17.
D as war der Tag, an dem …«, sagt Tine.
Ich nicke. »Ja, das war der Tag.«
Knud räuspert sich und schlägt die Beine übereinander. »Warum haben Sie uns nicht angerufen und von dem Tagebuch erzählt?«
»Warum hätte ich das tun sollen?«
»Sie haben aus dem Tagebuch erfahren, dass Magnus nicht die Wahrheit gesagt hat. Ihnen nicht und uns nicht.«
»Ich wusste ja nicht, was er der Polizei erzählt hat und was nicht.«
»Warum sollte er uns etwas anderes erzählen als Ihnen?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Sie haben herausgefunden, dass er nicht die Wahrheit über die Beziehung zu seiner Frau gesagt hat. Sie haben außerdem erfahren, dass beide angeblich etwas Schlimmes getan haben, dass es finanzielle Probleme gab. Das hätte Sie doch alarmieren müssen, wo Sie ohnehin annahmen, dass mit Magnus etwas nicht stimmt. Also hätten Sie die Polizei anrufen sollen und auf das Tagebuch aufmerksam machen. Das wäre die nächstliegende Reaktion gewesen. Ihre beste Freundin ist mutmaßlich ermordet worden und in jedem Fall unter merkwürdigen Bedingungen verschwunden, und ihr Ehemann hat nicht die Wahrheit erzählt. Also ich hätte an Ihrer Stelle die Polizei verständigt.«
»Dann hätte Magnus gewusst, dass ich hinter seinem Rücken herumschnüffle, und vielleicht hätte das alles nichts zu bedeuten gehabt. Er hätte sich von mir beschuldigt gefühlt. Und ich wusste ja noch nicht, worum es geht und was …«
»Wir hätten einen Weg gefunden, Sie in Schutz zu nehmen«, sagt Knud und klickt mit dem Kugelschreiber. »Ich sage Ihnen, warum Sie uns nicht angerufen haben. Das hat einen ganz einfachen Grund, denn …«
Er bricht ab, als Tine ihm die Hand auf den Unterarm legt. »Ich glaube, das führt uns im Moment nicht weiter, Knud.«
»Ich denke schon«, erwidert er und wirkt ziemlich verärgert.
Ich frage mich, was für ein Spiel die beiden hier abziehen und warum. Böser Cop und guter Cop? Oder ist das echt?
»Was ist Heimdall?«, fragt mich Knud, während Tine im Ausatmen einen Seufzer von sich gibt.
»Ich weiß nicht, was das ist.«
»Gemäß dem Protokoll Ihrer vorherigen Aussage haben Sie auch Johann und Magnus darüber reden hören.«
Das stimmt. Mir war das vorher nicht aufgefallen, erst, nachdem ich den Begriff in Viggas Tagebuch gelesen hatte. Das Wort fiel gelegentlich zwischen den beiden. Soweit ich es beurteilen kann, war es ein wichtiges Projekt des Softwareunternehmens.
»Vigga hat in dem Tagebuch geschrieben, dass es irgendein Vorhaben von Magnus’ Firma war. Mehr weiß ich darüber nicht. Ich weiß nicht einmal, was das Wort bedeutet. Irgendwas mit Göttern.«
»Heimdall ist der Torwächter von Asgard, der Götterwelt«, erklärt Knud. »Das allsehende Auge.«
Ich zucke wiederum mit den Schultern – zum gefühlt hundertsten Mal. »Sagt mir nichts. Fragen Sie doch Magnus.«
Knud setzt an, etwas zu sagen, aber Tine lässt ihn nicht zu Wort kommen.
»Liv, bitte erzählen Sie uns weiter, was an dem Tag geschehen ist.«
»Okay«, sage ich und beobachte Knud, der sich zurücklehnt und mich ziemlich feindselig mustert. Zumindest für einen Moment. Im nächsten blickt er vollkommen ausdruckslos.
Ich wende mich zu Tine. »Ich habe mich umgezogen. Das heißt: Ich wollte mich umziehen, aber ich hatte keine frischen Klamotten mehr. Ich war nur auf einen kurzen Besuch vorbereitet gewesen. Nicht dafür, eine Woche am Fjord zu sein. Ich konnte mich schlecht vor den Männern ausziehen und die mit Rotwein bekleckerten Sachen in die Waschmaschine stecken. Die Kleidung, mit der ich angereist war, war sandig und durchgeschwitzt. Und dann sagte Magnus: »Zieh doch etwas von Viggas Sachen an. Sind ja genug da.«
Die Kleidung meiner besten Freundin, ohne sie zu fragen. Die Kleider einer Toten, zumindest einer Verschwundenen.
»Was Sie dann auch getan haben«, stellt Tine fest.
»Eigentlich wollte ich es nicht. Aber dann meinte ich, Vigga in meinem Ohr zu hören: Stell dich nicht so an, was willst du denn sonst machen? Also bin ich ins Schlafzimmer gegangen. Ich habe mich ausgezogen und eine von Viggas Jeans und eine hellblaue Bluse angezogen. Vigga und ich haben früher häufiger mal Sachen untereinander getauscht, weil wir dieselbe Kleidergröße und Schuhgröße hatten.«
»Was für ein Zufall«, bemerkt Knud.
»Wieso?«
»Nur so«, sagt Knud.
