20.
I
ch fühle mich, als würde mir gleichzeitig das Gehirn und das Herz gefrieren. Es dauert, bis zu mir durchdringt, was Knud gerade gesagt hat.
Ich glaube Ihnen kein Wort.
Magnus. Ermordet.
Meine Welt zerplatzt wie eine Verbundglasscheibe, in die ein Geschoss einschlägt.
»Was?« Mehr bringe ich nicht zustande. Ich sehe zwischen den beiden Polizisten hin und her. Keiner von beiden macht Anstalten, das Gesagte zu korrigieren oder abzuschwächen.
»Er ist … was?«, frage ich erneut und hoffe immer noch auf einen Scherz, einen schlechten, oder eine Art Taktik, um mich zu provozieren, oder …
Knud schlägt die Aktenmappe auf, die mit meinem Namen beschriftet ist. Darin gibt es jede Menge Papiere und Bilder. Ich kann sie nicht erkennen. Knud nimmt Ausdrucke daraus hervor, dreht sie um und legt sie mir vor.
»Erklären Sie uns das«, sagt er.
Ich glaube Ihnen kein Wort.
Magnus. Ermordet.
Ich betrachte die Fotos. Es sind Ausdrucke von Handyaufnahmen. Ich erinnere mich daran. Ich weiß nicht genau, was ich Knud dazu erklären soll, aber ich frage: »Woher haben Sie die?«
»Von Ihrem und von Magnus’ Telefon. Wir haben beide ausgelesen«, sagt Knud.
»Sie haben … mein Telefon …«
Tine erklärt: »Liv, wir haben Ihr Telefon sicherstellen müssen und es ausgelesen. Genau wie das von Magnus. Können Sie uns die Aufnahmen erklären?«
»Wozu?«
Ich glaube Ihnen kein Wort.
»Tun Sie es einfach.«
Ich blicke wieder auf die Ausdrucke. Sie zeigen mich unten am Leuchtturm, bevor wir hinaufgestiegen sind, und mich am Strand. Magnus ist ebenfalls drauf. Johann hat die Fotos mit Magnus’ Handy gemacht. Wir sehen darauf aus wie ein Paar, das am Strand spazieren geht und für die Kamera posiert. »Wir haben ein wenig herumgealbert«, sage ich. »Die Stimmung löste sich, nachdem sie so fürchterlich bedrückt gewesen war.«
»Auf den ersten Blick könnte man Sie für Vigga halten«, sagt Tine.
»Ich trage ja auch ihre Sachen.«
Ich glaube Ihnen kein Wort.
Magnus. Ermordet.
»Und die anderen Bilder?«
Die Selfies habe ich beim Pizzaessen gemacht. Einfach so. Ich hatte mein WhatsApp gecheckt, und wir hatten bereits die zweite Flasche Rotwein geleert. Die Bilder zeigen Magnus und mich. Ich erkläre, wo und wann ich sie gemacht habe, und fühle mich wie eine leere Hülse.
»Magnus«, höre ich mich selbst sagen, »ist tot?«
»Sie wissen das wirklich nicht?«, fragt Knud.
Ich schreie ihn an. »Woher sollte ich das wissen?! Er wollte mich umbringen! Er hat es fast geschafft! Ich war tot! Er wollte mich ermorden, wie er Vigga ermordet hat!«
»Andersherum«, sagt Knud, »wird nach Lage der Dinge eher ein Schuh daraus.«
Mir verschlägt es die Sprache.
Ich glaube Ihnen kein Wort.
Tine blättert in ihrem Notizblock. »Ihr Kollege oder Freund Frederik hat Sie in dem Haus aufgefunden. Nach seiner Aussage war er an den Fjord gekommen, um zu sehen, ob es Ihnen gut ging. Er war sehr besorgt. Er fand die Tür offen stehend, betrat dann das Haus, wo er Sie bewusstlos vorfand und Magnus leblos. Frederik hat sofort einen Notruf abgesetzt.«
Frederik?
Ja, ich erinnere mich – er hatte angekündigt, dass er nach mir sehen wollte. Er
hat mich gefunden?
