7.
I ch erinnere mich nur vage daran, was am anderen Tag geschah. Mein Blick wandert nach links, und ich überlege, was genau ich den beiden Polizisten davon erzählen soll beziehungsweise, was sie hören wollen. Ich weiß zum Beispiel nicht mehr, ob ich in der Nacht überhaupt geschlafen hatte. Aber ich erinnere mich daran, dass am anderen Morgen ziemlich viel los war.
Es gab einige Dinge zu klären.
Magnus bekam Besuch von Johann, den ich bislang nur vom Hörensagen kannte. Johann war Magnus’ Geschäftspartner. Die beiden führten ihr Softwareunternehmen gemeinsam, Tekksolv, und waren auch recht gut miteinander befreundet. Ihr Unternehmen machte irgendetwas mit Sicherheitssystemen für digitalen Zahlungsverkehr, Codierungen und Verschlüsselungen und so weiter. Weder Vigga noch ich haben uns jemals gut mit Computern ausgekannt. Ich kann sie bedienen, damit hat es sich dann aber auch schon, und, ehrlich gesagt, das reicht mir völlig. Wenn ich Probleme mit dem Computer oder dem Laptop habe, rufe ich meist Frederik an, meinen Ex, der ebenfalls Architekt ist und dankenswerterweise den laufenden Auftrag von mir übernommen hatte, damit ich an den Fjord fahren konnte.
Ich kam gerade mit feuchten Haaren aus dem Bad, als ich Magnus mit einem etwa gleichaltrigen Mann in der Küche stehen sah. Ich ahnte sofort, dass es sich um seinen Geschäftspartner handelte. Sie waren intensiv in ein Gespräch vertieft. Es schien ernst zu sein, kein Geplauder. Johann war schon fast kahl, was ihm jedoch gut stand. Er sah aus wie eine schlankere und jüngere Version von Bruce Willis, nur nicht so grobschlächtig. Jedenfalls schien er regelmäßiger Gast im Fitnessklub zu sein. Er steckte in einem teuer aussehenden, knallblauen Anzug mit offenem Hemdkragen zu hellbraunen Schuhen. Sein Gesicht war jedoch mindestens so grau wie das von Magnus. Viggas Verschwinden schien ihn ebenfalls mitzunehmen.
»Johann, Liv – Liv, Johann«, stellte Magnus uns vor. Seine Stimme klang matt. Er wirkte, als habe er die ganze Nacht über kein Auge zugetan.
Johann begrüßte mich per Handschlag. Sein Griff war nicht sehr fest und sein Gesichtsausdruck ernst. »Ich wünschte«, sagte er, »wir würden uns unter anderen Umständen kennenlernen.«
»Ich ebenfalls. Trotzdem freue ich mich«, erwiderte ich und ging zum Kaffeeautomaten.
Magnus sagte: »Johann und ich müssen in der Firma ein paar Dinge regeln, die ich vom Homeoffice aus nicht klären kann. Wir fahren gleich dorthin, nach Århus. Ist es okay für dich, wenn du ein paar Stunden hier alleine im Haus bist?«
»Natürlich.« Ich stellte den Automaten an, der die Kaffeebohnen mit einem lauten Surren zermalmte und kurz darauf als starke, schwarze Brühe in meine Tasse spuckte.
»The show must go on«, sagte Johann im Ausatmen und zuckte wie zur Entschuldigung mit den Achseln. Ich war etwas überrascht, dass sie mich alleine ließen. Ich hatte gedacht, ich helfe bei der Suche, aber ganz offensichtlich gab es ein paar wichtige Dinge, die sie gemeinsam regeln mussten – und zwar ohne mich. Sie wirkten – wie soll ich sagen? Sie wirkten wie eine kompakte Einheit auf mich, aber … Aber irgendwie auch nicht. Ich weiß natürlich nicht, wie ihr Verhältnis vor Viggas Verschwinden war. Jetzt erschienen sie wie zusammengeschweißt, aber man konnte die Schweißnaht sehen. Bedeutung habe ich dem damals nicht zugemessen.
Ein paar Minuten später waren sie mit Johanns Auto verschwunden – einem dunklen SUV von Mercedes. Dasselbe Modell, das Magnus fuhr. Nicht gerade preiswert.
Ich ging mit meinem Kaffeebecher ins Wohnzimmer und blickte aus dem großen Panoramafenster. Der Himmel war hellgrau. Es war windig und die Luft klar, was die eintönige Dünenlandschaft konturscharf hervortreten ließ. Durch die riesigen Scheiben wirkte es, als stehe man mittendrin, aber innen war alles still. Gelegentlich ließ ein Windstoß das Glas in seiner Verankerung knacken. Ich wusste, dass es sich um verstärkte Scheiben handelte – alles eine Frage der Statik, und es gibt Normen für die Windlast pro Quadratmeter, die hier fraglos erfüllt waren, denn so nah am Meer musste man mit Sturmböen der Stärke zehn oder mehr rechnen.
