10.
W
ie haben Sie darauf reagiert?«, fragt Tine.
»Ich war am Boden zerstört und gleichzeitig in heller Aufregung. Geschockt. Mir gingen tausend Gedanken durch den Kopf, und Magnus und ich mussten beide weinen. Es war schrecklich. Magnus hat in der Firma angerufen und gesagt, dass er in den nächsten Tagen nicht kommen werde. Kurz darauf traf Johann ein, um Magnus zu unterstützen, der ein sehr schweres Telefonat mit Viggas Eltern in Kanada zu führen hatte. Ich selbst rief bei Frederik an, um ihm zu sagen, dass ich meinen Aufenthalt verlängern würde. Er war entsetzt über die neusten Entwicklungen. Später sind Johann, Magnus und ich dann noch mal alles durchgegangen und haben an dem Abend sehr viel getrunken, aber keine Antworten gefunden.«
»Welche Ideen hatten Sie denn?«, fragt Tine.
Ich massiere meine Schläfen, langsam, aber sicher werde ich müde und bekomme trotz der Medikamente Kopfschmerzen. Vielleicht brauche ich eine Pause. Hunger habe ich auch.
»Wir haben darüber geredet, dass sie vielleicht von einem Vergewaltiger angegriffen worden ist. Es war unlogisch, dass ihr Auto noch da war, obwohl sie zur Arbeit fahren wollte. Entweder muss sie also das Haus verlassen haben, um draußen etwas zu erledigen oder noch einen Spaziergang zu machen. Sie ist früher gerne und oft spazieren gegangen. Oder jemand hat an der Tür geklingelt und sie dann überwältigt und verschleppt. Diese Überlegungen habe ich Ihnen dann ja auch geschildert, als Sie am nächsten Tag vorbeikamen, um mit mir zu reden, sich im Haus umzusehen, DNA von Vigga mitzunehmen, Fotos …«
»Ich erinnere mich«, sagt Tine.
Knud nickt wie ein Wackeldackel.
Tine fragt: »Diese Ideen, die Sie zu Viggas Verschwinden entwickelt hatten – für wie realistisch hielten Sie es denn, dass Vigga das Opfer von einem Angreifer geworden sein könnte?«
»Ich fand es schwer vorstellbar. Aber mir fiel zu dem Zeitpunkt auch nichts anderes ein. An dem Tag, an dem Vigga verschwand, war Magnus ja den ganzen Tag in der Firma in Århus. Dort hat man ihn ja auch gesehen. Wobei Johann nicht vor Ort war, der hatte Termine außer Haus. Aber …«
»Aber?«
Und dann sage ich es. Spreche es laut aus. Das, was ich zu fürchten begann. »Aber ich habe Magnus nicht geglaubt.«
»Sofort nicht – oder erst später nicht?«
»Am Anfang war es nur eine Ahnung. Ich vermutete, dass irgendetwas zwischen ihm und Vigga vorgefallen sein musste, worüber er nicht sprechen wollte. Zu einer Gewissheit wurde es später, als ich gute Gründe dafür fand.«
»Was haben Sie sich am Anfang denn vorgestellt?«, fragt Tine.
»Ich habe vermutet, dass es doch einen heftigen Streit gegeben haben musste und Magnus mir nichts davon erzählte, um nicht mit Viggas Verschwinden in Verbindung gebracht zu werden. Vigga hatte vielleicht wutschnaubend das Haus verlassen und einen Unfall gehabt. Ich … Ich habe gedacht, dass Magnus vielleicht etwas mit diesem Unfall zu tun haben könnte. Für mich passten einige Dinge einfach nicht zusammen. Aber das muss Ihnen doch genauso gegangen sein, oder?«
Tine kommentiert das nicht, Knud ebenfalls nicht.
Mein Kopf brummt, und mir wird schwindelig. »Ich meine, diese Widersprüche müssen doch der Polizei aufgefallen sein?«
»Uns sind unterschiedliche Dinge aufgefallen«, sagt Tine, was alles und nichts heißen kann.
Knud schaltet sich ein und schlägt ein Bein über das andere. »Wo sind Sie an dem Tag gewesen, als Vigga verschwand?«
»In Kopenhagen«, erwidere ich und massiere mir die Schläfen fester, schließe die Augen kurz und atme tief durch.
»In meiner Wohnung. Im Homeoffice. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet. Am nächsten Morgen habe ich dann Magnus’ E-Mail bekommen.«
»Haben Sie an dem Tag Mails verschickt und Telefonate geführt?«
»Weiß ich nicht. Bestimmt. Warum?«
»Die Telefonate könnten ihre Aussage bestätigen. Es sei denn, jemand anderes weiß verlässlich, dass Sie im Homeoffice waren.«
Ich blinzle. »Wieso ist das denn wichtig? Ich meine …« Ich seufze, öffne die Augen und blicke zu Tine. »Tut mir leid«, sage ich, »es ist alles sehr anstrengend. Ich muss mich etwas ausruhen. Könnte ich eine Pause haben?«
Knud lehnt sich im Stuhl zurück, ganz offensichtlich unzufrieden. Bevor er oder Tine etwas sagen können, drücke ich bereits den Knopf, der eine Schwester anfordert. Knud scheint protestieren zu wollen, aber Tine winkt ab und sagt: »Wenn Sie sich nicht wohlfühlen, machen wir eine Pause. Knud und ich können einen Kaffee vertragen.« Dann steht sie auf und ergänzt: »Aber wir müssen weitermachen. In einer Stunde?«
Ich zucke mit den Achseln, als sich bereits die Tür öffnet und eine Schwester hereinkommt.
»Ja«, sage ich müde und schließe wieder die Augen. »Probieren wir es in einer Stunde.«