»Magnus«, spricht Tine weiter, »ist mit vier Messerstichen in den Hals getötet worden. Er wies Abwehrverletzungen auf. Der Fußboden und die Küchenmöbel waren mit Blut bespritzt. Es muss einen Kampf gegeben haben. Sie, Liv, sind neben Magnus’ Leiche aufgefunden worden, sofort ins Krankenhaus gekommen und wiesen eine Reihe von Verletzungen auf. Es könnte sich um Abwehrverletzungen handeln oder mit dem von Ihnen beschriebenen Sturz zusammenhängen. Beides ist möglich.«
Knud nimmt weitere Fotos aus seiner Mappe und legt sie mir vor. Es sind entsetzliche Bilder. Sie zeigen die Küche. Die Leiche. Das Brotmesser.
»Magnus«, schreie ich zitternd, »wollte mich töten! Er hat mich die Treppe hinabgestoßen! Ich war … ich war tot und bin wiederbelebt worden!«
Ich kann den Blick nicht von den Fotos abwenden. Sie verschwimmen mit Bildern aus meiner Erinnerung. Auch meine Mutter wurde in der Küche gefunden.
Ich höre Tine wie durch Watte weiterreden. »Ihre Verletzungen, Liv, zeigen, dass Sie eine Treppe hinabgefallen sein könnten. Es gibt multiple Prellungen und Abschürfungen, aber keine Brüche. Die Verletzungen könnten auch davon stammen, dass Sie während eines Kampfes auf die Treppe oder auf der Treppe gestürzt sind.«
Blut auf der Treppe.
Blut auf den Stufen.
Blut auf dem Handlauf.
Mamas Blut.
»Magnus«, sage ich und versuche zu schlucken, aber ein Kloß im Hals verhindert es. »Magnus wollte mich umbringen.«
»Das bestätigen Ihre Verletzungen eher nicht, Liv. Sie könnten aus unterschiedlichen Ursachen gestürzt sein.«
»Aber ich war tot, mein Gott! Man hat mich wiederbelebt!«
»Laut Befund der Klinik hat eine Mischung verschiedener Faktoren zu dem Herzstillstand im Rettungswagen geführt. Sie haben Prellungen im Brustbereich erlitten, was die Herz- und Lungenfunktion kurzfristig beeinträchtigt haben kann. Sie kamen im Rettungswagen kurz zu sich, fanden sich über und über mit Blut beschmiert, hyperventilierten und wurden dadurch wieder bewusstlos, wobei Sie einen Atemstillstand erlitten und gleichzeitig eine Herzrhythmusstörung, die zu einem kurzfristigen Stillstand führte. Ihr Zustand wurde mit einer Adrenalininfusion und dem Einsatz eines Defibrillators stabilisiert.«
Ich kann mich an nichts erinnern. Es ist weg. Alles ist nur ein schwarzes Loch. Ich bin die Treppe hinabgefallen. Ich habe mir den Kopf angeschlagen. Dann ist da nichts mehr. Aber ich weiß,
ich weiß, dass ich Magnus nicht umgebracht habe!
»Ich«, stammle ich, »ich glaube, dass er mich umbringen wollte, weil ich herausgefunden habe, dass er Vigga getötet hat. Er wollte das Buch. Er … vielleicht ist er verrückt geworden und hat Vigga in mir gesehen, weil ich ihre Sachen anhatte. Weil … Vielleicht – keine Ahnung, vielleicht wollte er mich auch nicht bewusst umbringen, sondern es war eine Affekthandlung, ein Unfall, und …«
»Ich glaube«, sagt Knud und beugt sich gelassen vor, »dass Sie sich bewusst in die Kopie einer Toten verwandelt haben, Liv.«
»Nein! Und ich habe ihn nicht umgebracht!«
»Liv«, sagt Tine, »Sie wurden neben Magnus’ Leiche gefunden und waren mit seinem Blut beschmiert. Sie hatten die Tatwaffe noch in der Hand. Ein Brotmesser mit zwanzig Zentimeter langer Klinge. Daran befinden sich Ihre blutigen Fingerabdrücke. Und zwar nur Ihre.«
Ich verstehe nichts mehr. Mir wird schlecht. Ich glaube, ich muss mich übergeben. Das Bett dreht sich wie ein Karussell.