»Es war ein merkwürdiges Gefühl. Andererseits war es auch vertraut: Viggas Sachen, ihr Duft an mir, so als hätten wir uns gerade eben erst zu einer Begrüßung umarmt. Dann bin ich nach unten zu Magnus und Johann, habe mich am Treppengeländer festgehalten und auf meine Zehenspitzen geschaut, und als ich dann unten war, haben mich die beiden verblüfft angesehen, na ja, als ob ich Vigga wäre. Ich meine: Kein Wunder, oder?« Ich lache leicht auf. »Ich trug ihre Kleidung, und bis auf die Haarfarbe sahen wir uns ja immer ähnlich.«
»Nein, kein Wunder«, sagt Tine, ohne eine Miene zu verziehen.
»Ich habe dann meine versauten Sachen genommen, mit Salz bestreut und unter der Dusche abgespült. Einfach erst mal irgendetwas anderes gemacht, wissen Sie? Und außerdem ging mir die ganze Zeit durch den Kopf, was ich in Viggas Tagebuch gelesen hatte. Ich war komplett verwirrt. Ja, und dann sind wir zum Leuchtturm gefahren.«
»Etwas verstehe ich ganz und gar nicht«, sagt Knud. »Sie haben Höhenangst. Sie sind verunsichert, weil Magnus nicht mit offenen Karten spielt. Sie wissen außerdem, dass Vigga Johann nicht mehr vertraut hat. Sie hätten die Gelegenheit nutzen und alleine bleiben können, um weiter in dem Tagebuch zu lesen. Ihre Freundin ist wahrscheinlich tot. Man hat ihre blutbeschmierten Sachen gefunden. Aber Sie schlüpfen in Viggas Kleidung und machen mit den Männern einen fröhlichen Ausflug? Ausgerechnet zu einem Leuchtturm?«
»Ich weiß, wie sich das anhören muss.«
»Da bin ich aber gespannt«, sagt Knud. »Wie klingt es denn für Sie?«
»Es klingt ziemlich verrückt. Pietätlos. Irgendwie falsch.«
»Dem kann ich nicht widersprechen.«
»Aber ich habe ja gesagt, dass es ab dem Tag komisch wurde.«
»Inwiefern? Weil Sie komisch wurden?«
»Ich vielleicht auch. Einfach alles wurde komisch. Und ja: Ich hätte zu Hause bleiben sollen.«
»Zu Hause in Kopenhagen?«
»Ich …« Knud bringt mich aus dem Konzept. »Ich meine, in Viggas und Magnus’ Haus.«
Knud nickt langsam.
Ich rede weiter. »Ich hätte dortbleiben und nicht mitfahren sollen. Aber Johann hat mich überredet. Er hat gesagt, dass Magnus hier mal rausmuss und dass er sich selbst den Kopf am Strand freiblasen lassen will nach dem Besuch bei der Polizei und dem ständigen Herumfahren.«
»Was hat er damit gemeint?«
»Johann und Magnus sind tagelang durch die Gegend gefahren und haben nach Vigga gesucht. Ich wusste das bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich hatte angenommen, Magnus sei entweder arbeiten oder bei der Polizei, wenn er fort war. Das stimmte zum Teil. Aber er und Johann suchten außerdem die Gegend ab, in der Viggas Kleidung gefunden worden war.«
»Ohne Ergebnis?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Warum haben die beiden Sie nicht einbezogen?«
»Weiß ich nicht.«
»Kamen Sie nie selbst auf die Idee, dass Sie nach Vigga suchen könnten?«
»Nein. Ich hätte nicht gewusst, wo. Außerdem bin ich davon ausgegangen, dass die Polizei das tun würde. Es wäre mir außerdem sinnlos vorgekommen, ohne Plan in der Gegend herumzufahren.«
»Dazu waren Sie doch da? Um Vigga zu suchen? Sie hätten an Orten suchen können, die Sie beide früher aufgesucht haben – oder in Ihrem Heimatort.«
»Danke für die Vorschläge und dass Sie mir ein schlechtes Gewissen machen.«
Knud schweigt.
»Hat die Polizei denn dort überall nach ihr gesucht?«
Knud nickt.
»Jedenfalls«, fahre ich fort, »meinte Magnus, dass mir das auch guttun würde. Uns allen. Auch Magnus wäre eigentlich am liebsten im Haus geblieben und hätte sich ins Bett verzogen, sagte er. Aber Johann hat diese Art. Er reißt einen mit. Also sind wir aufgebrochen und zum Leuchtturm gefahren.«
»Sie hatten andere Schuhe an?«, fragt Knud.
»Ja. Ein Paar Stiefel von Vigga, warum?«
»Und eine Jacke von ihr?«
»Ja, einen Mantel. Er hing an der Garderobe. Ich hatte nur eine dünne Jacke dabei und keine festen Schuhe für den Strand.«
»Natürlich nicht«, sagt Knud.
»Das war doch nicht wichtig! Es waren nur eine Jacke und ein Paar Stiefel!«, blaffe ich Knud an.
»Alles ist wichtig.«
»Erzählen Sie bitte weiter«, sagt Tine mit ruhiger Stimme. »Erzählen Sie uns vom Leuchtturm und dem, was weiter geschah.«