Es war befremdlich, so ganz alleine in Viggas Reich zu sein. Ich durchquerte das Wohnzimmer, ging zurück in die Küche, holte mir einen weiteren Kaffee und stieg dann die Treppe hinauf zur Galerie, wobei ich den Handlauf fest umklammerte und die Stufen langsam nahm, den Blick immer nach vorne gerichtet, auf einen Punkt knapp vor mir. Auf diese Weise gelingt es ganz gut, die Höhenunterschiede auszublenden, die mich auch bei Treppen nervös machen.
Insbesondere bei Treppen.
Schließlich erreichte ich die Galerie, die etwa drei Meter oberhalb des Wohnzimmers schwebte. Dort gab es ein Schlafzimmer, das große Bad und Magnus’ Arbeitszimmer. Unterhalb der Decke der Galerie konnte man eine Leiter ausklappen, die auf einen Dachboden führte. Dieser diente als Stauraum, weil das Haus nur teilweise unterkellert war, im Wesentlichen mit Räumen für die Haustechnik.
Warum ich zuerst ins Bad ging, kann ich nicht genau sagen. Die Reihenfolge der Räume spielte eigentlich keine Rolle, aber hinterher war sie vielleicht doch wichtig – für den »stream of consciousness«, so nennt man das, nicht? Eine Assoziationskette, an deren Ende mir schließlich einfallen sollte, dass ich auf dem Dachboden nachsehen musste.
Jedenfalls hätte ich mich nach einer Sekunde im Bad am liebsten wieder auf den Hacken umgedreht und wäre zurück in die Küche gegangen. Es fühlte sich absolut nicht richtig an, in die Privatsphäre von Magnus und Vigga einzudringen und herumzuschnüffeln – aber schließlich hatte ich einen guten Grund dafür, und im Bad war sie mir plötzlich wieder ganz nah. Es duftete nach ihrem Parfüm, ihrer Lotion. Sie benutzte offenbar immer noch die gleichen Produkte. In der Mitte des Raumes blieb ich stehen.
Das Bad war groß. Es gab zwei Waschbecken, eine geräumige Duschkabine und eine Eckwanne mit eingelassenen Massagedüsen, sodass sie auch als Whirlpool zu benutzen war. Die Wand über den Waschbecken war komplett verspiegelt, und als ich zu dem Becken hinsah, bekam ich einen Schreck. Für einen Moment dachte ich, ich hätte Vigga gesehen. Aber das war nur ich selbst im Spiegel, und hinter mir an der Wand hing ihr weißer Bademantel. Alles sah so aus, als habe sie gerade erst das Haus verlassen. Mein Blick glitt über ihre Schminkutensilien, ihre Zahnbürste, ihre Cremes, Haarfärbemittel.
Ich öffnete die Klapptüren des Unterschranks an dem Waschbecken, das ich als ihres identifiziert hatte. Dort lagen ordentlich zusammengefaltete Handtücher und weitere Toilettenartikel. Ich sah nichts, was man dort nicht vermuten würde.
Ich ging zurück auf den Flur und trank im Gehen einen Schluck von meinem Kaffee. Die Tür zum Schlafzimmer stand etwas offen. Ich sah durch den Spalt hinein – und war damit ja gewissermaßen fast schon drinnen. Mit den Fingerspitzen schob ich dir Tür weiter auf und betrat den Raum, der von einem riesigen weißen Boxspringbett dominiert wurde. Es stand auf einem hellgrauen Teppich, der so dick und flauschig war, dass ich meine eigenen Schritte darauf nicht hören konnte.
Das Zimmer sah ziemlich chaotisch aus. Vor Viggas Kleiderschrank – ich nahm an, es sei ihrer – türmten sich Wäscheberge und stapelten sich Kartons. An einer Kommode waren alle Schubladen aufgerissen und zum Teil leer, die Inhalte ausgekippt oder auf der Kommode gestapelt. Magnus schien alles durchsucht zu haben.
Im ersten Moment wunderte ich mich darüber, dass beide Bettdecken und Kopfkissen zerknautscht aussahen. Im zweiten war es mir peinlich, denn ich dachte mir, dass Magnus in seiner Verzweiflung und Sehnsucht in der Nacht das Gesicht in Viggas Kissen vergrub und vielleicht auch ihre Decke benutzte.