»Ich denke, es war folgendermaßen«, sagt Knud. »Dass Ihr Vater freigelassen wurde, hat Sie in einen traumatischen Zustand versetzt, wenngleich schon etwas Zeit verstrichen ist. Hinzu kam die Trennung von Ihrem Freund Frederik und eine Überforderung mit zu vielen Aufträgen in der letzten Zeit. Sie waren unglücklich und haben es Ihr Leben lang nicht verwinden können, dass Sie damals Magnus Ihrer Freundin Vigga vorgestellt haben und die beiden zusammenkamen. Vigga war glücklich. Sie nicht. Sie haben es ihr niemals vergönnt und wollten endlich Rache – mehr als das. Sie wollten ihr Leben. Also haben Sie sich mit Vigga getroffen und sie umgebracht und ihre Leiche verschwinden lassen. Daraufhin haben Sie sich in ihr Leben gestohlen, sogar ihre Sachen angezogen und wollten Magnus verführen. Aber der lehnte ab. Sie drehten durch. Dann brachten Sie ihn um.«
»Nein!«
»Liv, ist es ein Zufall, dass das Szenario im Haus von Vigga und Magnus nahezu identisch ist mit dem Tatort, den Sie als Kind erlebt haben?«
»Das …« Gott, ich muss wirklich kotzen. »Das kann nicht sein! Es ist nicht so! Es war anders! Sie haben doch das Tagebuch, und …«
»Es gibt kein Tagebuch«, sagt Knud. »Wir haben das gesamte Haus noch einmal auf den Kopf gestellt, nachdem Sie uns zum ersten Mal von dem Tagebuch erzählt hatten. Aber wir haben keines gefunden. Nirgends. Es gibt außerdem keinerlei Anzeichen, dass Vigga schwanger gewesen sein könnte. Es gibt nur Ihre Behauptung. Im Übrigen gibt es auch keinerlei Anzeichen dafür, dass es der Firma von Magnus und Johann schlecht geht. Wir haben das überprüft: Tekksolv ist solide. Zu einem Projekt namens ›Heimdall‹ kann Johann keine Auskunft erteilen. Es sagt ihm nichts. Er und weitere Personen, die wir befragt haben, sagen außerdem, dass die Ehe der beiden tadellos war.«
»Nach außen hin!«, schreie ich, und mein Magen dreht sich von links auf rechts. »Jeder hat das geglaubt, aber es stimmte nicht!«
»Was nicht stimmt«, sagt Knud, »ist Ihre Geschichte, Liv. Sie haben sich das ausgedacht. Sie sollten gestehen und nicht alles noch schlimmer machen, als es schon ist. Und wir möchten wissen, wo wir Viggas Leiche finden.«
Ich drehe mich ruckartig nach rechts und übergebe mich auf den Boden, wobei ich beinahe den Tropf zu Fall bringe. Magensäure und Galle schießen mir beißend die Speiseröhre hinauf und aus den Nasenlöchern heraus. Mein Magen krampft, bis nichts mehr kommt.
»Sie glauben mir nicht«, röchle ich und wische mir mit dem Handrücken über den Mund, die Augen voller Tränen. »Sie haben mir von Anfang an nicht geglaubt.«
»Das stimmt nicht«, sagt Tine. Sie beugt sich vor, um mir eine Packung Taschentücher zu reichen, aber ich schlage ihre Hand zur Seite und tupfe mir das Gesicht mit der Bettdecke ab. Ich höre Tine sagen: »Wir haben uns Ihre Darstellung wieder und wieder angehört, Liv, aber es haben sich keine neuen Gesichtspunkte ergeben, die erklären könnten, wie der Mord an Magnus anders geschehen sein könnte als auf die Art und Weise, von der wir ausgehen müssen.«
»Sie … Sie haben mir die ganze Zeit nicht gesagt, dass er tot ist.«
»Nein, haben wir nicht«, sagt Knud. »Wozu auch? Das wissen Sie längst. Sie haben ihn ermordet.«
»Das habe ich nicht!«
»Wo ist Vigga?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was mit Vigga passiert ist. Ich weiß nicht, was mit Magnus geschehen ist. Ich erinnere mich daran, wie er mich die Treppe hinabstieß. An mehr erinnere ich mich nicht.«
»Die Ärzte haben gesagt«, höre ich Tine, »dass es aus unterschiedlichen Gründen möglich sein kann, dass Sie sich nicht erinnern. Dabei kann eine Rolle spielen, dass Sie auf den Hinterkopf gestürzt sind, möglicherweise auf die Kante einer Treppenstufe. Vielleicht hat die retrograde Amnesie mit dem Trauma der Vorfälle zu tun oder mit der Tatsache, dass Sie einen Herzstillstand erlitten haben. Es kann alles zusammenkommen. Aber vielleicht funktioniert Ihre Erinnerung auch ganz wunderbar – und Sie lügen uns an. Wir müssen das genauer untersuchen lassen, Liv. Wir müssen feststellen, was wir glauben können und was nicht. Und im Augenblick sieht es so aus, dass vieles von dem, was Sie uns wieder und wieder erzählt haben, einfach nicht mit dem im Einklang steht, was wir im Haus vorgefunden und was wir ermittelt haben. Oder auch noch nicht ermittelt, je nachdem, wie man es sieht.«
»Ich …« Meine Kehle brennt wie Feuer.
