11.
K
nud Nissen und Tine Kjær verlassen das Zimmer und nicken der Polizistin zu, die auf einem Stuhl neben der Tür sitzt. Bewachung. Sicherheitsgründe. Bald müsste Schichtwechsel sein, denkt Tine. Mit der Zeit lässt die Aufmerksamkeit nach, und um einen solchen Job reißt sich niemand, auch wenn Geldverdienen im Herumsitzen zunächst verlockend klingt. Das ist es aber nicht. Es ist nervtötend.
Tine rollt im Gehen den Kopf in den Nacken, massiert sich mit der Hand die Muskeln unter dem blonden Haar.
»Sie lügt. Eine vollkommen irre Geschichte hat sie sich ausgedacht«, murmelt Knud und checkt im Gehen seine Mails, aber Tine ignoriert die Bemerkung. Sie hört das nicht zum ersten Mal.
»Wo ist die Cafeteria?«, fragt sie.
»Erdgeschoss.«
»Dann ab ins Erdgeschoss.«
Die Cafeteria sieht aus wie jede beliebige Krankenhaus-Gastronomie. Man könnte genauso in einer Autobahnraststätte sitzen und würde den Unterschied nicht merken, wenn nicht so viele Menschen mit Verbänden und in Joggingkleidung hier herumlaufen würden. Na ja, schleichen ist wohl das bessere Wort.
Tine hasst Krankenhäuser. Der Geruch, die Gegenwart von Siechtum … Abscheulich, aber leider ist sie relativ oft dort, um mit Opfern oder Tätern zu sprechen – zum Glück muss sie nur extrem selten Kollegen besuchen, die im Einsatz verletzt worden sind. Sie zieht einen Milchkaffee aus dem Automaten und bestellt ein Stück Käsekuchen. Knud wählt zwei belegte Brötchen und eine Cola. Mit den Tabletts gehen sie zu einem Tisch am Fenster, ohne zu reden. Schweigen können sie gut, haben es in Jahren und Jahrzehnten gelernt und zuletzt so etwas wie die dänischen Meisterschaften im Nichtssagen ausgefochten, als sie eine Zielperson rund um die Uhr in Hirtshals überwachen mussten. Zu anderen Zeiten saßen sie bei Observationen im Auto und erzählten sich alles und jedes – viel mehr, als man Kollegen erzählen sollte, weil die Dunkelheit der Nacht die Zungen löste. Tja, so war es manchmal. Man redete gar nicht, oder man redete sich den Mund fusselig. Daher wusste Tine von Knud, dass er ein trockener Alkoholiker war, der sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich wieder mit dem Trinken anzufangen – obwohl das seine Existenz vernichten und seine Frau mit den Zwillingen ausziehen würde. Und er wusste von ihr, dass sie sich für beziehungsunfähig hielt und notorisch fremdging, weswegen sie vor einigen Jahren beschlossen hatte, Single zu bleiben, was aber auch nicht klappte. Mit Gunnar ist sie zwar sehr glücklich – aber manchmal, wenn sie den einen oder anderen attraktiven Typen sieht … Wahrscheinlich, hat Knud mal analysiert, sei das bei ihr sehr ähnlich wie bei ihm, wenn er ein Glas sieht, in dem der Whisky glänzt wie flüssiges Gold. Und vermutlich, denkt Tine, ist es sogar wie bei Liv: Call of the void, der Lockruf des Abgrunds. Vielleicht hört man ihn nur, um sich klarzumachen, wie nah man am Rand steht, damit man etwas zurücktritt.
