21.
T ine checkt ihr Handy auf dem Flur, während Knud der Polizistin neben der Tür zu Livs Zimmer erklärt, dass sich die Regeln jetzt geändert haben, weil die Patientin verhaftet sei. Tine geht weiter zum Aufenthaltsraum der Stationsschwestern und bittet eine von ihnen, in Livs Zimmer nachzusehen und das Erbrochene wegzuwischen.
»Die Patientin ist verhaftet worden«, erklärt sie. »Wir geben eine entsprechende Notiz an die behandelnden Ärzte, aber bitte richten Sie das schon einmal aus.«
Die Frau schaut Tine fragend an – unsicher, wie sie mit der neuen Situation umgehen soll.
»Es gibt keinen Grund«, sagt Tine daher mit einem Lächeln, »jetzt mehr Angst vor der Patientin zu haben als vorher. Es kann sein, dass sie einen Anruf tätigen möchte. Das darf sie – nur geben Sie dann bitte vorher unserer Kollegin vor der Tür Bescheid, ja?«
Knud schließt zu Tine auf, und beide verlassen das Krankenhaus. Draußen atmet sie einige Male tief durch.
»Glaubt die eigentlich«, fragt Knud, während sie zum Auto gehen, »dass wir bescheuert sind?«
Liv zuckt die Achseln. »Falls eine Amnesie vorliegt …«
»Quatsch.«
»Das weißt du doch gar nicht.«
Knud bleibt stehen. »Doch, weiß ich. Wenn du an einer Amnesie leidest, denkst du dir nicht ellenlange Tagebucheinträge aus. Du erfindest nicht Projekte namens Heimdall. Die ganze Story hat sie sich zurechtgelegt. Aber ihr muss doch klar gewesen sein, dass wir ihr das nicht abkaufen – dass wir kein Tagebuch finden werden, weil es keines gibt. Dass niemand schwanger war und die Firma Tekksolv ein Projekt namens Heimdall nicht kennt, wie uns der noch lebende Geschäftsführer glaubhaft bestätigt hat.«
»Er hat gesagt, dass er dazu nichts sagen kann.«
»Was meinst du damit?«
»Er hat nicht gesagt, dass es das Projekt nicht gibt. Seine Aussage war, dass er dazu nichts sagen kann, und das ist etwas anderes, Knud. Vielleicht hat Magnus auf eigene Faust an etwas gearbeitet, von dem sein Partner nichts wusste.«
»Wie auch immer. Das ändert nicht viel, oder?«
»Im Moment nicht, nein.«
Knud mustert Tine. Sie spürt, dass ihm eine Frage auf der Zunge liegt.
»Ich meine …« Tine versucht, die passenden Worte zu finden. »Ich meine, dass der Fall reichlich merkwürdig ist. Es gibt in der Vita von Liv bislang keinerlei Anzeichen von Psychosen oder gewalttätiger Paranoia. Dass sie über Magnus hergefallen ist und ihn umbrachte, weil er sie verschmähte … Dass Liv plötzlich, nach Jahren, durch den Kopf geht, dass sie ihrer Freundin Magnus ausspannen will, und sie umbringt, um in ihr Leben zu schlüpfen … Ein solcher Ausbruch kommt mir höchst ungewöhnlich vor.«
»Es könnte aber so passiert sein.«
»Ja.«
»Es ist im Moment die einfachste und griffigste Theorie. Und sie hatte einen Zusammenbruch, nachdem ihr Vater vergangenes Jahr entlassen worden war. Sie nahm Psychopharmaka. Ihre Therapeutin haben wir angerufen. Sie hat es nicht explizit gesagt – das darf sie ja nicht –, aber ich glaube, sie hält Liv für instabil.«
»Ich gebe dir recht, aber …«
»Die einfachsten und griffigsten Theorien sind meist die besten.«
»Ja.«
»Und wir haben keine andere.«
»Nein.« Tine atmet wieder tief ein und aus. »Egal. Vergiss es.« Sie winkt ab.
Knud setzt sich wieder in Bewegung. »Komm, wir machen uns einen schönen Abend und fahren Berichte schreiben.«
Tine nickt.
»Jetzt sag schon«, bittet Knud, als er den Wagen mit der Fernbedienung öffnet.
»Was denn?«
»Jetzt sag schon, wo du das Problem siehst.«
»Habe ich doch gerade?«
»Da ist noch mehr. Ich sehe es dir an.«
Tine öffnet die Beifahrertür. »Dasselbe Problem wie vorher.«
»Die Tür?«
Tine klopft gegen die Beifahrertür. »Die Tür.«
Die Haustür.
Sie stand nach Aussage des Zeugen, der die Leiche und die Tatverdächtige gefunden und dann die Polizei verständigt hat, offen. Eine offen stehende Tür ist im Grunde kein Problem. Aber sie wird zu einem, wenn ein Mensch getötet wurde.
Zunächst ist es ganz einfach: Jemand hat die Tür geöffnet und nicht wieder verschlossen. Es könnte sein, dass Magnus oder Liv rausgehen wollte – und dann wieder hereinkam. Die Tür schloss nicht richtig. Deswegen stand sie danach offen.
Oder jemand stand vor der Tür, wurde hereingelassen – und machte die Tür nicht richtig zu beziehungsweise wurde sie nicht richtig geschlossen, nachdem Magnus wieder nach Hause gekommen war. Kann alles sein. Aber wie gesagt: Es wird zum Problem, wenn ein Mensch getötet wurde und kurz nach der Tat jemand durch diese ausgerechnet in diesem besonderen Moment offen stehende Tür Zutritt zum Tatort erhält, um das Blutbad vorzufinden und die Polizei zu benachrichtigen.
Was, fragt sich Tine, wenn ein Dritter im Haus war und den Tatort fluchtartig verließ, wobei die Tür nicht richtig schloss?
Knud sagt: »Wahrscheinlich werden wir auch dafür noch eine Erklärung finden. Es deutet nichts darauf hin, dass eine dritte Person im Spiel war.«
»Es gibt Fremdspuren im Haus, die wir noch nicht zuordnen können.«
»Es gibt in jedem Haus Fremdspuren.«
»Und der Zeuge, der die Leiche von Magnus und die bewusstlose Liv gefunden hat …«
»Ja, ich weiß. Er könnte geklingelt haben. Ihm wurde geöffnet. Er bringt Magnus um und ruft die Polizei an. Aber wir wissen, dass wir das ausschließen können.«
»Ja«, sagt Tine.
Denn das haben sie natürlich akribisch gecheckt, den Zeugen in der Vernehmung gelöchert, und der Mann hat ein Alibi. Er kann zur Tatzeit nicht vor Ort gewesen sein. Das ist belegt. »Trotzdem«, fügt sie an.
»Trotzdem was?«, fragt Knud beim Einsteigen.
»Trotzdem komisch«, erwidert Tine und steigt ebenfalls ein. »Trotzdem will ich mir das noch einmal genauer ansehen.«
Aber heute nicht mehr, überlegt sie. Heute Abend will sie noch mit Gunnar zum Essen und danach die letzte Staffel von »The Fall« auf Netflix sehen, in der Gillian »Scully« Anderson einen Serienmörder in Belfast jagt, der auf clevere Weise in Häuser eindringt und seine Opfer vorher tagelang beobachtet. Gruselig. Gunnar sagt immer, dass Tine etwas Ähnlichkeit mit Scully hat. Aber hoffentlich bekommt sie es niemals mit so einem Killer zu tun, denkt Tine und schnallt sich an. Und hoffentlich denkt sich Gunnar nichts dabei, wenn die Polizistin in der Serie sich einfach so irgendwelche Kerle herauspickt, um mit ihnen Sex zu haben.