»Ich möchte Ihnen sehr gerne glauben«, fährt Tine fort. »Aber ohne dass wir sicher wissen, ob Sie an einer Amnesie oder einer Verwirrung leiden, kann ich Ihnen nur einige Dinge glauben, die belegbar sind. Andere nicht. Auf genau die kommt es aber an.«
»Sie haben gesagt, dass mein Zimmer bewacht wird. Es wird nicht bewacht, um mich zu schützen, richtig?«
»Nein«, erwidert Tine. »Es wird bewacht, damit Sie in Ihrem Zustand nicht abhauen und Ihnen dann vielleicht etwas geschieht, das wir zu verantworten hätten. Wir wollen nicht, dass Ihnen etwas geschieht.«
»Das ist doch Blödsinn … Sie fürchten«, flüstere ich, »dass ich fliehen würde. Darum geht es doch, richtig? Sagen Sie es ruhig: Ich bin Ihre verdammte Gefangene!«
Mein Blick klärt sich. Ich schaue die beiden an. Knud atmet tief ein und dann wieder aus.
Wie im Traum, einem Albtraum, höre ich ihn sagen: »Liv Solberg, Sie sind verhaftet.«
Den Rest nehme ich nicht mehr wahr. Es ist, als ob jemand den Lautstärkeregler auf null gestellt hätte. Meine Welt, die bereits zersprungen war wie eine Glasscheibe, fällt in sich zusammen. Dahinter ist nur noch Leere, ein großes Nichts, das sich den Naturgesetzen entzieht. Nichts ist mehr messbar oder zu begreifen. Gar nichts.
Der Klang kehrt zurück, als Tine und Knud aufstehen.
Tine nimmt ihre Sachen, stopft einiges in eine Umhängetasche und sagt: »Die Ärzte sagen, dass Sie noch eine Nacht bleiben sollten. So lange stehen Sie weiterhin unter Bewachung. Morgen früh wird es eine Abschlussuntersuchung geben. Dann sehen wir uns wieder. Wenn die Ärzte grünes Licht für den Transport geben, wovon wir ausgehen, bringen wir Sie mit einem Rettungswagen ins Untersuchungsgefängnis. Sie kommen dort zunächst auf die Krankenstation. Zwischenzeitlich werden wir ein psychologisches Gutachten und eine fachärztliche Untersuchung Ihrer Amnesie gerichtlich verfügen lassen. Wenn Sie einen Anwalt kontaktieren möchten, kann Ihnen eine der Schwestern hier in der Klinik sicherlich ein Telefon bringen. Sie dürfen ein Telefonat führen. Mehr nicht. Ich gebe der Polizistin vor Ihrem Zimmer Bescheid, dass Ihnen eines gebracht wird, wenn Sie es wünschen. Ich werde sowieso eine Schwester schicken, damit Sie nach Ihnen sieht und sich um das dort kümmert.« Tine zeigt auf die Pfütze mit meinem Erbrochenen. »Das mit dem Anwalt«, ergänzt Tine, »würde ich übrigens unbedingt empfehlen.«
Sie lassen mich allein.