dass etwas mit Magnus und ihr nicht in Ordnung war – ein Monsterstreit, wenngleich er davon nichts erwähnt hatte. In meinen Augen waren die beiden ein Traumpaar, aber das musste nichts heißen. Und Vigga war seit jeher der Typ, der Kummer mit sich allein ausmachte. Man sah ihn ihr nicht einmal an der Nasenspitze an, wenn man sie nicht so gut kannte wie ich. Von daher wäre es grundsätzlich nicht untypisch, wenn sie keine Freundin anrief, um ihre persönlichen und vielleicht intimen Befindlichkeiten mitzuteilen. Solche Sachen musste man förmlich aus ihr herausquetschen und präzise hinhören.
Also hatte ich auf einen ernsten Streit getippt – und mich erst mal lieber aus der Sache rausgehalten. Aber trotzdem schickte ich Vigga WhatsApps. Es kam keine Antwort. Dann rief ich sie an. Ihr Handy war ausgeschaltet. Nicht einmal die Mailbox war aktiv. Ja, und so wurden meine Bedenken größer.
Schließlich rief mich Magnus an, und das Telefonat beunruhigte mich dann noch sehr viel mehr.
»Ihr Handy ist immer noch ausgeschaltet«, sagte er. »Ich erreiche sie nicht telefonisch, nicht per Mail oder WhatsApp. Ich habe bei allen Bekannten und Verwandten gefragt, wo sie sein könnte, aber niemand weiß es. Sie hat sich bei keinem gemeldet, auch nicht bei ihren Eltern.«
Diese waren vor einigen Jahren nach Kanada ausgewandert.
Magnus sagte: »Sie ist einfach fort.«
»Aber warum? Und wohin?«
»Ich weiß es nicht. Seit drei Tagen ist sie wie vom Erdboden verschluckt.«
»Ist sie spontan verreist? Vielleicht ist sie ja zu ihren Eltern, und …«
»Nein. Ihre Eltern waren beunruhigt, aber ich habe gesagt, dass bestimmt alles okay sei, und gelogen, dass wir uns gestritten hätten. Aber sie kann nicht dort sein. Es fehlt nichts. Alle ihre Sachen sind noch da. Ihr Auto. Ihr Schlüssel. Ihr Ausweis. Der Reisepass. Sie hat keine Tasche gepackt, gar nichts fehlt – bis auf das, was sie morgens anhatte, und ihr Handy und ihre Jacke.«
»Magnus, ist zwischen euch etwas vorgefallen?«
»Nein. Alles war wie immer. Wie ich dir erzählt habe: Wir haben gefrühstückt. Wir haben uns verabschiedet. Ich bin zur Arbeit gefahren. Als ich zurückkam, war sie fort. Keine Nachricht. Nichts.«
»Habt ihr euch gestritten?«
»Nein.«
»Aber das ist überhaupt nicht ihre Art. Vigga ist nicht der Typ …«
»Ich weiß, wie sie ist. Deswegen ja.«
»Irgendeinen Grund muss es doch geben.«
»Ich weiß es nicht«, sagte er leise und mit erstickter Stimme. »Ich weiß es einfach nicht.«
»Magnus – Vigga verschwindet nicht einfach so und taucht ab. Ist wirklich nichts vorgefallen?«
»Nein! Und das macht mich verrückt. Ich stehe kurz vor dem Durchdrehen, Liv. Ich schlafe nicht mehr, ich esse nicht mehr …«
»Hast du die Polizei angerufen?«
»Das werde ich gleich tun.«
Ich wunderte mich etwas, dass er das nicht schon sofort gemacht hatte, also: nach einer Nacht. Ich wäre an seiner Stelle die Wände hochgegangen. Drei Tage schienen mir doch etwas lang zu sein. Nach meiner Meinung sprach sein Abwarten dafür, dass zwischen den beiden doch etwas vorgefallen sein musste. Magnus schien Vigga Zeit geben zu wollen, und wenn man das tut, dann mit einem triftigen Grund. Schließlich war ihm diese Zeit zu lang geworden, und die Hoffnung, dass sie wieder zur Besinnung kommen würde, war der Sorge um sie gewichen. So stellte ich es mir jedenfalls vor.
Ich hörte ihn tief seufzen. Weinte er? Meine Kehle schnürte sich zusammen, und ich spürte, wie mir selbst das Wasser in die Augen schoss. Ich konnte verstehen, wie sich Magnus fühlen musste – ich fühlte all das ja selbst: Verwirrung, Verzweiflung, Machtlosigkeit, Furcht, Selbstvorwürfe, Einsamkeit …
»Hoffentlich ist nichts passiert«, sagte er.
»Was soll denn passiert sein?«
»Ich weiß nicht. Ein Unfall. Keine Ahnung.«
»Kann ich irgendetwas tun? Ist irgendjemand bei dir und für dich da? Soll ich … Soll ich kommen?«
»Ich bin mir nicht sicher, Liv. Es macht dir sicher Umstände und …«
»Es macht keine. Ich kann sofort kommen.«
Magnus seufzte wieder. Er wirkte unentschlossen.
»Ich bin ihre Freundin, Magnus. Vielleicht gibt es irgendetwas, das ich tun kann oder das mir einfällt. Oder auffällt.«
»Okay«, sagte er leise. »Wenn du meinst.«
»Ich komme.«
Also hatte ich rasch ein paar Sachen zusammengepackt und war losgefahren. Und hier war ich nun.
Meine beste Freundin war verschwunden, und ich hatte keine Ahnung, was ich tun könnte – aber ich wollte in jedem Fall da sein. Da sein für Magnus. Da sein für Vigga und Teil dessen, was nach der Vermisstenmeldung folgen würde – was auch immer das sein mochte.
Doch ich hatte fürchterliche Angst, genau wie Magnus. Vorher war es nur unterschwellig gewesen. Aber indem er es laut ausgesprochen hatte, hatte er mich infiziert. Ich hatte schreckliche Angst davor, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte.