5.
I ch blieb noch einige Momente am Fjord stehen, rauchte die zweite Zigarette auf und trat die Kippe aus. Ich warf einen letzten Blick zur Fischerhütte, dachte an früher und sah zwei Prinzessinnen kreischend um ihr Schloss herumlaufen. Dann stieg ich ins Auto und fuhr weiter.
Vigga und Magnus wohnten nicht weit entfernt. Ich bog von der Hauptstraße in einen schmalen Weg ab, der in die weitläufige Dünenlandschaft unweit des Fjords führte. Zunächst war die Straße noch asphaltiert. Dann wurde sie zur Kiespiste und verwandelte sich später wieder in eine feste Oberfläche, die schwarz und neu aussah und wohl bereits zum Grundstück gehörte.
Das Haus war kein gewöhnliches, beileibe nicht. Wenn ich drei Wünsche frei hätte, dann stünde in jedem Fall auf der Liste: Ich möchte gern, dass ein Bauherr zu mir kommt und mir freie Hand in der Gestaltung in einer derartigen Lage lässt, und außerdem, dass alle beteiligten Behörden den Bauantrag anstandslos genehmigen. So etwas schien hier passiert zu sein. Der Bau war zeitlos, so elegant wie modern, und orientierte sich eindeutig an Frank Lloyd Wrights klassischen Ideen von der Symbiose aus zeitgenössischer Architektur und Umwelt sowie frühen Bauhaus-Konzepten. Außerdem wirkte er mit seinen strengen, klaren Formen sehr nordisch.
Es gab drei Baukörper. Im Sockelgeschoss befanden sich zwei aus naturbelassenem Beton, die mit einem rundum verglasten Durchgang verbunden waren. Hier war der Treppenaufgang. Quer darübergesetzt war das Obergeschoss – ein weißer Kubus, der sehr filigran wirkte, weil wesentliche Teile der Fronten von oben bis unten verglast waren, damit man Himmel, Landschaft, Fjord und Meer jederzeit sehen konnte, das Haus von der Natur durchdrungen war und es sich durch seine Transparenz außerdem gut in die Umgebung einfügte. Magnus und Vigga hatten ziemliches Glück gehabt, das Haus kaufen zu können.
Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Vigga mir das Exposé der Immobilie gemailt hatte, um mich nach meiner Einschätzung zu fragen. Mir waren fast die Augen aus dem Kopf gefallen, und ich hatte am Telefon lediglich »Kaufen« gekeucht, »sofort kaufen!«. Der Vorbesitzer war verstorben und hatte das Haus an seine Frau vererbt, die dort aber nicht mehr leben mochte. Der Kredit, den sie dafür aufgenommen hatte, war noch nicht vollends getilgt. Also hatte sie sich an die Bank gewandt, für die Vigga arbeitete. Sie hatte der Erbin vorgeschlagen, die laufenden Verträge und Kredite zu übernehmen, und ein paar Dinge geregelt, obwohl es eigentlich nicht ganz sauber war, Privates und Dienstliches miteinander zu verquicken.
Jedenfalls hätte das Haus auf dem freien Markt gewiss weitaus mehr eingebracht, als Magnus und Vigga am Ende dafür bezahlt hatten. Natürlich kostete es dennoch einen Batzen Geld, aber darüber verfügte Magnus dank seinem Software-Unternehmen, in das Vigga zudem ihr betriebswirtschaftliches Know-how einbrachte.
Während ich den auf einen Pfahl gepflockten amerikanischen Briefkasten passierte, musste ich an einen Leuchtturm denken. Es dämmerte, und in den meisten Zimmern war das Licht eingeschaltet. Dank der großen Fensterfronten wirkte es so, als strahle das von Dünen umgebene Gebäude von innen heraus – wie um Vigga den Weg nach Hause zu weisen.
Ihr Wagen war vor der Garage geparkt: ein Cabrio von Saab. Daneben stand der Mercedes-SUV von Magnus. Alles in allem hätte man annehmen sollen, dass hier ein sehr wohlhabendes, sehr stilvolles und sehr glückliches Paar wohnte. Das war ja auch der Fall.
