12.
M
eine Augen sind geschlossen. Aber es ist, als ob ich jetzt erst wirklich sehe. Die Erinnerungen rasen wie wild durcheinandergeschnittene Filmclips im schnellen Vorlauf hinter meinen Lidern, ohne jede Ordnung, ohne System. Ich will das Chaos aufhalten. Ich versuche, mich auf eine schwarze Fläche zu konzentrieren, die allerdings nicht ganz schwarz ist, mehr wie Schiefer mit unterschiedlichen Schattierungen, die ich untersuchen will. Nichts ist jemals ganz schwarz oder ganz weiß.
Der Film in meinem Kopf läuft langsamer. Meine Gedanken werden klarer und schwerer – so, als ob das Zeug aus dem neuen Tropf, den die Krankenschwester eben an meinen Zugang geklemmt hat, sie wie Gefäße mit Flüssigkeit ausfüllt und sie herabsacken lässt. Alles wird träger, zäher, aber auch sortierter.
Ich erinnere mich an das erste Gespräch mit Tine und Knud. Ich sehe uns gemeinsam am Küchentisch sitzen, während Magnus zwei weitere Polizisten durch das Haus führt. Sie sind mit Tine und Knud gekommen, um sich alles genau anzusehen, Fingerabdrücke von Vigga zu erhalten, indem sie Gegenstände mit Puder bestreuen, die sie häufig angefasst hat, und diesen Puder dann mit transparenten Klebestreifen von den Oberflächen abziehen. Sie sammeln Kämme und ihre Zahnbürste ein, weil sie ihre DNA benötigen, und sie machen Fotos. Es ist, wie mir Magnus erklärt hat und wie Tine und Knud es am Küchentisch bei einem Kaffee wiederholen, keine Hausdurchsuchung. Vielmehr müsse die Polizei die blutigen Kleidungsstücke Vigga exakt zuordnen können, wozu die bloße in Augenscheinnahme von Magnus nicht ausreiche. Außerdem erhoffe sich die Polizei, mehr über Vigga zu erfahren.
Ich höre mich selbst reden und erzählen, was ich Tine und Knud auch heute wieder erklärt habe. Wer ich bin, was ich denke, in welcher Beziehung ich zu Vigga und Magnus stehe, wie ich alles persönlich erlebe, was ich mir für Gedanken mache, bla, bla, bla …
Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mich schon damals mit Skepsis betrachtet haben und bereits einiges über mich wussten. Wie ich schon sagte: Wessen psychische Probleme amtlich geworden sind, der ist stigmatisiert. Da kann die Welt noch so offen geworden, die Schwellenängste gegenüber der Psychiatrie gesunken sein – ein kleiner Funke glimmt einfach weiter. Man kann ihn in den Augen vieler Menschen in dem Moment sehen, in dem sie erfahren, was mit dir los ist oder los war oder irgendwann vielleicht noch einmal los sein könnte. Unsicherheit, Skepsis, Angst. Das liest man in den Gesichtern. Nicht in allen natürlich.
Dabei konnte ich nichts dafür. Ich bin ein Opfer. Meine Höhenangst und alles – es führt zurück zu dem, was in meiner Kindheit geschehen ist.
Die Treppe.
Das Blut.
Das Weinen.
Ja, ich bin Liv Solberg. Die
Liv Solberg. Mein Name ist weniger bekannt als mein Fall. Was mit mir geschehen ist, kann man googeln und in jedem Zeitungsarchiv nachschlagen. Das habe ich ja selbst getan, als ich mit der Aufarbeitung begann. Mein Trauma ist zugänglich. Meine privatesten und prägendsten Erfahrungen sind öffentlich.
Zusammengefasst geschah damals Folgendes:
Mein Vater hat meine Mutter umgebracht. Vielleicht wollte er auch mich töten, das weiß man nicht. In jedem Fall hat er versucht, sich umzubringen, aber nicht genug Mut dazu aufgebracht, der Feigling.
