23.
I ch schließe die Augen und versuche, mich auf das zu konzentrieren, was mir bei den Panikattacken hilft. Es gelingt mir nicht. Also öffne ich die Augen wieder und starre eine Weile ins Nichts.
Was hat mich in diese Lage gebracht?
Warum ich?
Ich möchte laut kreischen. Vor Verzweiflung und Wut. Herausschreien, dass ich mit nichts etwas zu tun habe und sich alle irren. Es ist alles falsch, und noch schlimmer ist, dass sich meine Wirklichkeit vollkommen verkehrt anfühlt. Als wäre alles von links nach rechts gekrempelt worden. Wie in einem Albtraum oder einem surrealistischen Bild.
Ich gehe zu dem leeren Tisch, setze mich auf einen der Stühle und blicke auf die weiße Fläche vor mir. Sie ist wie ein Blatt Papier, wie eine leere Datei. Wie die Flächen, die ich mit Bauplänen fülle. Mit Rastern, Linien, Konstruktionen, mit Zahlen und Dingen, die sich berechnen lassen. Und ich überlege, dass ich so vorgehen muss, um zu verstehen, was passiert ist – was mit mir geschieht. Ich muss es nachzeichnen, um zu begreifen, wo die Schwachstellen der Statik sind. Ich muss konstruieren. Ich muss alles versachlichen und herunterbrechen auf berechenbare Größen. Ich brauche Strukturen.
Ich betrachte meine Fingernägel. Ich weiß nicht, wie lange ich das tue. Ich frage mich, was ich tun soll, denn am nächsten Morgen, daran habe ich keinen Zweifel, werden Knud und Tine mich abholen und ins Gefängnis bringen. Einerseits bin ich überzeugt davon, dass sich alles aufklären wird! Andererseits …
Sie haben Magnus’ Blut an mir gefunden.
Sie haben die Tatwaffe in meinen Händen und mit meinen Fingerabdrücken sichergestellt.
Wie soll ich aus dieser Nummer herauskommen, wenn ich nicht weiß, wie ich das erklären soll? Ich kann es nicht. Dabei bin ich mir sicher, dass es nicht so gewesen ist. Ich habe Magnus nichts getan.
Natürlich denke ich darüber nach, einen Anwalt anzurufen. Doch wie soll der mir helfen? Der könnte allenfalls sagen, dass ich das Messer aus Magnus herausgezogen habe und dann ohnmächtig wurde. Aber das wird mir niemand abkaufen. Außerdem kenne ich wie gesagt keinen. Ich könnte Frederik anrufen, damit er mir hilft, aber er hat mich und Magnus gefunden. Er ist also ein Zeuge und wird daher nicht mit mir reden dürfen. Aber ich kann es ja probieren. Doch: Was sollte er schon tun können? Er wird nichts daran ändern, dass ich morgen früh ins Gefängnis gesteckt werde.
Ich will nicht ins Gefängnis.
Ich gehe nicht ins Gefängnis.
Jemand anders gehört dorthin.
Jemand, der mich dort sehen will statt seiner.
Meine Fäuste ballen sich. Die Nägel, auf die ich gestarrt habe, graben sich in das Fleisch meiner Hände, bis es wehtut. Ich blicke erneut auf die weiße Fläche vor mir, schließe dann die Augen und beginne gedanklich, die Tischplatte mit Linien und Winkeln zu füllen, bis ich eine Risszeichnung des Hauses in den Dünen vor mir sehe. Ich sehe mich selbst auf der Galerie und Magnus, der die Treppe hinaufstürmt, um mir Viggas Tagebuch zu entreißen. Ich sehe mich stürzen und fülle dann die Leere aus, die meine Bewusstlosigkeit ausgelöst hat.
Ich sehe mich stürzen, bis ich am Fuß der Treppe liegen bleibe. Das Tagebuch fällt mir aus der Hand. Ich sehe, wie Magnus die Treppe hinabgeht, das Tagebuch an sich nimmt und nach meinem Puls fühlt. Ich sehe ihm zu, wie er in dem Buch blättert, wie ihm Tränen die Wangen hinabfließen. Dann sieht er wieder zu mir und entscheidet, dass er das Buch verschwinden lassen muss und mich als Zeugin, die alles weiß, was Vigga aufgezeichnet hat. Er geht in die Küche, holt das Messer, um mich zu erstechen. Als er sich über mich beugt, komme ich zu mir, kämpfe mit ihm um mein Leben, entreiße ihm das Messer und steche ihm in den Hals, bevor ich wieder zusammenbreche.
War es so?
Nein, denn ich war es nicht. Und dann hätte die Polizei das Tagebuch finden müssen. So schnell hätte er es nicht verschwinden lassen können. Gut, vielleicht hat er sich Zeit gelassen, ging nach draußen, um es zu verbrennen. Dann kam er wieder herein, ließ versehentlich die Tür offen und wollte dann mich töten. Es würde erklären, wie Frederik ins Haus gelangen konnte.
Aber ich erinnere mich an nichts. Ich bin mir nur hundertprozentig sicher, dass ich Magnus nicht erstochen habe. Und ich kann mir zwar vorstellen, dass Magnus mich bewusst die Treppe hinabgestoßen hat. Aber er wäre dann doch dumm gewesen, mich erstechen zu wollen. Das ganze Blut … Nein, denke ich nüchtern und zeichne im Geiste weitere Konstruktionslinien und prüfe sie auf ihre Statik, nein, es wäre viel leichter gewesen, meinen Körper einfach in den Wagen zu packen und verschwinden zu lassen wie Viggas. Noch einfacher wäre gewesen, mir das Genick zu brechen und das auf den Sturz zurückzuführen.