Ich musste schlucken und spürte, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Ich gab mir einen Moment, um mich zu sammeln, bewegte mich weiter in den Raum hinein und trat an das Chaos vor dem Schrank und der Kommode heran. Instinktiv hätte ich Viggas Kleidung am liebsten ordentlich sortiert und zurück in den Schrank gehängt, weil ich wusste, dass ihr ein solches Chaos zuwider war. Aber dann hätte Magnus erkannt, dass ich herumgeschnüffelt habe. Also ließ ich die Finger davon.
Einige ihrer Sachen kannte ich. Das galt auch für den Schmuck, den Magnus auf der Kommode gestapelt hatte. An der Wand darüber hingen Schwarz-Weiß-Fotos, die Vigga als Kind zeigten, und einige Aufnahmen aus unserem alten Dorf. Antike Aufnahmen auf Postkarten und andere, die aus einer Zeit zu stammen schienen, in der noch analog fotografiert wurde. Die Straße, der Strand, sogar die alte Fischerhütte waren darauf abgebildet.
Eine Schublade lag auf dem Boden. Ich hob sie an, drehte sie um und betrachtete den Boden. Früher war das ein probates Versteck für heimliche Liebesbriefe und andere Schätze gewesen: Man hatte einfach einen Briefumschlag unter eine Schublade geklebt und dann alles hineingesteckt, das niemand sehen sollte. Ich hatte ein solches Versteck gehabt, Vigga ebenfalls. Aber einen Umschlag gab es hier nicht.
Überhaupt, dachte ich, hatte Magnus sicherlich schon alles auf den Kopf gestellt und hätte ein derartiges Versteck gefunden – und wo er nichts gefunden hatte, würde ich wohl auch nichts entdecken.
Als Nächstes warf ich einen Blick ins Büro. Mir fiel nichts Besonderes auf. Es war Magnus’ Homeoffice. Auf dem Schreibtisch standen zwei externe Festplatten und ein riesiger PC-Monitor sowie ein gerahmtes Hochzeitsbild, das mir wiederum einen Stich ins Herz versetzte. Einige Mappen und Ausdrucke lagen herum. Arbeit, die mich nichts anging – so wie mich hier alles nichts anging.
Ich verließ das Büro, trat auf den Flur, und dann fiel mir wieder ein, was ich damals in meinem Briefumschlag unter der Kommodenschublade versteckt hielt: Es war ein kurzes Briefchen von meiner Mutter, in dem stand, wie lieb sie mich hatte. Außerdem die kleine Kette mit dem Kreuz, die sie immer getragen hatte. Meine größten Schätze. Alles, was mir von ihr geblieben war, weil ich es an mich geklammert und die Kette mit dem zusammengefalteten Zettel in meine Faust gepresst und nicht losgelassen hatte, als die Polizei mich damals aus dem Haus brachte, schreiend und blutüberströmt. Aus dem Kinderzimmer in Fjellerup war die Kommode auf den Dachboden gewandert, als sich mein Raum in einen für eine Jugendliche verwandelte. Der Briefumschlag befand sich wohl nach wie vor unter der Schublade, falls die alte Kommode immer noch auf dem Speicher meiner Pflegeeltern stand.
Ich warf einen Blick an die Decke und sah die Aussparung für das Klappfach, an dem sich die Trittleiter befinden musste. Man musste sie mit einem Haken herabziehen. Dann würde sich die Leiter wie eine Ziehharmonika entfalten, und man konnte hinaufsteigen. Aber ich sah keinen solchen Haken. Während ich mich danach umsah, hörte ich den Klingelton meines Handys. Es steckte in meiner Umhängetasche, die am Stuhl in der Küche hing.
Ich ging mit raschen Schritten über den Flur zur Treppe, spürte vor der ersten Stufe das typische Engegefühl in der Brust und dieses Ziehen im Leib, so ähnlich, wie wenn sich ein Fahrstuhl ruckartig in Bewegung setzt. Ein vertrautes Gefühl, das ich mit dem Umfassen des Handlaufs und dem Starren auf meinen Lieblingspunkt vor den Schuhspitzen unter Kontrolle brachte. Etwa eine Minute später war ich am Telefon.
Frederik rief aus Kopenhagen an. Er hatte einige Nachfragen wegen des Auftrags, den er von mir übernommen hatte. Es war nichts Großes, nur die Erweiterung einer Lagerhalle für gekühlte Lebensmittel, aber die Zeit drängte. Ich hätte sowieso einen Statiker hinzuziehen müssen, und in Frederiks Büro gab es einen solchen.