Meine Mutter hatte sich von ihm getrennt. Er wollte das aber nicht zulassen. Eines Tages drang er in unser Haus ein, um sie noch einmal zur Rede zu stellen, obwohl längst alles klar war. Mama hatte außerdem schon jemand anderen kennengelernt. Dann eskalierten die Dinge.
Mein Vater stach sechsundfünfzig Mal mit mehreren Küchenmessern auf meine Mutter ein. An einem Messer brach sogar die Klinge ab, weil sie auf einen Halswirbel traf. Außerdem schlug er sie mehrfach, und zwar mit den Fäusten sowie mit einem langstieligen Topf, in dem sie gerade Wasser aufgekocht hatte, was zu Platzwunden und zu schweren Verbrühungen führte. Mit Tritten brach er ihr mehrere Rippen, den Kiefer, das Jochbein und einen Beckenknochen.
Ihr Tod war unfassbar brutal.
Einige Polizisten sagten vor Gericht aus, sie hätten noch nie so einen schlimmen Tatort gesehen. Eine psychologische Gutachterin erklärte, bei häuslichen Taten, in denen Eifer- oder Rachsucht im Spiel sei, käme es häufig zu einer Art Overkill, weil mehrere Faktoren zusammentreffen. Heftige Wut entlädt sich. Der Täter erkennt, dass er mit dem ersten Stich oder Schlag etwas Schlimmes getan hat. Er hat die Grenze überschritten. Also macht er weiter. Es wird dann noch schlimmer, weil es sehr schwer ist, einen Menschen zu töten. Es geht nicht so einfach wie im Film – ein Stich in den Bauch, und dann fällt das Opfer um.
Das Tüpfelchen auf dem i war ich.
Der ganz besondere Schrecken für alle.
Denn ich habe alles mitangesehen.
Ich war vier Jahre alt.
Es war spätabends. Die Schreie der beiden hatten mich geweckt. Ich war aufgestanden. Unser Haus hatte zwei Geschosse. Mein Kinderzimmer war oben. Vom Rand der Treppe aus sah ich alles mit an. Wie mein Vater auf meine Mutter einschlug und einstach. Als er fertig war, bemerkte er mich und kam hochgelaufen, nahm mich auf den Arm und mit ins Kinderzimmer. Als die Nachbarn die Polizei gerufen hatten und die Tür aufgebrochen wurde, fand man meinen Vater weinend und wimmernd in meinem Kinderbett liegend. Er hatte versucht, sich mit einem Schraubenzieher die Pulsadern aufzustechen – aber es dann nicht zu Ende gebracht.
Mich fand die Polizei im Blut meiner Mutter schlafend vor. An ihrer Seite, das Gesichtchen auf den kalten, nackten Bauch gebettet. Das habe ich alles in den Berichten gelesen, die in der Gerichtsverhandlung gegen meinen Vater vorgetragen worden waren.
Ein Jugendgericht verfügte recht schnell, dass ich in eine Pflegefamilie kommen sollte. Mein Vater kam lebenslang ins Gefängnis, meine Mutter war tot. Zu meinen Großeltern, zur Tante oder engen Freunden sollte ich nicht. Die psychologischen Gutachter und das Gericht meinten, dass ich unbedingt von allem getrennt werden sollte. Sie gingen davon aus, dass ich wegen meines geringen Alters ziemlich gute Chancen hätte, einigermaßen ungeschoren davonzukommen, falls ich nicht permanent mit den Ereignissen innerhalb der Familie konfrontiert würde – und das wäre zweifelsohne geschehen. Also kam ich nach Fjellerup mit einem neuen Namen zu Henner und Birthe in ein neues Leben. Das heißt: Ich habe es gar nicht so wahrgenommen. Es war zuerst einschüchternd, ja, aber später alles wie selbstverständlich … Es ist schwer zu beschreiben. Vielleicht geht es einer jungen Katze so ähnlich, deren Besitzerin stirbt und die ins Tierheim kommt und dann in eine neue Familie vermittelt wird. Sie findet sich recht schnell mit den neuen Gegebenheiten zurecht. Genau wie ich. Und gelegentlich denke ich, dass ich ja kein Einzelfall bin. Wie viele Kinder hatten früher und haben heute ein ähnliches Schicksal durch Kriege, Flucht und Vertreibung erlitten? Das habe ich mir schon früher immer vor Augen gehalten, damit ich mich nicht im Selbstmitleid suhle.