Vielleicht aber auch nicht, dachte ich beim Einparken. Vielleicht war alles nur Fassade, und Glück lässt sich wohl nur in den seltensten Fällen an Oberflächen ablesen.
Magnus musste meinen Wagen gehört haben, oder ihm war das aufblitzende Abblendlicht von draußen aufgefallen. Er stand bereits in der offenen Tür und wartete auf mich. Ich nahm meinen Weekender aus dem Kofferraum, ging zu ihm hin, und wir umarmten uns. Er wirkte verzweifelt, und wir mussten beide erst mal weinen – so lange, bis wir es schrecklich fanden und fast darüber lachen mussten.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte er.
»Gibt es etwas Neues?«
Magnus schüttelte den Kopf, löste die Umarmung und bat mich hinein.
Ich war nicht oft hier gewesen. Man kann es an einer Hand abzählen. Das erste Mal hatte ich das Haus in Augenschein genommen, um Vigga eine Expertise über den Gebäudezustand zu geben und weil sie einige kleine bauliche Änderungen vornehmen wollte, was statische Fragen aufwarf. Dann kam ich noch einmal, um ebendiese Arbeiten zu begutachten. Schließlich zur Einweihungsparty und danach zu Viggas Geburtstag. Mein letzter Besuch musste ungefähr vier Jahre her sein.
Seither hatte sich nicht viel verändert. Die Einrichtung war dieselbe, für meinen Geschmack eine Spur zu modern, aber es passte natürlich zum Stil des Hauses: jede Menge Weiß, viel Schwarz, Bauhaus-Sessel, eine große und antiseptisch wirkende Küche, die in ein Esszimmer mit Eames-Stühlen und ein weitläufiges Wohnzimmer überging. Darauf fiel Licht aus in der Decke eingelassenen LED-Lampen. An den Wänden hingen Drucke von modernen Künstlern, um allem etwas Farbe zu verleihen. Der Boden bestand aus grauem Estrich, auf den Teppiche gelegt waren. Eine Treppe mit verchromten Handläufen führte nach oben zu einer Galerie und den übrigen Räumen – ich hatte den Grundriss noch im Kopf.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, in Viggas Reich einzudringen, ohne dass die Herrscherin da war. Seltsam, ja, aber genau so kam ich mir vor: wie ein Eindringling.
Etwas später saßen Magnus und ich am Tisch, tranken eine Flasche Wein und gingen noch einmal alles durch. Ich machte eine Liste, systematisch angelegt wie ein Bauantrag, und wir hakten ab: wo Vigga sein könnte, wer etwas wissen würde, warum sie vielleicht verschwunden war. Mit dem Ergebnis, dass weder mir noch Magnus etwas dazu einfiel. Magnus hatte bereits alle Personen kontaktiert, die ihm in den Sinn gekommen waren und die etwas über Vigga wissen könnten. Zumindest hatte er das so gesagt.
Ich merkte, dass ich langsam betrunken wurde. Ich hatte kaum etwas gegessen, dann die lange Fahrt, das viele Reden …
»Ich hoffe«, sagte ich, »dass die Polizei etwas herausfinden wird.«
»Das glaube ich eher nicht«, sagte Magnus.