»In jedem Fall«, sagt Knud jetzt und blickt aus dem Fenster, während er an der Cola nippt, »brauchen wir ein fachmedizinisches Gutachten über Liv.«
»Das brauchen wir«, bestätigt Tine und zupft ein einzelnes Haar von ihrem Kaschmirpulli ab. »Aber wir bekommen es nicht so schnell. Wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben. Und das besagt laut ihrer behandelnden Ärztin, dass sie unter einer Amnesie leiden könnte. Nicht, dass sie es auch tut. Könnte. Konjunktiv.«
»Aber das müssen wir testen lassen. Dazu gibt es doch Verfahren.«
»Die gibt es ohne Frage. Und ganz sicher müssen wir das testen lassen«, sagt Tine und isst ein Stück Käsekuchen. Er schmeckt nicht besonders. Vollgepumpt mit Aromastoffen und viel zu hart. »Der Arzt hat allerdings gesagt, dass sie das erst testen können, sobald es ihr körperlich besser geht.«
»Das tut es ja jetzt.«
»Ja.« Tine kaut und schluckt, deutet mit der Gabel herum wie mit einem Dirigentenstock. »Der Arzt hat gesagt, es könnte damit zu tun haben, dass sie heftig auf den Kopf gefallen ist. Es könnte auch an dem Schock liegen und eine Art posttraumatische Nebenwirkung sein – oder auch mit dem Herzstillstand zu tun haben, also: mit einer kurzfristigen Unterversorgung des Gehirns. Oder mit einer Mischung aus allen drei Faktoren.«
»Ich weiß. Und das kann dazu führen, dass sie sich an einige Sachen nicht genau erinnert oder sie durcheinanderbringt. Oder sie lügt, dass sich die Balken biegen.«
»Das ist das Problem«, sagt Tine und spült mit Kaffee nach, der deutlich besser ist als der Kuchen.
Genau. Das ist das Problem: durcheinanderbringen, sich nicht mehr ganz erinnern – oder lügen. Deswegen wiederholen sie mit Liv seit gestern immer wieder den Hergang und ihre Personalien, um festzustellen, ob sich an ihren Aussagen etwas ändert, ob etwas neu hinzukommt, sozusagen schärfer in ihrer Erinnerung wird, oder sie wiederum andere Dinge durcheinanderwirft. Es ist sonst sehr schwer, auseinanderzuhalten, was stimmt und was nicht, was bewusst und was unbewusst ist und ob es miteinander verschwimmt. Und tatsächlich hat man den Eindruck, ihre Aussagen werden eher präziser als diffuser.
Doch es bleibt dabei: Einiges muss man sich zusammenpuzzeln und kann doch nicht darauf vertrauen, dass es stimmt, was Liv sagt – da liegt das größte Problem: Kann
sie über bestimmte Dinge keine akkuraten Aussagen treffen, oder will
sie es nicht und lügt? Das, da hat Knud recht, kann nur ein Gutachten belegen. Aber so oder so, denkt Tine, müssen sie weiter mit Liv reden.
Knud macht sich über eine Brötchenhälfte her. »Ob bewusst oder unbewusst: Sie erzählt nicht die Wahrheit.«
Tine öffnet die Handtasche und nimmt ihr Handy heraus. Sie checkt einige belanglose Textnachrichten und klickt Mitteilungen darüber fort, dass Personen ein neues Bild auf Instagram gelikt haben. Tine hatte ein dramatisches Foto vom Himmel gepostet, als sie vorhin ins Krankenhaus gekommen sind. Achtunddreißig Personen hat es bisher gefallen, darunter zu Tines großer Freude sogar #pilotinmarthe, deren Account Tine täglich anschaut. Marthe ist eine dänische Pilotin mit fast vierzigtausend Followern. Sie postet Bilder aus aller Welt und hat inzwischen diverse Werbeverträge. Tine ist ein Fan ihrer Bilder – nicht wegen Marthe, sondern weil Tine den Himmel mag und sich oft wünscht, wie Marthe die ganze Welt zu sehen, und weil sie lieber an karibischen Stränden Yoga machen würde, statt in nach Mensch stinkenden Kliniken herumzuhängen und sich mit Fällen zu befassen, die ebenfalls nach Mensch stinken: nach den Abgründen menschlicher Seelen.
Tine steckt das Handy wieder ein und isst den Rest Käsekuchen. »Finden wir schon noch heraus, Knud«, sagt sie mit vollem Mund. »Tun wir am Ende ja immer.«