Und was ist mit Frederik?
Ich bin mir sicher, dass die Polizei ihn überprüft und nach Strich und Faden vernommen haben wird. Warum kam Frederik an diesem Abend vorbei? Ich sehe ihn an der Tür. Er klingelt, erkundigt sich nach mir. Magnus steht vor ihm, aufgelöst. Frederik sieht mich durch den Türspalt am Boden liegen. Er will mich retten, kämpft mit Magnus. Das Brotmesser kommt ins Spiel, und Frederik tötet Magnus im Affekt. Dann drückt er mir das Brotmesser in die Hand und ruft die Polizei an.
Nein. Auch in diesem Fall hätten Knud und Tine das Tagebuch finden müssen. Frederik hat nichts davon gewusst. Er hätte keinen Grund gehabt, es verschwinden zu lassen. Vielleicht, denke ich, kam er, als Magnus das Tagebuch bereits vernichtet hatte. Aber auch dann … Nein, ich traue das Frederik nicht zu. Er würde mir keinen Mord in die Schuhe schieben. Dazu ist er viel zu ehrlich und anständig.
Und Johann?
Johann war nicht da. Vielleicht ja doch. Vielleicht kam er überraschend vorbei, sah mich da liegen, und zwischen ihm und Magnus entbrannte ein Kampf, wegen … wegen »Heimdall«. Weil etwas damit nicht in Ordnung war, dubios, wie auch Vigga im Tagebuch berichtet hat. Oder weil er Magnus zurückhalten wollte, mich zu töten. Dann richtete Johann den Tatort her, um mich zu belasten, ließ die Tür offen stehen, ob absichtlich oder nicht – und dann kam Frederik und fand mich. Tine und Knud haben allerdings gesagt, dass Johann ein Alibi hat. Vielleicht spielt noch jemand anderes eine Rolle. Eine Person, die ich nicht kenne oder auf die ich gerade nicht komme.
Ich öffne die Augen, blicke auf meine Fäuste und löse den Griff. Ich sehe die Halbmonde meiner Fingernägel, die sich in das Fleisch eingegraben haben. Mir ist klar, dass ich alle diese Varianten der Polizei immer und immer wieder vorbeten könnte. Sie würden mir nicht glauben, denn ihre Indizien sprechen gegen mich. Und ich weiß ja selbst nicht, was ich glauben soll. Ich weiß nur, dass ich niemanden umgebracht habe.
Die Einzige, die mich retten könnte, wäre Vigga. Wenn sie doch nur wiederauftauchen würde, lebendig, und erzählen, wie es wirklich war … Oder wenn doch ihre Leiche gefunden würde und damit Beweise, wer sie umgebracht hat – denn ich war es nicht. Man würde keinen Fitzel meiner DNA an ihr finden. Oder wenn doch nur das Tagebuch auftauchen würde.
Das Tagebuch oder Vigga, denke ich.
Das Tagebuch.
Ein unangenehmer Gedanke fährt mir durch den Kopf. Könnte die Polizei recht haben? Ich meine: Sie hat nicht damit recht, dass ich mir eine wilde Geschichte zusammengesponnen habe, dass ich in Viggas Rolle schlüpfen wollte. Das ist irres Zeug, wirklich, kompletter Unsinn. Aber habe ich mir womöglich eingebildet, dass es ein Tagebuch gibt? Ich bin mir sicher, das habe ich nicht. Doch wenn … Kann ich mir dann auch andere Dinge eingebildet haben? Vielleicht wegen meines Traumas, und …
Im nächsten Moment wische ich die Zweifel beiseite. Ich habe es mir nicht eingebildet. Das Tagebuch war da. Vielleicht ist es immer noch da. Vielleicht hat Magnus es versteckt, und die Polizei hat nur halbherzig danach gesucht. Und sie müsste doch mindestens die Schublade an der Kommode gefunden haben und den Briefumschlag, in dem das Tagebuch steckte.
Ich schließe die Augen wieder. Ich sehe erneut die Architekturzeichnung des Hauses vor mir, sehe mich am Boden liegen und Magnus auf der Treppe. Vielleicht ist er gar nicht nach unten zu mir gegangen. Vielleicht ging er nach oben in sein Büro und las dort das Buch. Und dann …
Was dann?
Ich öffne die Augen und starre auf den Tisch.
Es könnte mich retten, wenn Vigga auftaucht. Aber das wird sie nicht. Meine einzige Option ist das Tagebuch.
Es muss irgendwo sein.
Ich kann nur herausfinden, wo das Buch ist, wenn ich zurück ins Haus gehe.
Aber dazu muss ich hier raus. Und es wird dann alles noch viel schlimmer werden. Es ist faktisch ein Schuldeingeständnis, wenn ich versuche zu fliehen.
Doch kann es noch schlimmer kommen als jetzt?
Glaubt die Polizei nicht ohnehin an meine Schuld?
Habe ich irgendetwas in der Hand, um mich zu entlasten?
Dreimal nein. Schlimmer kann es nicht werden. Für noch schuldiger kann man mich kaum halten.
Ich brauche das Tagebuch.
Oder Vigga.
Oder ihren Leichnam.
Ich muss wissen, was mit mir passiert und warum.
Es gibt nur einen Weg, denke ich und schaue zum Fenster, zur Tür und wieder zum Fenster.
Wie komme ich hier raus?