»Warum nicht? Du hast Vigga doch als vermisst gemeldet?«
»Schon, aber die Polizei sieht es nicht als Vermisstenfall an.«
»Wie bitte?«
Magnus schüttelte den Kopf, als könne er es selbst nicht fassen. »Die Polizei hat einige Dinge überprüft und mir gesagt, sie sähen keine Anhaltspunkte dafür, dass Vigga das Opfer einer Straftat geworden sein könnte oder in einen Unfall verwickelt gewesen sein könnte. Auch spräche nichts für Selbstmord. Vigga sei auch nicht gefährdet – also: Sie nimmt keine Medikamente, auf die sie angewiesen ist. Man hat mir erklärt, dass eine erwachsene Frau sehr wohl das Recht hat, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, ohne es jemandem mitzuteilen. Falls es also keine Gefahr für Leib und Leben gibt, wird die Polizei nicht tätig. Und falls sie doch tätig wird, nimmt sie lediglich eine Aufenthaltsermittlung vor. Das heißt: Die Polizei würde zum Beispiel den Aufenthaltsort von Vigga feststellen und sie dann fragen, ob sie damit einverstanden wäre, dass die Polizei den Angehörigen Bescheid sagt. Damit hat es sich dann, falls die gesuchte Person wohlauf ist und keine strafbaren Handlungen begangen hat. Kurz: Wenn Vigga nicht will, dass ich erfahre, wo sie ist, dann werde ich es auch niemals erfahren – zumindest nicht von der Polizei.«
Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. »Du … du meinst, die werden nichts unternehmen?«
»Die Polizei hat ja schon ein bisschen was getan – Krankenhäuser abtelefoniert zum Beispiel. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es weit darüber hinausgehen wird. Ich meine: Auf den ersten Blick sieht es schlicht und ergreifend so aus, als ob sie mich einfach verlassen hat.« Magnus zuckte unter seinen eigenen Worten zusammen, als habe ihm jemand in den Magen geboxt. »Und in diesem Fall wird die Polizei kaum etwas unternehmen. Selbst wenn sie Vigga finden würden, dann … Also, sie hätte ja in der Zwischenzeit ein Lebenszeichen von sich geben können. Hat sie aber nicht. Dann wird es ihr wohl auch in Zukunft egal sein.«
Ich fasste nach Magnus’ Hand und drückte sie. »Glaubst du denn, dass sie aus eurem Leben ausbrechen wollte?«
»Nein. Aber … Ich weiß es nicht. Ich muss mich wohl den Fakten stellen. Vielleicht habe ich die Vorzeichen nicht erkannt oder nicht erkennen wollen, und sie ist auf diese Weise gegangen, weil es für sie so am einfachsten war.«
»Möglich«, antwortete ich.
Einerseits konnte ich es mir einfach nicht vorstellen, das war nicht Viggas Stil. Andererseits, wenn es um eine intime, emotionale Krise ging – wer wusste das schon? In meiner Erinnerung hat sie nie eine Konfrontation gescheut, hat sich beispielsweise auch immer mit Lehrern angelegt. Ich war nie so mutig wie sie gewesen. Doch wenn es um ihre persönlichen Angelegenheiten ging, war sie meist stumm wie ein Fisch. Sie drehte sich einfach um und ging, wenn man mit ihr derlei Probleme diskutieren wollte.
»Aber«, sagte Magnus, »sie müsste es dann ja von langer Hand geplant haben. Sie braucht doch Geld, Klamotten, ein Auto, ein … Meine Güte, ein Flugticket und Ausweise – aber es ist ja noch alles da?«
»Man kann Ersatzdokumente beantragen«, sagte ich. Was ich wusste, weil ich am Flughafen mal meinen Pass vergessen hatte. Dort kann man sich für die Dauer einer Reise einen Ausweis ausstellen lassen, der fast überall innerhalb von Europa gilt.
Magnus zuckte wieder schwach mit den Schultern.
Ich massierte mir die Augen, weil ich vor Müdigkeit und vom Wein schon Doppelbilder sah.
»Ich muss schlafen«, sagte ich. Dann ging ich zum Gästezimmer, das neben der Küche und unter der Galerie lag. Ich drehte mich noch einmal um und bekam einen Kloß im Hals, als ich Magnus alleine und verloren an dem großen Tisch sitzen sah.
»Ich glaube, dass alles gut wird, Magnus.«
Er nickte schwach.
Dabei würde überhaupt nichts gut werden.
Nie mehr wieder.
Ich hatte ihn aufmuntern wollen, wobei ich es bereits in dem Moment blöd fand, in dem ich es aussprach, weil ich selbst nicht daran glaubte. Rückblickend könnte ich behaupten, dass es eine Art Vorahnung war. Aber ich hätte mir beim besten Willen nicht ausmalen können, dass es die erste Nacht in dem Haus sein würde, in dem ich getötet werden sollte.