Gerne, das gebe ich zu, habe ich Frederik nicht um Unterstützung gebeten. Es ist nicht gerade so, dass ich mit Aufträgen überhäuft werde, und von irgendetwas muss ich schließlich die Miete bezahlen. Aber natürlich war es mir wichtiger, bei Magnus zu sein und bei der Suche nach Vigga zu helfen, und so sehr viel Geld warf der Job ohnehin nicht ab. Frederik machte da weiter, wo ich hatte aufhören müssen, und wenn ich wieder zurückkam, würde ich den Auftrag zu Ende bringen. Er hatte sicher gehofft, ich würde mich mit einer Einladung zum Essen erkenntlich zeigen. Aber das wollte ich nicht, sondern hatte ihm vorgeschlagen, ihm eine gewisse Summe zu bezahlen, und er hatte etwas davon gemurmelt, dass man das dann ja noch sehen könne.
Frederik gab »also wieder mal den Pausenclown« für mich, um ihn zu zitieren, und wenn er ironische oder sarkastische Bemerkungen über sein »tristes Dasein als Lückenfüller« macht, dann meint er das eigentlich gar nicht ironisch oder sarkastisch, sondern ganz ernst. Wir haben uns in Freundschaft getrennt. Wobei ich glaube, dieses »in Freundschaft« ging mehr von mir aus. Als ich ihn Vigga vorgestellt hatte, war sie davon überzeugt gewesen, dass er der Mr Right für mich wäre – ein ziemlich ruhiger, eher souveräner Typ, verständnisvoll, gut aussehend und mit einem Hipsterbart sowie modisch geschnittenen, strohblonden Haaren. Und ich habe es ihr an der Nasenspitze angesehen, dass sie wenigstens für einen Moment gedacht hat: »Oh, das könnte ja auch ein Mr Right für mich sein?« Sie hat versucht, das zu unterdrücken, was es irgendwie noch deutlicher gemacht hat. Und ich habe auch versucht, es mir nicht anmerken zu lassen, um nicht wie eine eifersüchtige Ziege dazustehen. Stand ich dann später allerdings wohl doch.
Aber ich habe mich ja auch gefreut, dass ihr Frederik als mein neuer Freund gut gefiel. Ich hatte ebenfalls angenommen, dass es richtig gut mit ihm und mir laufen würde, was es eine ganze Zeit lang tat. Doch dann spürte ich mehr und mehr, dass mir etwas fehlte. Ich kann nicht einmal sagen, was. Und ich habe das Gefühl, dass Frederik der Trennung in der Hoffnung zugestimmt hatte, dass ich früher oder später zu ihm zurückkehre.
Jedenfalls fragte er am Telefon nach den Maßen für irgendwelche Kühlaggregate, und ich antwortete, dass er die in einer Cloud finden könne, und nannte ihm das Kennwort.
»Wie geht es dir?«, fragte er dann. Er wusste, warum ich hier war.
»Wie soll es mir schon gehen«, erwiderte ich und trank einen großen Schluck Kaffee. »Schlecht. Meine beste Freundin ist verschwunden, Magnus ist am Boden zerstört, und ich habe ein ziemlich schlechtes Gefühl bei der Sache.«
»Gibt es immer noch keine Anhaltspunkte, wo Vigga stecken könnte?«
»Nein. Niemand hat sie gesehen oder etwas von ihr gehört.«
»Vielleicht stimmt das ja nicht.«
Ich trank noch etwas Kaffee. Mein Magen zog sich zusammen. »Wie meinst du das?«
»Es könnte ja sein, dass sie nicht gefunden werden will, und jemand lügt für sie.«
»Ich weiß nicht.«
»Vielleicht hat sie eine Affäre.«
»Dafür ist sie nicht der Typ.«
»Du kennst sie besser, aber es wäre doch möglich?«
»Vieles ist möglich. Bei ihr und Magnus war jedenfalls alles in Ordnung.«
»Wenn jemand einfach so verschwindet, ist eher nicht alles in Ordnung, würde ich sagen. Vielleicht hatten sie Probleme oder haben sich gestritten. Er erzählt es dir aber nicht.«
»Warum sollte er das denn verheimlichen? Das wäre doch dumm, denn dann wäre ja klar, was der Grund für ihr Verschwinden wäre.«
»Es könnte ja sein, dass er denkt, dass er für ihr Verschwinden verantwortlich ist – und, keine Ahnung, falls etwas Schlimmes passiert ist, dann will er dafür nicht verantwortlich sein. Ich wollte nur hören, ob alles okay ist.«
»Du musst dir keine Sorgen um mich machen.«
Frederik kommentierte das nicht.
»Echt nicht«, ergänzte ich.
»Mache ich aber. Ich habe Angst, dass es … dass du wieder einen Zusammenbruch erleidest«, sagte er, und natürlich wusste ich, worauf er anspielte.