Manchmal schaue ich in das Familienalbum von Birthe und Henner und mir. Und wie ich schon sagte: Ich war ein glückliches Kind. Ich sehe mich auf fast allen Fotos lachen. Nur auf Gerüste bin ich nie geklettert. Nicht auf Rutschen oder Türmchen, auf keine Mauern. Als Jugendliche bekam ich die ersten handfesten Panikattacken vor der Höhe – und ich begann, mir Fragen über mein Leben und das zu stellen, was mir widerfahren ist, und Antworten zu suchen. Ich klärte das mit den Therapeuten, Henner und Birthe hielten sich aus allem raus und erklärten mir, dass das besser so sei, was die Fakten anging, denn die würden sie auch nicht genau kennen. Aber sie waren immer da, um mich aufzufangen. Immer, wenn ich als Kind Angstattacken bekam, holte Henner ein großes Buch, um mich abzulenken. Es war ein Weltatlas der Architektur mit Hunderten von Gebäuden aus allen denkbaren Epochen. Henner erzählte mir, wohin er noch so gerne einmal fahren würde oder wo er schon war und was für tolle Gebäude in Rom und Florenz stehen. Und jedes Mal, wenn sich meine Augen an den Linien, Kuben und Winkeln festhielten, an der strengen Rhythmik einer Fassade, wurde ich ruhiger. Tja, vielleicht bin ich deswegen später Architektin geworden: wegen Henner und diesem Buch, weil mich feste Strukturen beruhigen und weil ich immer wieder etwas Neues entwerfen und erschaffen kann, wie ein neues Leben.
Es klingt schrecklich. Es war schrecklich. Aber angesichts der entsetzlichen Tat und dessen, was ich erlebt habe, bin ich alles in allem ziemlich glimpflich davongekommen. Ich glaube, dass das Gericht damals die richtige Entscheidung getroffen hat und dass die psychologischen Therapeuten, die mich betreut haben, wirklich gute Arbeit leisteten. Bis auf mein Ding mit der Höhenangst und ein paar andere Macken bin ich relativ normal, denke ich, und das mit der Phobie ist angesichts meiner Erfahrungen ganz gut nachvollziehbar. Der Blick von einer Treppe hinab auf meinen Vater, der meine Mutter umbringt, hat sich in meinem Gehirn mit dem puren Grauen verknüpft. Die Furcht vor dem Sich-fallen-Lassen und Kontrollverlust geht damit einher, denn natürlich konnte ich mich nicht in den Schoß einer echten
Familie fallen lassen und hatte absolut nichts mehr in meinem jungen Leben unter Kontrolle.
Irgendwann kam der Punkt, an dem ich die Kontrolle zurückhaben wollte und musste. Als ich volljährig wurde, bestand ich darauf, meinen alten Namen wieder anzunehmen. Und mit fünfzehn oder sechzehn hatte ich den Entschluss gefasst, meine Vergangenheit aufzuklären. Ich wusste bis dahin zumindest so viel, dass mein Vater meine Mutter umgebracht hatte, weswegen ich in einer Pflegefamilie war. Alles war sehr vage. Schritt für Schritt erfuhr ich, was es mit den vereinzelten grauenhaften Bildern auf sich hat, die in mein Gehirn eingebrannt waren. Wobei ich bis heute nicht mit absoluter Sicherheit unterscheiden kann, welche der Bilder echt sind und welche nicht.
Damit meine ich, dass man sich an Dinge, die man im Alter von vier Jahren erlebt hat, nicht wirklich genau erinnern kann. Das hat biologische Gründe. Es geht einfach nicht. Das Gehirn ist noch nicht so weit entwickelt. Aber es gibt trotzdem Bilder und Szenen, die auf merkwürdige Art und Weise zu scheinbaren Erinnerungen werden können, weil man sie sich wieder und wieder in allen Details vorstellt. Man denkt, man hätte das wirklich so gesehen und erlebt. Aber es muss nicht wahr sein. Oder andersherum: Es ist zwar genauso geschehen und man war auch dabei – aber die Erinnerungen hat man sich selbst implantiert, weil man sich das Geschehen auf der Grundlage von Erzählungen immer wieder extrem bild- und lebhaft vorgestellt hat.
Und vermutlich ist es auch gar nicht so wichtig, welche dieser Bilder real sind und welche für mich wie real wurden. Denn an den Tatsachen lässt sich nichts deuten: Mein Vater hat meine Mutter umgebracht, und ich habe dabei zugesehen. Das reicht vollkommen aus.
Vigga war der einzige Mensch außerhalb meines engsten Zirkels aus Pflegefamilie und Psychologen, dem ich mich anvertraute. Einmal fragte sie mich, ob ich gar nicht neugierig sei, meinen Vater kennenzulernen und von ihm aus seiner Perspektive zu erfahren, warum das damals alles geschehen war. Nein, war ich nicht. Auch nicht auf meine echte Familie. Kein Stück. Ich wollte einfach nichts damit zu tun haben. Und schon gar nicht mit meinem Vater. Dass ich einen Nervenzusammenbruch bekam, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, liegt auf der Hand.
Damit will ich nicht sagen, ich hätte echte, kalte Angst davor gehabt, dass er mir etwas antun würde. Unterschwellig wohl schon, denn ich fürchtete, dass er mich suchen könnte, weil ich schließlich seine Tochter bin. Aber das hat er bis heute nicht getan, und ich habe keine Ahnung, wo er steckt. Ja, diese unterschwellige Furcht vor ihm …
Die Polizei hatte damals angenommen, dass er die ganze Familie auslöschen wollte, nachdem er meine Mutter umgebracht hatte. Die meisten dieser Amok laufenden Väter tun das nämlich – vor allem, wenn sie wie meiner als gewalttätig bekannt sind und schon Vorstrafen wegen Körperverletzungen und solcher Sachen haben.
Sie ermorden ihre Ex-Frau und glauben dann, die Kinder könnten auf keinen Fall so weiterleben und seien tot besser dran, weswegen sie dann die Kinder töten und anschließend sich selbst. Mein Vater war dazu wohl zu schwach. Die Polizei glaubte, er habe sich deswegen in mein Zimmer begeben, weil er mich umbringen wollte. Aber ich sei ihm entkommen und zu meiner toten Mama gelaufen. Er habe sich dann in mein Bettchen gelegt und vergeblich versucht, zumindest seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen, aber nicht den Mut und nicht die Kraft dazu aufgebracht. Und daher also meine Angst: Der Mann, der mich umbringen wollte, war wieder frei. Dabei glaubte ich wirklich nicht, dass er mich suchen würde, um nachzuholen, was er damals verpasst hatte. Das denke ich bis heute nicht. Ich glaube, meine größte Furcht ist vielmehr, mich mit ihm zu konfrontieren und Dinge aufzuwühlen, die inzwischen hinter verschlossenen Türen ruhen.
Vielleicht, so denke ich manchmal, sollte ich irgendwann einige dieser Türen öffnen. Denn wenn ich ehrlich bin, würde ich Viggas Frage von damals heute anders beantworten. Ich habe lange Jahre nach außen hin alles von mir weggeschoben. Aber insgeheim hätte ich durchaus Tausende Fragen an meinen Vater, und ich würde ihm gerne Tausende Dinge an den Kopf werfen. Ich würde gerne wissen wollen, ob er manchmal an mich denkt. Warum er das damals getan hat. Ob er wirklich vorhatte, mich zu ermorden. Dabei bin ich mir eigentlich sicher – er wollte und konnte mich damals nicht umbringen. Und er würde mir auch heute nichts antun wollen. Alles, was mich einholte, war die Angst, die aus meinem Trauma resultierte. Aber vielleicht war es auch die Furcht davor, dass ich ganz anders reagieren und auf ihn einschlagen würde.
Tja. Und dann sollte ich doch ermordet werden – von jemand anderem. Ermordet wie Vigga.